burger
burger
burger

„Sodom und Gomorra im Heidiland”: Ausstellung zur Geschichte der Clubkultur in der Schweiz

- Advertisement -
- Advertisement -

Partygäste auf einem Baronenball im Mascotte mit DJ Oli (Oliver Stumm) 1985 in Zürich (Foto: Katja Becker)

Die Schweiz ist kein Epizentrum der globalen Clubkultur. Gerade die Lage in der Peripherie hat den Eidgenoss*innen einen unverklärten Blick auf die globalen Entwicklungen der elektronischen Musik gewährt. Wo nicht Standards wie die eines „New Dance Sound of Detroit” bedient werden mussten, konnte sich ein eigener, autarker Geschmack entwickeln, der so originelle Acts wie Grauzone, Yello oder das Minimal-Label Bruchstücke möglich machte. Nun hat sich eine Gruppe von Journalist*innen, Wissenschaftler*innen und Kulturschaffenden zusammengetan, um die Geschichte der Clubkultur in der Schweiz zu archivieren und zu einer Ausstellung zu verarbeiten.

Als Zwischenetappe ist nun eine digitale Ausstellung zu sehen. Wir wollten von den Teammitgliedern Radovan Scasascia vom Studio Scasascia in London (Web/Grafik) und dem Journalisten Bjørn Schaeffner (Text) erfahren, wie es zu dem Projekt kam, worin für sie die besondere Qualität der Clubszene in ihrem Land liegt und was besondere Fundstücke sind, die sie uns zeigen möchten.


Warum, denkt ihr, ist jetzt der Zeitpunkt, sich museal mit der Schweizer Clubkultur zu befassen? 

Die leicht zynische Antwort auf die Frage wäre natürlich: In einer Zeit, in der wegen der Pandemie alle Clubs zu sind, ist der Moment ideal, auf die Geschichte der Schweizer Clubs zurückzublicken. Dieser Aspekt ist aber sekundär, denn wir arbeiten seit bald drei Jahren an dem Projekt, ein virtuelles Archiv zu bauen, das irgendwann auch in eine richtige Ausstellung münden soll. Man kann der wachsenden Musealisierung von Clubkulturen skeptisch gegenüberstehen, denn der Club gehört ja nicht ins Museum, sondern eben dahin: in den Club. Die Clubkultur steht par excellence für etwas, das sich im Jetzt abspielt. Gleichzeitig ist sie ein Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen. Und das wollen wir hier nachzeichnen.

Flyer für eine Reefer Madness-Party in Zürich im Jahr 1995 (Design: Cornel Windlin)

Wie hat es sich ergeben, dass ihr einen Verein gegründet habt? 
Wir sind ein Team aus Journalisten, Wissenschaftlern, Webdesignern, DJs, Grafikern und Clubbetreibern und haben uns zusammengetan, weil wir gemerkt haben, dass sich bisher niemand darum gekümmert hat, die Clubkultur(en) in diesem Land ernsthaft zu dokumentieren, vor allen Dingen, was die Archivalien angeht. Popkultur ist flüchtig, und das trifft speziell auf die Clubkultur zu. In den letzten Jahrzehnten ist da ein großer Schatz zusammengekommen, nur liegen diese Fundstücke eben auf diversen Dachdielen und Kellern, wenn sie nicht schon längst wieder verschwunden sind. Und die ersten Diskotheken-Gründer sind mittlerweile auch schon in betagtem Alter.

Flyer für eine Reefer Madness-Party (Design: Cornel Windlin)

Wie seid ihr bei eurer Recherche vorgegangen? 

Es lief in einer ersten Phase eher chaotisch, ungeordnet, und stark assoziativ. Aus fast jedem Gespräch mit den Zeitzeug*innen ging wieder ein anderer Blick auf die alten Clubgeschichten auf, hat sich ein weiteres Türchen zu einem Archiv geöffnet. Dank dem ständigen Austausch – zum Teil haben wir mit den Protagonist*innen fünf- oder sechsmal geredet – wurden die Konturen der zentralen Geschichten immer deutlicher, die wir erzählen wollen.

Yello spielen 1983 live im Roxy Club in New York (Foto: Bruno Bänziger)

Was macht die Schweizer Clubszene einzigartig?  

Die Schweiz ist natürlich auch ein sehr privilegiertes Land, in dem sich gut aufzeigen lässt, wie die Grooves von Disco, House und Techno adaptiert wurden. Wichtig war uns von Anfang zu zeigen, wie sich die Schweizer Clubszene im Austausch mit dem Ausland entwickelt hat. Da ist zum einen die Lage im Herzen Europas: Die Partykultur ist in der Schweiz im engen Dialog mit den Nachbarländern Deutschland, Italien und Frankreich entstanden. Viele Ur-Raves um das Jahr 1987 waren mindestens so stark von der Szene in Rimini, Ibiza oder Goa beeinflusst wie von Aufenthalten in London oder New York. Und es ging auch umgekehrt: Was zum Beispiel in Montreux und Lausanne an Rave-Kultur um 1990 loskochte, strahlte auch nach Frankreich aus. Zu dieser Zeit gab es zum Beispiel in Paris keine vergleichbare Clubbing-Szene, die dieser Dynamik das Wasser hätte reichen können.

Gastgeber James Wolfensberger 1985 am Baronenball mit DJ Oli (Oliver Stumm) in Zürich (Foto: Katja Becker)

Aber Zürich war und ist die Partyhauptstadt des Landes?

Ja! Die Partykultur führte in Zürich in den Neunzigern dazu, dass die Gastronomie liberalisiert wurde. In der Folge sprossen die Clubs und Bars, was für eine enorme Urbanisierung sorgte. Es kommt hinzu, dass fast in allen Schweizer Städten in den Neunzigern Rot-Grün an die Macht kam: das liberale Klima begünstigte die Entwicklung der Clubkultur. Zugespitzt kann man sagen, dass in den Neunzigern und frühen Nulllern in der Schweiz sehr viel toleriert wurde: Es herrschte „Sodom und Gomorra im Heidiland”. Aber nicht nur das: Ausländische Gäste staunten immer wieder, wie idyllisch und friedlich es hier auf den Partys zuging.

Dancefloor-Syndroma-Rave 1991 im Casino de Montreux (Foto: Unbekannt)



Was machten die Schweizer denn richtig gut in Sachen Clubkultur?
Man kann die Frage auch umgekehrt formulieren: Womit die Schweiz nie auftrumpfen konnte, war eine wirkliche Label- und Plattenindustrie, was über lange Jahre auch den künstlerischen Output gehemmt hat. Letztlich zeichnete sich die Schweizer Clubszene aber auch durch ihre enorme Vielfalt aus, was durch die Mehrsprachigkeit noch verstärkt wurde. Die Diversität, das Unterschiedliche war gerade das Verbindende. Aber zurück zur Frage:Wir Schweizer*innen sind sicher nicht schlecht darin, Clubkultur zu gestalten, wir denken da an Künstlerinnen wie Pipilotti Rist, Sylvie Fleury und Urs Fischer oder Grafiker wie Cornel Windlin und Clarissa Herbst.

Flyer für Planet Love und Flowers Partys in der Innere Enge in Bern im Jahr 1990. Material: Eine Laserdisc, die auch noch einen Clubtrack von Marco Repetto enthält (Design: unbekannt)

Gebt bitte ein Beispiel für ein Fundstück, dass euch besonders fasziniert.

Wir haben in unserer Sammlung eine Laserdisc von 1990. Damit wurden zwei Partys in Bern beworben, für den stolzen Stückpreis von fünf Franken produziert. Auf der Laserdisc ist auch ein Track des Grauzone-Drummers und Berner Techno-Pioniers Marco Repetto drauf.


Zur Ausstellung kommt ihr hier.

In diesem Text

Weiterlesen

Features

Polygonia: Durch die Akustik des Ursprünglichen tanzen

Polygonia verwebt Clubkultur mit der Natur und verleiht Techno eine organische Tiefe. Wie und warum sie das tut, erklärt sie im Porträt.

Achim Szepanski und seine Wegbegleiter:innen: Die Ekstase der Revolution

Nach dem Tod von Achim Szepanski erinnern sich Freunde an viel Chaos, komplette Blauäugigkeit und absoluten DIY-Punk.

Ryan Elliott: Den Regenschirm rausholen und sich durchbeißen

Im ausführlichen Interview erzählt Ryan Elliott über seine Karriere und die zehnte Katalognummer seines Labels Faith Beat.