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Stimming: Emanzipation von der Bassdrum

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Martin Stimming (Sämtliche Fotos: Randy Rocket)

Wenn er gerade mal keinen Synthesizer in die Kamera hält und begeistert über die endlos erscheinenden Funktionen der neuesten Geräte berichtet und ausnahmsweise mal keine Pandemie das gesamte Clubleben lahmlegt, bespielt Martin Stimming mit seinen computerlosen Live-Sets die Bühnen zahlreicher Festivals und Clubs auf der ganzen Welt.

Als großer Knöpfchenliebhaber bevorzugt er die Haptik analoger Geräte so sehr, dass letzten Endes sogar die Computermaus konsequent aus dem Studio verbannt wurde, die einem Stift und Touchscreen weichen musste. In seiner durchaus musikalischen Kindheit, in der er seine Zeit mit Gitarre und Schlagzeug in einigen Bands verbrachte, entdeckte er bereits im Alter von 16 Jahren, dass er auch alleine mit einem Computer Musik erschaffen kann.

Damals wie heute trieb ihn die Frage an, wie er die Dinge gestalten würde, wenn er über alles bestimmen könnte. Drei Jahre später zog er aus Mittelhessen an die Alster, um einen Kurs zum Electronic Music Producer an der SAE zu absolvieren. Sein Talent, treibende Techno-Grooves mit komplexen organischen Sounds und einem Hauch Melancholie zu einer emotionalen Euphorie zu vereinen, brachte mit den ersten Releases als Gebrüder Ton mit Alexander Kübler frischen Wind in die minimalistische Hamburger House-Szene. Durch ihn lernte Stimming schließlich Solomun kennen und gründete mit ihm und Adriano Trolio 2006 das House-Label Diynamic, auf dem er zwischen 2009 und 2016 eine Reihe von Singles und vier Alben veröffentlichte. 

Mit dem neuen Album Ludwig lässt Stimming den Blick über die Clubs streifen, in denen er sich als Teil der Diynamic-Familie eine nachhaltige Karriere aufgebaut hat. Sein vorheriges Album Alpe Lusia war bereits ein Schritt in neue Dimensionen. Aber wo Alpe Lusia, aufgenommen in einer abgelegenen Hütte hoch oben in den Dolomiten, einen Aufstieg erforderte, wagt Ludwig einen Sprung in eine neue Richtung. Fliegen ist sowohl eine berauschende als auch eine beängstigende Erfahrung, und wie Stimming beschreibt, sind dies zwei der Gefühle, die bei der Entwicklung seines neuen Albums eine Rolle spielten. Vielleicht hat das Gefühl auch damit zu tun, dass Ludwig das erste Album ist, das er als ersten Release auf seinem eigenen, neuen Label Stimming Recordings unabhängig von Diynamic veröffentlicht.

Unser Autor Simon Geiger wollte von Stimming wissen, wie er diese gegensätzlichen Gefühle unter einen Hut bekommt, wie sein Familienleben seine Musik beeinflusst – und warum auf dem neuen Album ein Bienenschwarm zu hören ist.


Wie bist du auf den Albumtitel Ludwig gekommen?

Ludwig ist der Name meines zweiten Sohnes und gleichzeitig auch der Name einer bekannten Schlagzeugmarke. Das hat nicht wahnsinnig viel miteinander zu tun, aber es ist ein klassischer deutscher Name, der nach etwas klingt, das etwa 100 Jahre alt ist. Das sind lose Enden, die ich da miteinander verknüpfe, aber für mich ergibt das Sinn, da die Besinnung auf die eigentliche Musik etwas Altes ist.

Auf was besinnst du dich da? 

Ich habe bei diesem Album die Funktionalität bewusst weggelassen und mich vor allem um die eigentlichen Harmonien und die kleinen musikalischen Ideen gekümmert. Ideen, die man auch in einem anderen Kontext spielen könnte. Ich habe mir erst heute Mittag überlegt: Könnte man das Album eigentlich auch akustisch spielen? Und was für eine Besetzung bräuchte man dafür? Das ist jetzt das erste Mal, dass ich ein Album gemacht habe, wo ich sagen würde: Das geht.

Was hat es mit der Taube auf dem Cover auf sich?

Irgendwas hat diese Taube, das mich immer zu ihr zurückkommen lässt. Bei meinem dritten Stimming-Album gibt es das Stück „Die Taube auf dem Dach”, und da sag’ ich ja: Die Taube auf dem Dach, meine Freiheit in der Hand. In Anlehnung an das Sprichwort: Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach. Meine Vermutung ist, dass das Sprichwort daher kommt, dass man den Spatz relativ einfach fangen konnte und die Taube eigentlich die größere Mahlzeit gewesen wäre, diese aber schwer zu fangen war. Andererseits ist so eine Taube etwas Gewöhnliches. Ein gewöhnliches Tier, das sich in der Koexistenz mit uns eingerichtet hat. Diese gemeine Stadttaube habe ich überall gesehen – egal, wo und in welcher Stadt ich war. 

Das Album klingt sehr organisch und detailverliebt. Wie viele der Sounds stammen noch aus Maschinen?

Das ist genauso wie sonst. Alle Musik, die wir hören, ist in der Maschine gemacht. Die Frage ist aber: Wie füttern wir die Maschine, also das Musikprogramm? Auch eine Klassikaufnahme läuft irgendwann durch Pro-Tools. Wichtig ist, wie sehr man sie im Nachhinein bearbeitet und wie man alle Möglichkeiten nutzt. Neu ist, dass ich den Raum an sich mit aufgenommen habe. Wir haben hier im Studio einen ganz hübschen Aufenthaltsraum, der relativ groß ist und einen sehr schönen Hall hat. Dort hab ich Sachen reingestellt und über einen Lautsprecher wieder abgespielt. Zum Beispiel mit dem Micro-Freak von Arturia. Wenn man den mit Lautsprechern in einem echten Raum spielt und das Signal mit guten Mikrofonen wieder aufnimmt, entsteht eine ganz seltsame Mischung. Man hört zwar, das ist ein Synth-Sound, der klingt aber ganz organisch, weil es offensichtlich eine echte Schallquelle, ein echter Raum ist. 

Dasselbe Prinzip wie bei einer Aufnahme eines Klaviers oder einer Gitarre.

Genau. Die spannende Frage war: Welchen Lautsprecher brauche ich, um den Synthesizer so klingen zu lassen wie ein akustisches Instrument im Raum? Für das Stück „Celestophone” hatte ich diese Spacestation von Aspen Pittman gekauft, das ist ein kleiner Keyboard-Amp. Leider habe ich ihn wieder zurückgeschickt, bereue es jetzt jedoch. Der klang so gut, ich glaube, der muss wieder zurückkommen.

Für einige Musiker*innen steht die Musik in Verbindung zur Natur, etwa für Dominik Eulberg. Wie siehst du das?

Ich mache da keine Obsession daraus. Wir sind organische Lebewesen. Ich wohne in Hamburg, einer schönen Stadt, aber ich fahre morgens meine Kinder zur Kita und es stinkt nach Abgasen. Es ist eine hübsch anzusehende Betonwüste und hat nicht viel mit Natur zu tun. Und ja, ich würde mich sehr freuen, mal draußen mit Eulberg Frösche zu beobachten früh morgens um vier, aber das ist nicht meine Lebensrealität. Klanglich interessiert mich, wie ich diese Maschine organisch klingen lassen kann, einfach, weil das interessanter für meine Ohren ist. Ich schalte bei statischer Musik ab, außer ich bin in einem Club und sie ist gut gemacht. So sehr ich diesen harten, 20 Jahre alten Richie-Hawtin-Groove mag, so sehr kann ich mich auch in einer akustischen Gitarre verlieren. Ich platziere mich irgendwo zwischen diesen zwei Polen.


„Mit „9pm” schleicht sich so eine Kälte ein, die sich dann mit „Arc De Triomphe” langsam ausläuft.” 


Woher kam die Idee, ein Fieldrecording mit Bienen einzubauen?

Ich hatte bei früheren Versionen relativ viele von diesen Sounds, hab’ sie aber zum Großteil wieder rausgeschmissen und mich nur auf die zwei bis drei bezogen, die richtig gut gelungen sind. Mein Vater ist Imker, und ich musste das Mikrofon nur in einen Bienenstock reinhängen. Was ich da gehört habe, war der Wahnsinn. Hat mich total umgehauen. Am Anfang hab ich Mikrofone sehr nah an den Eingang des Stocks gelegt, deshalb hört es sich so direkt an. Gegen Ende des Stückes kommt eine komische Textur, die ist direkt aus dem Bienenstock. Das klingt wie Schwerindustrie, wirklich irre. Das sind aber nur die Klänge aus dem Bienenstock. Im Zusammenspiel mit diesem melancholischen Klavier kriegt das Stück eine Metaebene, die man zwar gut an einem Earth Day verkaufen kann, Bienen sind auch eine wichtige Geschichte. Aber letztendlich interessiert mich vorallem der Klang.

Wie war es für dich, sich von der Tanzmusik und einem funktionellen Groove zu trennen? Hat sich die Arbeitsweise dadurch in irgendeiner Weise verändert?

Das war schon von Anfang an der Plan. Ich will nicht sagen, ich will den Club verlassen, aber ich möchte mich gerne etwas unabhängiger machen. Wenn man Kinder hat und ständig verkatert von einem Gig nach Hause kommt, merkt man schnell, dass das nicht lange zu halten ist. Mittelfristig geht es jetzt darum, eine andere Balance zu finden. Und ein Album, das man eher auf Kopfhörern oder im Konzert hören kann, ist ein Baustein für diesen Mittelweg. 

Was hat dich dabei beeinflusst?

Was mich sehr stark beeinflusst hat, war dieses Album von Leif, Loom Dream. Das hab ich auf dem Rückweg von der Nation gehört. Der Fahrer hörte das in seinem hässlichen Fiat-Shuttle auf dem Weg zurück nach Berlin.

Das Groove-Design war für mich ganz frisch und neu. Es ist eigentlich ein Ambient-Album, aber es hört sich für mich an wie ein Techno-Groove, nur ohne Bassdrum, ganz doof gesagt. Das war ein Bauteil, das ich brauchte, um mein Können im Groove-Design umlenken zu können.

Wie hast du den Groove umgelenkt? 

Das Problem bei einem Four-On-The-Floor-Beat ist, dass der von außen total simpel klingt – einfach die Bassdrum auf die Viertel setzen, und das war’s. Wenn man es aber selbst macht, merkt man, wie wahnsinnig schwer das ist, das trotzdem spannend zu gestalten, dass man nicht nach zwei Minuten denkt: Ja, und? Was willst du jetzt von mir? Davon dann aber wieder wegzukommen, das ist auch wahnsinnig schwer. Ich erinnere mich noch, dass ich früher mal zufällig Alexi Delano in New York besucht habe. Adam Beyer war auch da und meinte, er kann das überhaupt nicht, den Four-To-The-Floor-Groove einfach verlassen. Ich hab’ mir damals als junger Punk nur gedacht: Du traust dich bloß nicht. Aber was er meinte, war genau das: Sobald man sich einmal darauf eingeschlossen hat, ist es ganz schwer, das wieder aufzugeben.

Hat sich bei dir auch ganz unbewusst ein Four-To-The-Floor-Groove eingeschlichen?

Tatsächlich gar nicht, weil ich mir schon von vornherein klargemacht habe, dass ich das nicht will. Ich hab’ aber ein Stück als House-Track gebaut: Aus „1000 Miles From Home” habe ich einen Stimming-Dance-Track gemacht. Den bringen wir später im Jahr mit einigen Remixen raus. Ich freu’ mich auch, den im Set zu spielen. Ich hab es tatsächlich noch mit zwei bis drei anderen Tracks aus dem Album probiert, aber das klappt nicht so richtig.

In welcher Umgebung sollte man das Album deiner Meinung nach hören?

Unbedingt In-Ear-Kopfhörer, sowas wie die Ear Pods Pro, und die weiche Droge deiner Wahl dazu. Kleines Tütchen oder ein Glas Rotwein zum Beispiel. Das ist Musik zum Alleinhören, aber auf jeden Fall mit einem guten Kopfhörer. Erwachsenenunterhaltung. (lacht)

Für das Album Alpe Luisa hast du dich in einer einsamen Berghütte freiwillig isoliert. Jetzt musstest du dich mehr oder weniger wieder zuhause einsperren. Wie hat dich das diesmal beeinflusst?

Dadurch, dass ich einem normalen Alltag mit Familie ausgesetzt bin, war das natürlich nicht vergleichbar. Wenn du aber da oben in der absoluten Einsamkeit ganz alleine rumhängst, kann sich eine ganz neue Arbeitsmoral einstellen. Dann dreht sich alles nur um die Sounds und die tolle Umgebung. Die letzten drei bis vier Stücke ab „9pm” sind im Lockdown entstanden, und ich würde auch sagen, dass „9pm” ein Wendepunkt auf dem Album ist. Da schleicht sich das erste Mal so eine Kälte ein, die dann mit „Arc De Triomphe” langsam ausläuft.


„Ganz einfach: Ich find’ das total scheiße. Zu diesem Zeitpunkt in Mexiko oder in Tansania Partys zu veranstalten und der Grund zu sein, dass Menschen zusammenkommen, find’ ich voll daneben.  


Das heißt, die äußeren Umstände fließen auch in gewisser Weise in deine musikalische Arbeit mit ein? 

Ja, eigentlich immer. Alle meine Stücke haben einen Bezug zu meiner Realität. Es geht bei mir immer um tief persönliche Fragen. Aber das ist ja das Tolle an Musik, ich muss da nicht darüber reden. Die Leute, die das hören und offen dafür sind, verstehen das, ohne darüber zu sprechen. Anders ausgedrückt: Die Musik ist alleine dazu imstande, die ganzen Zwischentöne oder Zwischenfarben, die wir mit der Sprache nicht richtig übertragen können, auszudrücken.

Wie hast du es geschafft, Familie, Corona und das Album unter einen Hut zu packen? 

Ich muss ehrlich sagen, dass die Kitas geschlossen wurden, war eine absolut fiese Verkomplizierung in meinem Leben und im Alltag. Ich hatte praktisch Berufsverbot. Das klingt immer so hart, aber eigentlich war es genau das. Und dann kann ich noch nicht mal zuhause weiterarbeiten, weil die Kitas zumachen und meine Frau selbst arbeiten geht. Das war echt fies. Wir haben das Problem dann so gelöst, dass die Schwester meine Frau auf die Kinder aufgepasst hat. Sie hat das Album letztendlich ermöglicht, weil sie vier bis fünf Tage die Woche hier war und die Kinder gehütet hat. Das hat mich viel mehr getroffen, als nicht mehr auftreten und kein Geld verdienen zu können.

Gibt es auch positive Seiten?

Das Herunterfahren von Auftritten wirkt musikalisch wie ein Dünger, der in unsere Musikerköpfe reinfloss, weil wir nicht mehr die ganze Zeit reisen mussten und gleichzeitig mit einschneidenden Umständen konfrontiert werden. Das ist rein musikalisch die spannendste Zeit seit langem. Dieser Dance-Zirkus war musikalisch irgendwann auch langweilig. Was die Superstar-DJs gespielt haben, war immer das Gleiche. Das waren einfach die gleichen Stücke. Es war wie ein Zirkus, in dem immer die gleichen Zirkusnummern gezeigt wurden. Dass das jetzt aufgebrochen ist, hat auf jeden Fall was Gutes. 

Was hältst du von Plague Raves und der gesamten Business-Techno Geschichte?

Ganz einfach: Ich find’ das total scheiße. Zu diesem Zeitpunkt in Mexiko oder in Tansania Partys zu veranstalten und der Grund zu sein, dass Menschen zusammenkommen, find’ ich voll daneben. 

Was wird sich in Zukunft ändern? 

Realistisch betrachtet wird das erstmal ein sehr unsicheres On-Off-Ding sein, bis die gesamte Welt durchgeimpft ist. Vor allem für die Booker*innen wird es sehr nervig und kleinteilig werden, fürchte ich. Auf der anderen Seite haben die ganzen Künstler*innen, die gar nie die Zeit hatten, gute Musik zu machen, da sie ständig unterwegs waren und immer bis Mittwoch brauchten, um die Berliner Nacht auszukurieren, jetzt die Zeit, wieder spannende Sachen zu machen. Ich glaube, das wird auffallen: Dass die Musik viel besser sein wird. Wohin sich das entwickelt und wie klingen wird, das würde ich auch gerne wissen, aber ich glaube, es wird anders sein. Ich habe ja jetzt mit dem Album einen Vorschlag gemacht. 

Gibt es etwas, wovor du Angst bei dieser Entwicklung hast?

Es gibt natürlich viele Gründe Angst und Sorge zu haben. Ein sehr valides Argument, und das fand ich immer schon, ist, wenn Clubs im Innenstadtbereich schließen müssen. Dann gehen nämlich die Flächen verloren. Gleichzeitig wird die gesamte Szene vielleicht wieder etwas lokaler, das ist auch etwas, was ich mir wünsche. Diese durchgedrehten Superstars mit den Superstar-Gagen, wo von vornherein klar ist, das wird ne Minus-Nummer für die Veranstalter*innen – dass das weniger wird, das wäre nicht schlecht. Eine Gesundschrumpfung für alle Beteiligten. 

Wie sieht es finanziell aus?

Es ist halt einfach scheiße, dass die Maschinerie, die uns Einkünfte beschafft hat, vom reinen Musikhören abgekoppelt ist. Das Problem, dass die Streaming-Dienste brutal schlecht bezahlen, ist jetzt auch in der Gesellschaft angekommen. Vielleicht ist das ja was Gutes. Wir haben einfach keine Chance, wenn wir nur von Musik-Einkünften leben müssten, wenn die dieses Geschäftsmodell genauso weiterführt. 

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