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Leon Vynehall: „Es ist okay, verwundbar zu sein”

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Leon Vynehall (Foto: Phil Sharp)

Als Leon Vynehall Anfang der Zehnerjahre seine ersten Releases auf Labels im UK-Underground hatte, registrierte man ihn bald als einen der neuen House-Hoffnungsträger. Sein Sound hatte mit Samples von J Dilla und Co. ein organisches Flair, eine gewisse Ernsthaftigkeit dank orchestraler Untermalung. Vynehall bediente sich rhythmisch auch gern mal bei UK Garage und dem damals aktuellen Post-Dubstep.

Jetzt hat der Künstler aus Brighton seine zweite LP Rare, Forever auf Ninja Tune veröffentlicht. Diese ist meilenweit entfernt von den Housetracks, die wir einst für seine Handschrift hielten. Dennoch klingt Vynehall mehr nach Vynehall als je zuvor. Zeit für unseren Autor Leopold Hutter zu fragen: Was steckt wirklich drin in dem Musiker?


Als sich Leon Vynehall in den Zoom-Call schaltet, ist es in seiner Wahlheimat Los Angeles noch früh am Morgen. Von Müdigkeit ist in seiner Stimme aber keine Spur. Spätestens als ich ihm beichte, dass seine Mini-LP Music For the Uninvited eine meiner ersten selbstgekauften Platten war und ich mir damit das Beatmatchen beigebracht habe, ist das Eis gebrochen.

Spätestens seit dieser Platte hatte man Vynehall als vielversprechenden House-Produzenten auf dem Radar. „Das ist jetzt ziemlich genau sieben Jahre her”, erinnert er sich. „Es fühlt sich an wie ein einziger Augenblick. Komisch, wie viel Zeit vergangen ist! Mit dieser Platte hat sich alles geändert, in meiner Karriere begann ein neues Kapitel, und ich fing an, die Welt kennenzulernen. Es ist ein tolles Gefühl, jetzt zurückzuschauen und zu begreifen, was für einen Weg ich zurückgelegt habe.”

Leon Vynehall (Foto: Frank Lebon)

Dieser „kleine Durchbruch” setzte sich mit Club-Hits wie dem Piano-Stomper „Brother” auf Aus Music oder dem poppigen „Butterflies” für Clone fort, und schließlich überraschte er mit einem schwergewichtigen Ambient-Track für Rush Hours Compilation Musik For Autobahns 2, der anschließend sogar eine eigene 12”-Auskopplung bekam. Vynehall schien weiterhin vom Dancefloor (und dem dort stattfindenden Gebalze) inspiriert, das Ergebnis war eine durch und durch clubbige Acht-Track-EP für Gerd Jansons Running Back. Einmal mehr verfestigte sich der Eindruck vom Meister eines organischen Sample-House-Sounds.

Am Ende kommt nur Lärm raus

Gleichzeitig arbeitete der Brite jedoch im stillen Kämmerchen fleißig an seiner ersten echten LP, seinem bisherigen Opus Magnum Nothing Is Still, das sich mit der Migration seiner Großeltern in die USA beschäftigte. Dafür recherchierte er aufwendig deren Geschichte anhand von Interviews und Polaroids, schrieb ein Buch und ließ mehrere Kurzfilme drehen. „Es war eine Menge Arbeit, die ganzen Infos zusammenzutragen. Und auf deren Grundlage erarbeitete ich dann die Musik, die wir dann wiederum auf einer Tour mit einer neunköpfigen Band vortrugen. Es entstand also dieses riesige Ding, das am Ende sechs Jahre meines Lebens eingenommen hat!”

Das Geschichtenerzählen von Nothing Is Still hatte sich auch musikalisch weit vom Club entfernt. Es lag näher bei Trip-Hop, Jazz und Orchestermusik als bei seinen Wurzeln in House, Techno und Co.


„Ich will die Welt nicht einfach mit noch mehr Lärm vollmüllen. Davon gibt es schon genug!”


Das neue Album Rare, Forever klingt im Vergleich wieder deutlich elektronischer. Dabei ist es eine weitere ernste Konzeptplatte geworden. Auf den zehn Stücken ist erneut kein einziges Mal der freundliche Rumpel-House aus Vynehalls Anfangstagen zu hören. Geblieben aber ist sein Hang zu schönen Samples und deren Einbettung in einen dichten, von Details gespickten Sound. Einfach war der kreative Prozess diesmal jedoch nicht, denn Vynehall setzte sich mit den ganz großen Fragen des Seins auseinander. Dementsprechend getragen und schwer fühlt es sich manchmal an.

„Ich erinnere mich an die allerletzte Show der Tour mit Nothing Is Still beim Field Day in London. Da dachte ich plötzlich — wow, und was mache ich eigentlich jetzt? Es war ein so großes Stück meines Lebens, dass ich erstmal ganz schön irritiert war und nicht wusste, was ich jetzt tun sollte. Es gab so viele Gedanken in meinem Kopf! Was die Leute wohl erwarten? Und was will ich eigentlich mit meiner Musik aussagen?”

Leon Vynehall (Foto: Frank Lebon)

Diese Fragen führten zu einer Reihe verschiedener Versionen von Rare, Forever. Zunächst sollte es ein Album einzig und allein über die völlige künstlerische Freiheit sein. Es würde ausnahmsweise mal gar kein Narrativ geben, so der Gedanke. Vynehall beschreibt den Prozess „wie abstrakte Malerei. Man macht also den ersten Pinselstrich, und dann wird dem gefolgt, egal wo es auch hingeht.”

Mit dem so entstandenen ersten Entwurf von Rare, Forever schien jedoch etwas nicht zu stimmen. „Ich klang einfach so verwirrt. Als ob ich mir oder den Zuhörer*innen irgendetwas beweisen wollte. Da war so viel in mir, und ich wollte eben alles zeigen! Aber es klang wie ein heilloses Durcheinander. Wie bei einem Radio, das gleichzeitig drei verschiedene Sender reinkriegt, und am Ende kommt nur Lärm raus.”

Schmerzlich musste er feststellen, dass es für ihn doch so etwas wie eine Leitidee braucht, um ein Album zu komponieren. Er nahm also Abstand vom Projekt und beschäftigte sich mit den alten Philosophen: den Stoikern, den Nihilisten, mit der Idee der Selbstverwirklichung — und entschied sich schließlich, zu diesen Gedanken seine Musik zu komponieren. „Ich wollte diese Fragen beantworten. Nach dem Sinn in meinem Leben, nach der Motivation für mein Handeln und warum ich diese Musik eigentlich mache. Eins meiner Mantras ist, dass all mein Tun einen Grund braucht. Ich will die Welt nicht einfach mit noch mehr Lärm vollmüllen. Davon gibt es schon genug!”


„Als ich die ersten Songs schrieb, hatte ich ja schon dieselben Gedanken und Gefühle in mir, die das Album eigentlich ausmachen. Ich wusste es nur noch nicht.“


Die Reflexion des eigenen Selbst wurde zur leitenden Meta-Idee des Albums. Dieses Thema in den Mittelpunkt zu stellen, war für den bislang relativ Medien-scheuen Vynehall allerdings nicht einfach. „Ich habe diesen Konflikt im Kopf: Ich will etwas sagen, bin dann aber doch zu schüchtern dafür. Deshalb bin ich, glaube ich, hier gelandet. Ich kann mit Musik als Medium besser meine Ideen, Gedanken oder Emotionen ausdrücken. Mein ganzes Leben ist mein Job, und mein Job ist es eben, Musik und Kunst zu machen. Es war also unvermeidbar, irgendwann etwas über mich selbst zu machen.”

Leon Vynehall beim Radiosender NTS (Foto: NTS)

Trotzdem hofft er, mit der musikalischen Abbildung seines eigenen inneren Prozesses wiederum andere Menschen berühren und ihnen helfen zu können: „Du realisierst irgendwann, dass es ist deine Pflicht als Künstler ist, sich der Interpretation der Leute zu stellen und zu hoffen, dass es ihnen irgendwie weiterhilft, egal wie viel oder wie wenig. Musik und Kunst haben diese irre Fähigkeit, Menschen zusammenzubringen und ihnen beim Heilen ihrer Wunden zu helfen. Zumindest war das für mich so.”

Leicht sei es für ihn aber nicht gewesen. Er habe sich mit vielen unangenehmen Gedanken über sich selbst beschäftigen müssen. Letztlich haben die ihn aber zu einem besseren Menschen gemacht: „Ich musste mich ganz schön verwundbar machen. Mich mit meinen Problemen mit mir selbst konfrontieren und meine Ängste und Sorgen anerkennen, in der Hoffnung, dass jemand die Platte hört und vielleicht Ähnliches durchlebt und feststellt, dass auch andere Leute so fühlen. Dass es normal ist und auch Wege gibt, sich mit diesen Gedanken und Fragen auseinanderzusetzen. Es gibt immer noch zu viel Stigma rund um das Thema psychische Gesundheit. Ich will mit meinem Tun zeigen, dass es ok ist, verwundbar zu sein. Das sollte kein Tabu sein.”

Die ewige Entfaltung im Inneren

Schließlich sind doch noch einige der früheren Tracks auf der finalen Version des Albums gelandet. Im Kontext mit den anderen Tracks hätten sie plötzlich eine andere Wirkung entfaltet und endlich Sinn gemacht. „Als ich die ersten Songs schrieb, hatte ich ja schon dieselben Gedanken und Gefühle in mir, die das Album eigentlich ausmachen. Ich wusste es nur noch nicht.”

So fragt eine Sample-Collage auf dem frühen Track „In>Pin” „Is it strange to feel this?” An anderer Stelle wiederholt sich zwischen verstimmten Synth-Akkorden der Loop „That’s me, I’m energy”, und das Album endet schließlich mit einem poetischen Vers, in dem es heißt „I would do nothing differently, in how I bring my errors”. „All diese kleinen Spoken-Word-Schnipsel und die Vocal-Samples, die sprechen über die Dinge, die in mir vorgingen. Ich wusste nur noch nicht, was sie ausdrücken”, meint Vynehall dazu.

Dementsprechendpersönlich wirkt Rare, Forever und erinnert in seiner Idiosynkrasie an Vynehalls Beitrag zur DJ-Kicks-Serie von 2019. Was beim ersten Hören vielleicht unerwartet klingt, macht auf guten Lautsprechern durchaus Sinn und begeistert mit vielen Details. Auch wenn der Club hier im Gegensatz zum Debüt spürbar ist, gibt es dennoch keine Tracks zum Auflegen. Wohl aber viele aufregende Rhythmen, Synth-Arpeggios, Echo-Schleifen und Vocals. Der Fluss des Albums bleibt stets dynamisch und bietet Raum sowohl für Snippet-artige Kurztracks wie auch mehrminütige, loopige Perkussiv-Grooves. Bei so vielen Ideen braucht es schon ein paar Durchgänge, um alles wirklich in seiner Gänze zu erfassen.


Auf dem Cover von Rare, Forever sieht man den Ouroboros, ein antikes Symbol der Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt.


Die Live-Show zu Rare, Forever ist übrigens schon in Planung. Allerdings will Vynehall diese passend zum Charakter der Musik sehr viel bescheidener halten als beim Vorgänger: „Bei Nothing Is Still hat es wirklich gepasst, weil es nach Live-Musik klang. Also hatte ich ein Ensemble von Instrumentalisten für Saxophon, Piano und so weiter. Diesmal ist es aber viel introspektiver, und deshalb will ich es ganz alleine aufführen. Trotzdem sind Artwork und die Visuals so eng mit der Musik verflochten, dass die auch in der Live-Show auftauchen sollen. All diese abstrakten Naturbilder möchte ich mit auf die Bühne bringen.”

Ob er denn auch zwischendurch, wie mit der UK-Garage-Single I, Cavallo 2019 geschehen, mal wieder einen reinrassigen Club-Track veröffentlichen würde? Das schließt er nicht aus: „Für die Langspieler braucht es immer irgendeine Erfahrung. Da muss erst etwas passieren, um darüber schreiben zu können. Das kann und will ich nicht forcieren, um ehrlich zu sein. Aber natürlich mache ich weiterhin Musik um ihrer selbst willen — und I, Cavallo ist so ein Beispiel.”

Leon Vynehall (Foto: Frank Lebon)

Am liebsten würde Vynehall aber sein Feld ausweiten und auch mal einen Soundtrack oder dergleichen komponieren. Ohne ins Detail zu gehen bemerkt er: „man hat mich für so eine Art audiovisuelle Show angefragt, eher ein Ausstellungsformat, sowas würde ich gerne öfter machen. Wenn ich ehrlich bin, will ich einfach mal unterschiedliche kreative Muskeln spielen lassen. Das interessiert mich gerade, da bin ich immer offen für neue Ideen.”

Diese ständige Weiterentwicklung war für ihn eine der Einsichten in den persönlichen Selbstfindungsprozess, für den die neue Platte steht. Auf dem Cover von Rare, Forever sieht man den Ouroboros, ein antikes Symbol der Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt. Für ihn das perfekte Zeichen dafür, dass der Prozess der Selbstfindung niemals wirklich enden kann: „Man kommt irgendwann zur Erkenntnis, dass du niemals abschließend wissen kannst, wer du eigentlich bist. Als Menschen entwickeln wir uns jeden Tag weiter, und so geht der Prozess der Selbstverwirklichung und das Beantworten dieser Fragen immer weiter. Es ist ein ewiges Entfalten in unserem Inneren.”

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