Shifted – Constant Blue Light (Avian)
Als Mitgründer von Avian war Guy Brewer während der 2010er zweifellos einer der wichtigsten Akteure im europäischen Techno-Sektor. Nicht nur hat er das SHXCXCHCXSH-Debüt und den alles verschlingenden Nachfolger Linear S Decoded über sein Label an die Kopfhörer-Crowd vermittelt, sondern als Shifted selbst mit einer Reihe brillanter EPs wie auch Alben im Minimal und Industrial Techno Großes geleistet. Vom unbarmherzig bösen Debüt Crossed Paths bis zum letztjährigen The Dirt On Our Hands war dabei eine konsistente Produktionsqualität hörbar, die Härte und Hypnose zur Symbiose verband. Mit Constant Blue Light weicht die Härte fast gänzlich aus dem Sound des umtriebigen Briten. Andeutungen und Brüche, Vages und Gewagtes sind hier bestimmende Marker in allen Tracks. Glitch-Techno könnte man das nennen – oder es lassen. Drone und Ambient werden nämlich unterm Strich deutlich öfter funktionalisiert, um diesen neuen shift in sound so atmosphärisch, so kobaltblau und surreal wie möglich zu gestalten. Leider gelingt das nicht auf ganzer Länge, auch wenn Tracks von der Unwirtlichkeit eines „Soft Palate” oder „Tradecraft” gerade mit Ruhe und Konzentration ziemliche Sogwirkung entfalten können. Die Sterilität von Constant Blue Light ist daher ganz klar gewollt und in sich schlüssig, doch die Frage bleibt: Hätten diese knapp 50 Minuten angesichts eines Skillsets wie dem von Brewer nicht noch viel besser ausfallen können? Nils Schlechtriemen
Thomas Fehlmann – Böser Herbst (Kompakt)
Thomas Fehlmann ist ein Archäologe, er bricht die Vergangenheit aus ihren Zusammenhängen, lässt sie sprechen, gibt ihr Macht. Fehlmann, der Palais-Schaumburg-Gründer, das The-Orb-Mitglied, der Fantast des Subbasses, schneidet sich weniger durch die Vergangenheit, als dass er sie auftürmt – sie durchbohrt das Jetzt, die Gegenwart. Darin zeigt sich keine Sehnsucht nach dem Gewesenen, es ist keine Nostalgie, sondern eine Faszination am Nostalgischen, das zurückführt und doch im Jetzt verankert ist. Auf Böser Herbst stellt man sich vor, wie Mackie Messer durch die Straßen der Moderne schlurft, in die Ferne blickt und hört, wie die Sirenen der Zukunft heulen. Patina bröckelt bei jedem Stampfen von der Decke der Zeit. Der Raum dehnt sich aus. Jeder Layer, jedes Rauschen, das Klicken und Klacken, die Gefahr aus dem Hintergrund drängt sich auf und nach vorne. Sie sprengt den Rahmen, legt eine Spur. Eine Spur, der man folgen muss. Die etwas hervorbringt, Abdruck ist. Und die Kreuzung mit dem Weg verbindet, indem sie einen Kurzschluss provoziert – den Funken der Erkenntnis. Die Musik scheint in die Tiefe zu ragen, dabei findet man ihre wahre deepness an der Oberfläche. Dort steht sie unter Spannung, spannt sich über imaginäre Dächer und reicht hinein in einen Raum, der sich zusammenzieht und öffnet. Das ist die Fehlmann’sche Magie, das ist ihre Erkenntnis, die sich nur im Hören greifen lässt; die sich nicht darstellen lässt; sich jeder Beschreibung entzieht; nicht festgehalten werden kann. Man muss sie spüren, an sich heran und von ihr durchbohren lassen, um zu begreifen, was ist. Thomas Fehlmann legt mit Böser Herbst etwas frei, ohne abzutragen. Dieses Etwas ist die Vergangenheit in der Gegenwart. Christoph Benkeser
Vladislav Delay – Rakka II (Cosmo Rhythmatic)
Entropie umgibt uns. Alles zerfließt. Erosionszyklen in Materie und Natur, in Werten und Visionen, Träumen und Idealen sind auf der Großwetterlage weit vorangeschritten – jedenfalls wenn es um menschliche Maßstäbe geht. Denkbar bleibt immer noch vieles. Dass Vladislav Delay im vergangenen Jahr nach rund einem halben Jahrzehnt Pause wieder auf der Bildfläche europäischer elektronischer Musik auftauchen würde, gehörte aber beileibe nicht dazu. Vor allem nicht in dieser Manier. War Rakka schon ein siedendes Ungetüm zischender, kreischender Sound-Harakiris, so ist Teil zwei die konsequente Weiterentwicklung eines Noise-Stils, den Sasu Ripatti seit seinen frühen Techno-Blaupausen auf Chain Reaction und den im Anschluss gefolgten Glitch-Skulpturen bei Mille Plateaux zielsicher im Alleingang zu entwickeln verstand.Kein Schwein klang damals wie dieser Typ – und schon mal gar nicht heute. Rakka II ist dementsprechend auch mehr als brillant sequenzierter Krach, mehr als Sex für Amboss und Steigbügel, für Trommel und Fell. Inspiriert von den schroffen Gesteinsformationen der nordfinnischen Tundra, von schmelzendem Eis, das mitleidlos Elchföten preisgibt, hat Ripatti eine Klangsprache entwickelt, die rasende Drones als Fundament, maschinelle Techno-Beats als Akzente und hirnzersägende Shots und Effekte als Melodie-Ersatz heranzieht. Resultierend in acht Tracks von außerordentlicher Energie, zeigt Rakka II damit, warum Delay in so ziemlich jeder Hinsicht, die sich ein Produzent wünschen kann, selbst 2021 origineller und mutiger klingt als die meisten seiner Zeitgenoss*innen. Dass Cosmo Rhythmatic zu einem der spannendsten Labels unserer Tage gehört, war zwar vorher schon klar, wird hier aber noch einmal meterdick untermauert. Tracks hervorzuheben bleibt müßig – dieses Trumm von Album will genau wie sein Bruder in Gänze reingezogen werden. Die Katharsis hinterher ist immer noch real. Nils Schlechtriemen
Clan of Xymox – Peel Sessions (Dark Entries)
Mit den Peel Sessions des Clan of Xymox werden bei Dark Entries sechs Nummern der niederländischen Dark-Wave-Wegbereiter Xymox, später dann Clan of Xymox, neu aufgelegt. Die Zusammenstellung und Aufnahmen kamen 1985 im Rahmen einer Einladung des britischen Radiomoderators John Peel, der in den 80er Jahren durch seine legendäre Radioshow bei der BBC zur absoluten Kultfigur der Popmusik-Szene avancierte, zustande und sind nun erstmals auf Vinyl erhältlich.
Auf der A-Seite finden sich mit „Stranger”, „Muscoviet Mosquito” und „Seventh Time”, erstmals Mitte der 80er auf Clan of Xymox und Subsequent Pleasures erschienen, drei Songs aus der frühen Schaffensphase der Band. Distanzierte und kalte Synthesizer untermauern die düsteren, hallenden Choralgesänge und schneidenden Industrial-Sounds in der – leider doch sehr stark gekürzten – Version von „Stranger”. In „Muscoviet Mosquito” sind die Einflüsse des Post-Punk und Goth-Rock der späten 70er und frühen 80er Jahre und Bands wie Joy Division, Bauhaus oder Siouxsie and the Banshees deutlich hörbar. „Seventh Time” beschließt die A-Seite der Platte mit dem schwermütigen Gesang der Band-Mitbegründerin Anka Wolbert und leitet den zweiten Teil der LP ein.Angeblich war es dieser Song, der Peels Interesse an Xymox weckte. Die fast ein halbes Jahr später aufgenommene zweite Seite ist mit drei später auf dem Album Medusa erschienenen Songs deutlich sanftmütiger, jedoch nicht weniger düster. „After the Call” wirkt durch Pieter Nootens Gesang fast ein wenig versöhnlich, wobei „Mesmerised” die verzweifelte, ängstliche und dumpfe Grundstimmung nochmal ordentlich hochkochen lässt. Aufgrund der damals sehr knapp bemessenen Studiozeit hat das Album nur eine gute halbe Stunde Spielzeit, die wie im Flug vergeht und gerne noch länger dauern dürfte. Pia Wamsler
Yoshinori Hayashi – Pulse of Defiance (Smalltown Supersound)
Der Tokioter Produzent Yoshinori Hayashi mag seine Clubmusik gern etwas kräftiger gewürzt. Es geht quer durch die Genres, bevorzugt in ein und demselben Track. Auf seinem zweiten Album reimen sich bei ihm Breakbeats auf Jazz, allerdings den der sperrigen Art. Oder er kombiniert in einer Techno-Nummer trockenen Beat mit Dreampop-Harmonien. Klappt in der Regel ziemlich gut, vor allem, weil Hayashi seine Musik auf keinen Fall als Wohlfühl-Routine verstanden wissen will. Er macht seine Platte lieber zum Versuchslabor, nimmt Kreuzungen der absurderen Art vor, die durchaus verstörend wirken können. Selbst die quatschigen Momente sind dabei mit Ernst in der Sache dargeboten: In „Twilight” sind das ein gesprochenes „Bla”-Sample, Orgeltöne, Chor aus der Retorte, ein energisch drauflos improvisierendes Klavier und freidrehender Beat neben rätselhaften Synthesizer-Signalen. Oder er nimmt sich eine Drum’n’Bass-Etüde vor, die versonnen darüber schwebende Melodien erden. Sein konsequenter Sinn für Seltsamkeit hält die Angelegenheit zusammen, auch ein Gespür für stilvoll kaputte Kombinationen von Verweis-artigen Elementen („Aciiid!”), die in ihrem Zusammenspiel nie den Eindruck des beliebig Zusammengewürfelten machen. In der Summe ergibt das etwas sehr eigenwillig Eigenes. Tim Caspar Boehme