LUZ1E (Foto: Anton Rose)
Es geht weiter, immer weiter. Alle paar Jahre lässt eine neue Generation Electro neu aufblühen, ganze vier Dekaden hat das Genre bereits auf dem Buckel. Die Nische bleibt ein fruchtbares Habitat. Dass Electro auch in seinem fünften Jahrzehnt so gut gedeiht, dafür sorgt derzeit nicht zuletzt Luzie Seidel, die sich als DJ und Produzentin ganz knapp und doch suchmaskentauglich LUZ1E nennt. Im Corona-Herbst ist sie von Frankfurt am Main nach Berlin gezogen. Ihr aktuelles Release erschien auf dem Berliner Label Voitax. Eine EP, sie trägt den wunderbaren Titel Radical Optimism.
Bereits 2019 zog es Luzie Seidel für ein paar Monate nach Berlin, doch im letzten Jahr ging es erst einmal wieder zurück nach Frankfurt – ihr Studium der Anglistik und Germanistik wartete darauf, abgeschlossen zu werden. Nun sucht die 24-Jährige irgendwo zwischen Öffentlichkeitsarbeit und Journalistik zumindest eine halbe Stelle. Der Jobmarkt mag angespannt sein, aber wer will eine Frau stoppen, die einer ihrer Platten den Titel Radical Optimism gegeben hat? Radikaler Optimismus ist in Zeiten wie diesen sicher nicht das schlechteste Rüstzeug, um ganz gut durchs Leben zu kommen. Dass die Veröffentlichung nun ans Ende des harten Pandemie-Winters gefallen ist, war allerdings eher Zufall und der langen Zeit bis zur Fertigstellung geschuldet.
Wie radikal ist nun der Optimismus von LUZ1E? „Mittlerweile ziemlich radikal, was ich gut finde”, sagt sie. „Diese Platte ist die wohl Intimste, die ich bisher gemacht habe, eben weil sie von den Themen her sehr persönlich ist. Oftmals existiert ja ein ziemlich falsches Bild von Optimismus. Man sagt, Optimisten seien naiv oder sie sähen die Welt nicht so, wie sie eigentlich ist. Deshalb nannte ich die Platte Radical Optimism. Man entscheidet sich dafür, die Dinge Tag für Tag positiv zu sehen, obwohl man durchaus ein realistisches Weltbild hat. Es geht darum, das Beste aus sich und seinem Leben zu machen und die Leute um sich herum positiv zu beeinflussen.”
Es gibt da draußen sicherlich ganz unterschiedliche Vorstellungen davon, wie man sich den Sound einer radikalen Optimistin vorstellt. Doch aufgepasst, hier lauern Vorurteile. Die Musik von LUZ1E ist nämlich ganz sicher kein Happy Hardcore, gespickt mit Badezimmerspiegel-Durchhalteparolen ist sie auch nicht. Luzie Seidel streunt musikalisch stattdessen durch dunkle Ecken, hier und da hangelt sie sich wagemutig an Abgründen entlang. So klingen die vier Stücke der Radical Optimism-EP denn auch wirklich nicht vordergründig optimistisch. Sie lacht: „Das ist ein interessanter Kontrast, oder? So wie ich Musik höre, produziere ich meine Tracks. Ich höre halt viel darken Electro und liebe diesen etwas brachialeren Sound, was auf meine eigene Musik abfärbt. Gleichzeitig bin ich aber auch ein Fan von eher gefühlsgeladenem Electro. Der Track ‚Radical Optimism’ selbst klingt ja eher positiv und leicht, während die A-Seite natürlich darker ist und damit eine ganz andere Wirkungskraft hat. Mir ist beides wichtig.”
So sehr Electro nun Luzie Seidels Thema ist, am Anfang ihres Lebens mit elektronischer Musik stand House. New York House, Chicago-Sound oder Musik aus Detroit, das war ihr Einstieg vor etwa acht Jahren. Eine wichtige Rolle spielte dabei ihr älterer Bruder, der beispielsweise bereits unter dem Alias Toni Moralez Musik produzierte, und die 2012er-Wiederveröffentlichung der ursprünglich 1990 erschienenen LP von Dream 2 Science, wohinter Ben Cemac, in den 1980er-Jahren Mitglied der Electro-Hip-Hop-Formation Newcleus, steckt. „‚Mystery of Love’, einer der Tracks auf der Platte, hat mich so krass berührt. Davor, also mit 16, hatte ich mit elektronischer Musik kaum etwas am Hut. Durch Dream 2 Science kam ich zunächst zu House, irgendwann landete ich bei Omar-S und so weiter. Auf diesem Weg fand ich Gefallen an diesem eher rougheren Sound, obwohl in Omar-S-Tracks ja auch viele Soul-Einflüsse drin sind. Drexciya und Underground Resistance waren mein Techno- und Electro-Einstieg. Mich hat nicht allein die Sound-Ebene interessiert, sondern auch die inhaltlichen und politischen Bezugspunkte.”
Wohnort:
Berlin
Seit wann am Auflegen/Produzieren:
2012
Dein erster richtiger Gig:
2012 in einem Club in Offenbach (Hafen 2)
Was auf deinem Hospitality Rider nicht fehlen darf:
Billiger Sekt
Diesen Track höre ich in letzter Zeit gerne:
Den Soundtrack der Anime-Serie Cowboy Bebop
Das würde ich machen, wenn ich keine Musikerin wäre:
Biologin, Psychologin
Vor vier Jahren kam sie über ihren Bruder an Ableton Live, schon bald machte sie erste Tracks in ihrem Soundcloud-Profil verfügbar. Der Rest ging frappierend schnell. Bereits 2017 kam ihre erste Platte beim Lobster-Theremin-Offshoot UGONGETIT heraus. Schon auf ihrer nächsten EP, ebenfalls beim Londoner Label Lobster Theremin veröffentlicht, traten die House-Einflüsse jedoch in den Hintergrund. „Ich höre House immer noch gerne”, stellt sie klar. „Doch die Vielfältigkeit von Electro hat mich so geflasht, darin fand ich mich viel krasser wieder. Deswegen fahre ich seitdem eher diese Schiene.”
So sehr sie gerade auch beim Auflegen die toughere oder gar brachialere Facette von Electro schätzt, so wenig möchte sie die anderen Spielarten des Genres missen, von Techno Bass à la Aux 88 über gefühlvoll-deepere Ausprägungen bis hin zum Sci-Fi-haften Dopplereffekt-Sound. Doch so sehr sie sich für Electro begeistern kann – Purismus ist ihre Sache nicht: „Mich reizt ein eher hybrider Sound, der verschiedenste Einflüsse aufnimmt. Man will ja nicht stehenbleiben.”
Electro erlebt, wie eingangs erwähnt, gerade seine x-te Renaissance, wirklich interessante neue Tracks kommen aus den unterschiedlichsten Winkeln der Welt, nicht zuletzt aber auch aus Deutschland. „Ich finde es interessant, welche Sparten von Electro sich gerade wieder etablieren und einen kleinen Hype erfahren”, erzählt eine begeisterte Luzie Seidel. „Es gibt diese Ghettotech-lastige Schiene oder diesen hochpolierten IDM-artigen Sound. Da gibt’s zum Beispiel das Duo Animistic Beliefs aus den Niederlanden, die finde ich mit ihrem Ansatz sehr inspirierend. Das ist nicht mal reiner Electro, das ist so eine Mischung aus Techno, Electro, IDM und ein bisschen Drum’n’Bass oder Jungle. Die sind ein gutes Beispiel dafür, wie sich Electro weiterentwickelt, aber trotzdem die Roots in sich trägt. Ich finde es persönlich sehr wichtig, dass man immer guckt, woher etwas kommt, und nicht vergisst, welche Menschen daran mitgewirkt haben. Gerade auf der politischen Ebene sollte man das immer im Auge behalten und dem Respekt zollen.”
Die aktuelle Szene vernetzt sich via Instagram oder Soundcloud, Kollabos entstehen. Im letzten Jahr hat LUZ1E mit DJ Swagger eine gemeinsame EP herausgebracht, ein zweiter Teil dieser musikalisch kraftstrotzenden Zusammenarbeit ist bereits in der Mache. Instagram ist inzwischen Luzie Seidels Networking-Tool Nummer eins, persönliche Begegnungen finden kaum noch statt. Und so müssen Insta-Storys aus dem Studio an die Stelle des gemeinsamen Musikhörens und Chillens mit anderen Leuten treten. Clubs als Begegnungsräume fallen derzeit weg, und damit natürlich auch Gigs. Doch als DJ bleibt sie dennoch dran, die Neu-Berlinerin wendet weiter viel Zeit auf fürs Diggen und Musikhören und schaut, welche Anfragen für Mixes oder Live-Streams sie annimmt. Zuletzt war sie öfter mal im Berliner HÖR per Live-Stream zu hören. „In der Zeit, bis es wieder Partys gibt, möchte ich einfach am Start bleiben”, sagt sie.
Verglichen mit Techno-DJs hat es LUZ1E, die in erster Linie auf Electro und Breakbeats setzt, natürlich schwer. Das war schon immer so, gerade hierzulande, und das wird vermutlich auch so bleiben. Für die meisten Leute sei Techno einfach zugänglicher. „Zum Glück gibt es aber genug Communitys, die diesen Sound richtig abfeiern”, erzählt sie. In Belgrad hätten die Leute ihren Sound gemocht, in der Ukraine oder in Russland sei Electro ebenfalls richtig am Start. Und wenn es nicht so läuft? „Dann versuche ich einfach, mich auf die Leute zu konzentrieren, die darauf stehen. Ich sag’ mir dann: Ist doch schön, wenn ich hier wenigstens ein paar Leute mitgenommen habe.”
Electro mag das Bindeglied der energiegeladenen DJ-Sets von LUZ1E sein, mit stilistischem Tunnelblick legt sie aber auf gar keinen Fall auf. Breakbeat, Drum’n’Bass oder Techno sind, wie weiter oben bereits betont, ebenfalls im Gepäck: „Die Auswahl der Musik, die ich mitnehme, sollte sinnhaft sein, so dass sich die Tracks schön ergänzen können. Früher verfolgte ich das eher puristischer, mittlerweile gehe ich das aber ganz anders an. Ich achte nicht mehr so auf Genre-Grenzen, ich möchte stattdessen unterschiedliche Enden miteinander verbinden. Auf einen nicen Jungle-Track folgt eine Electro-Platte, wodurch dann ein neuer oder anderer Sound entsteht.” Ihre Inspiration zieht sie in ganz unterschiedliche Genres, so hört sie derzeit auch viel deutschsprachigen Hip Hop, aber auch Trap, Grime, Drill oder US-Rap.
Clubs stellen für Luzie Seidel mehr dar als nur Orte der Vergnügung. Sie betrachtet sie als Zufluchtsorte, in denen sich Menschen ausleben und ausdrücken können, nicht zuletzt für die queer community sei dieser Aspekt sehr wichtig. Und so wünscht sie sich für die Zukunft mehr Inklusivität, Diversität und Solidarität in der Branche: „Man muss gar nicht weit schauen, hier finden sich noch sehr viel strukturelle Unterdrückung und Marginalisierung in Form von Rassismus, Sexismus, Homo- und Transphobie. Frauen wird oftmals weniger zugetraut, sie werden auf ihr Aussehen reduziert und man hinterfragt, ob sie denn wirklich auflegen oder produzieren können. Ich würde mir wünschen, dass wir alle versuchen, binäre Denkstrukturen zu dekonstruieren und uns stärker solidarisieren. Auch das ist für mich radical optimism.”
LUZ1E macht eine Denkpause. So persönlich ihr Ansatz ist, mit dem sie die einzelnen stilistischen Verzweigungen der elektronischen Musik auf unerwartete Weise zusammenbringt, so wichtig ist ihr doch das Bigger Picture. „Man darf nie vergessen: Techno oder Electro wurde von schwarzen, people of colour und queeren Menschen geschaffen. Diese Musik ist unter anderem ein Ventil gegen Unterdrückung. Da steckt sehr viel Schmerz, aber auch Hoffnung drin. Heute fällt diese politische Dimension, die für mich persönlich stark mit Musik verknüpft ist, oftmals dem reinen Hedonismus zum Opfer. Es ist nichts falsch daran Musik genießen zu wollen, man sollte nur nicht vergessen, woher diese Musik kommt und aus welchem Kontext heraus sie entstanden ist.”
Transparenzhinweis: Luzie Seidel war im Sommer 2019 dreimonatige Praktikantin der GROOVE.