David Allred (Foto: Mo)

Seit 2017 findet das experimentelle Musikfestival Q3Ambientfest in Potsdam statt. Und auch dieses Jahr sollen zum fünfjährigen Bestehen keine Abstriche gemacht werden – Corona hin oder her, das kann inzwischen nun wirklich keine Ausrede mehr sein. Der Name leitet sich vom Querwandbau ab, eine Zweckbezeichnung des ostdeutschen Plattenbaus. Für die Initiatoren, die Brüder Daniel und Sebastian Selke, spielt die vielseitige Architektur Potsdams, von neoklassizistischen Schlössern bis zu plumpen Plattenbauten, eine programmtragende Rolle. Sie möchten eine Schnittstelle zwischen eben dieser Architektur und experimenteller Musik von Avantgarde bis Pop schaffen. Die beiden polyinstrumentalen Komponisten, auch bekannt als preisgekröntes Cello-Klavier-Duo CEEYS, legen viel Wert auf eine stimmige Kuration.

Das Line-Up ist divers aufgestellt. Die 14 Künstler*innen kommen aus zwölf verschiedenen Ländern, umfassen bereits etablierte Akteur*innen, aber auch aufsteigende Talente. Ein besonderes Highlight in diesem Jahr stellt der Samstag dar, mit einem Live-Stream aus der Fabrik Potsdam, dem üblichen Veranstaltungsort. Der Tag endet mit einer improvisierten Performance der Künstlerin Laure Boer und den Brüdern Selke. Wir haben den beiden ein paar Fragen zur Jubiläumsausgabe gestellt:


Brüder Selke by Matthew Coral
Brueder Selke (Foto: Matthew Coral)

Wie hat sich das Q3Ambientfest in seinen fünf Jahren weiterentwickelt?

Angefangen haben wir 2017. Gerade mal ein halbes Jahr, nachdem wir aus dem Berliner Osten nach Potsdam gezogen waren. Diese Stadt war für uns von Kindesbeinen an so etwas wie ein Sehnsuchtsort. Den Traum, genau hier mit Musiker*innen und einem gleichgesinnten Publikum unsere Gedanken und Gefühle auf einer gemeinsamen Bühne zu teilen, hatten wir schon zu Schulzeiten, als unser Vater am Wochenende Radio bei Antenne Brandenburg machte. Davor arbeitete er übrigens mehr als ein Jahrzehnt im uns auch vertrauten, inzwischen legendären Funkhaus Berlin.

Inspiriert von der alten Bauernweisheit „April, April, der weiß nicht, was er will”, erschien uns dieser abwechslungsreiche Monat am geeignetsten, zum Saisonstart ein gemütliches Fest – wenig prätentiös, dafür mit handverlesener Musik – zu gestalten. Zu Beginn der Planungen glaubten wir noch, mit dem Samstag-Sonntag-Doppel mehr als ausgelastet zu sein. Inzwischen komplettiert zusätzlich der Freitag das lange Wochenende, das zugleich aufgrund der zeitlichen Nähe noch die Möglichkeit eröffnet, den Piano Day mitzufeiern. Und so haben sich Zahl und Vielfalt der von uns eingeladenen Künstler*innen aus aller Welt erhöht, die hier auf ein warmherziges Publikum treffen.

Welche Strapazen musstet ihr in der Festivalgeschichte meistern?

Gleich 2017 sind wir ins eigene künstlerische und zugleich finanzielle Risiko gegangen, einzig von der Idee beseelt, das Projekt mit Leben zu erfüllen, viele Kolleg*innen zum ersten Mal überhaupt real und somit jenseits der virtuellen Welt auf der Potsdamer Bühne zu versammeln. In der Tat, das war strapaziös – aber es hat sich ja auch gelohnt. Heute machen wir ja auch noch vieles durchaus aufwändig selbst, ohne großes Management. Das wirkt manchmal auf den ersten Blick eventuell etwas simpel, dafür aber auch persönlicher, eben einfach nah dran an uns.

Nach dem ersten Versuch mit unserer eher bescheidenen PR-Kampagne waren viele Leute positiv überrascht und haben uns zu einer Wiederholung ermutigt. Klar, in Sachen Außendarstellung – mancher spricht da ja gern von dieser nach wie vor  „immanenten ostdeutschen Bescheidenheit“ – gibt’s sicher Reserven. Aber wir haben dennoch die gute Erfahrung gemacht, dass derjenige, der uns persönlich kennenlernt, spielen hört, unseren Ansatz besser versteht, auch heute noch durch den zu DDR-Zeiten gelernten täglichen kreativen Umgang mit materiellem Mangel geprägt wird.

Was waren die Highlights der letzten Jahre?

Für uns waren bisher jede und jeder einzelne Musiker*in etwas ganz Besonderes, und mit fast allen sind wir weiterhin in Kontakt. Einschließlich 2021 waren bisher 73 Künstler*innen aus 23 Ländern zu Gast, und diese beherrschen dabei nahezu die gesamte Instrumentenpalette: Vom Piano bis zu Streichern, Bläsern, Marimba, Drumset, Elektronik und Künstler*innen, die das Ganze mit ihrer Stimme kombinierten. Mitwirkende waren unter anderem Anne Müller, Midori Hirano, Andrea Belfi, Masayoshi Fujita, Aidan Baker, Hoshiko Yamane, F.S. Blumm, Marc Marcovic, Poppy Ackroyd, Simon Goff, Christoph Berg, Paddy Mulcahy, Hania Rani oder Lisa Morgenstern. Beteiligt waren auch Instrumentenbauer wie Soma oder die Piano-Manufaktur von David Klavins, der uns ein Una Corda zur Verfügung stellte. 

Für 2020 war eine besondere Kollaboration zwischen uns sowie Peter Brodericks und Daniel O’Sullivans Duo Constant Presence geplant. Eine 10-Inch auf Gregory Euclides Thesis Project gibt es von dieser Zusammenarbeit inzwischen, den Bühnen-Auftritt holen wir nach. Wichtig ist uns als Kuratoren schließlich, auch selbst spielerisch in Erscheinung zu treten, was das Q3Ambientfest sicher von den meisten vergleichbaren Veranstaltungen unterscheidet. Und diese kreative Perspektive hilft uns natürlich bei der Gestaltung der Festivaltage.

Wie nehmt ihr die Entwicklung von Ambient in letzter Zeit auf? Gibt es signifikante Entwicklungen?

Jeder kann heute sein eigenes musikalisches Universum erschaffen. Der Zugang zu eigenen komplexeren Ideen ist verständlicher und erreichbarer denn je, und das nicht nur durch technologischen Fortschritt, sondern aus unserer Sicht auch durch ein vom Mainstream ermüdetes Publikum. Und so entdecken wir besonders im Bereich instrumentaler Musik immer wieder neue Impulse. Eigentlich gibt es in nahezu allen bereits erschöpft scheinenden Genres Bewegung. Und so lesen wir das Wort „Ambient” in seiner atmosphärischen Bedeutung für eine allgemeine Aufbruchsstimmung, der wir selbst mit unserem akustisch-elektronischen Setup nachspüren.

Wo schafft ihr die Verbindung von experimenteller Musik zu Potsdams vielfältiger Architektur?

Für uns ergibt die Kombination aus klassischen und elektronischen Instrumenten in zeitgenössischen experimentellen aber auch zugleich zugänglichen Kompositionen einen passenden Ausgangspunkt für die Vertonung dieser Architektur. Da finden wir die historischen Schlösser, Pyramiden und Gärten Friedrichs des Großen, da ist die russische Kolonie Alexandrowka mit ihren Blockhütten, das holländische Viertel, vereinzelte antike Ruinen, die auch mit verlassen scheinenden Plattenbauten der sozialistischen Zeit korrespondieren. Wir haben in unserer Arbeit übrigens auch Bilder der Stadt zusammengestellt, die als Visualisierung beim Q3A ins Bühnendesign integriert werden.

Das Line-Up ist dieses Jahr sehr divers aufgestellt. Sowohl in Bezug auf die Herkunft, die Erfahrung und das Geschlecht der Künstler*innen. Welche Rolle spielt ein diverses Line-Up für euch im Prozess der Kuratierung?

Wie schon gesagt, seit der ersten Edition laden wir Künstler*innen unterschiedlichster Herkunft und Bekanntheit ein – das ist, wenn man so will, ohnehin eines unserer Markenzeichen, mit dem wir die Erwartungshaltung unseres wachsenden Publikums nicht nur zu erfüllen, sondern immer wieder auch zu überraschen versuchen. Hier investieren wir sehr stark in unsere permanenten Recherchen. Übrigens nicht nur beim Q3Ambientfest, sondern auch bei kleineren Formaten wie Haus- und Filmkonzerten. Wir versuchen, ein Kontinuum des musikalischen Austausches zu entwickeln.

Die Auftritte werden per Livestream ins Internet übertragen. Ein gängiges Format mittlerweile. Funktioniert das für Ambient ebenso gut wie für Clubmusik? Oder sogar besser?

Die Formel ist hier im Grunde sehr einfach. Wir lieben gemütliche Konzerte in Wohnzimmeratmosphäre und versuchen dieses Wohlbefinden in unseren Formaten zu transportieren, um den Zuhörer*innen neue Ansätze und Gedanken ohne Barrieren zu ermöglichen. Da kam uns zusätzlich die Idee, die Künstler*innen um gefilmte Sessions in vertrauter Umgebung zu bitten. Die Qualität der Kamera war uns dabei eigentlich gar nicht mal so wichtig. Umso mehr sind wir nun sehr positiv überrascht von den Konzertfilmen.

Zum Abschluss noch zum Mix: Auf welche Art und Weise spiegelt der das Programm des Festivals wider?

Seit der ersten Edition erstellen wir Mixe, die exklusiv die Künstler*innen widerspiegeln, die für ein Set zum jeweiligen Q3Ambientfest geladen sind. Die Auswahl der Stücke sucht dabei stets nach Parallelen zu unserem Schaffen als Brueder Selke. Dafür reichen ein Tracktitel oder auch ein Artwork. Meist stoßen wir dabei auf weitere Künstler*innen, die dann zur nächsten Ausgabe angefragt werden können. Im Grunde sind somit auch die Mixe gerade dadurch Start- und Endpunkte unserer Recherchen bei der Kuration.

Lieber Leser*innen: Zögern Sie also nicht, uns Ihren Lieblingstrack oder Ihre Lieblings-Künstler*innen vorzustellen.


Vorab haben die Brüder-Selke wie jedes Jahr einen Mix aufgenommen, der auf das anstehende Festival Bezug nimmt und Musik auftretender Künstler*innen beinhaltet:

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Groove präsentiert: Q3Ambientfest 2021

Freitag, 09.04. bis Sonntag, 11.04.2021
Tickets sind hier erhältlich

Line Up: Sergio Díaz de Rojas, David Allred, Laure Boer, Mara Simpson uvm.

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