Jonathan und Brigitte Meese in den Trixx-Studios in Berlin-Kreuzberg (Foto: Jan Bauer)
Wie unerwartet und dennoch schlüssig die Zusammenarbeit von DJ Hell und Jonathan Meese ist, haben wir im ersten Teil des Interviews mit den beiden Titanen der deutschen Kulturlandschaft zu erklären versucht. Im zweiten Teil des Gesprächs kommt Jonathans Mutter Brigitte dazu, die auf dem Album auf zwei Songs vertreten ist. Brigitte Meese hat die gesamte Karriere ihres Sohnes begleitet, die beiden stehen in einem ständigen Dialog.
In der 1929 geborenen Brigitte Meese lebt ein Verständnis von Popmusik, das heute fast vergessen ist, das aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. GROOVE-Chefredakteur Alexis Waltz wollte wissen, wie sie die Begegnung mit Techno erlebt hat – und was für eine Dynamik entstanden ist, als aus dem eingespielten Mutter-Sohn-Duo mit DJ Hell ein Trio wurde.
Brigitte, du arbeitest viel mit deinem Sohn zusammen, ihr tauscht euch intensiv aus. Nun habt ihr zum ersten Mal gemeinsam gesungen. Wie war es für dich, elektronische Musik zu machen?
Jonathan: Brigitte weiß gar nicht, was elektronische Musik ist.
Brigitte: Bei mir hat das mit den ABBAs aufgehört. Hell hatte ich schon vorher im Studio getroffen. Der Besuch im Tonstudio war eigentlich reiner Zufall, der Johnny ging hin und sagte zu mir: Willst du mitkommen? Und ich sagte: OK, komm ich mit. Hell hatte die Mikrofone aufgestellt, Johnny stellte sich an das eine Mikrofon und da dachte ich: Dann machst du das doch auch. Ich singe ja nicht, ich spreche ja zur Musik. Wir standen uns gegenüber, Hell machte die Musik und wir haben irgendwie etwas dazu gesprochen. Weil wir viel zusammen machen, auch Videos, haben wir da keine Schwierigkeiten.
Jonathan: Das ist ein instinktiver Prozess. Man lässt sich drauf ein. Meine Mutter ist auch so jemand: Wenn eine Aufgabe gestellt wird, wird die erledigt. (lachen) Ja, das ist dein Leben.
Brigitte: Solange sie in der Reichweite meiner Fähigkeiten liegt, mache ich im Grunde alles mit.
Jonathan: Es hat dir aber Spaß gemacht?
Brigitte: Es hat mir Spaß gemacht, ja.
Sag bitte nochmal was zu dem Text.
Brigitte: Da fragst du mich! Ich hab’ keine Ahnung.
Jonathan: Doch, es ging um Liebe.
Brigitte: Ja, es ging um Liebe, es ging um Angst, um solche Begriffe. Ich habe dann auch immer gesagt: Es kann nicht sein. Das kam wirklich spontan aus dem Moment heraus. Auf das, was er geredet hat, habe ich dann geantwortet.
Jonathan: Das Faszinierende ist, dass sie eine Gegenposition einnimmt, wie in der Kunst generell bei mir. Sie ist sozusagen immer das Volk, sie ist der Adressat. Dann gibt es ein Pingpong-Spiel. Sie ist da auch völlig unbestechlich, ich kann ihr nicht befehlen: Sag’ jetzt das oder das. Das sagt sie vielleicht einmal, aber dann sagt sie, was sie will. Da kann ich auch nicht zu viel Einfluss nehmen, weil das nichts bringt.
Brigitte: Das ist genau richtig, ich bin das Volk. Vieles, was du sagst, kann das Volk nicht verstehen. Und ich bin die vom Volk, die dann nachfragt: Was meinst du denn damit? Ich finde das dann nicht richtig, kann mir das dann nicht vorstellen. Das ist meine Aufgabe.
Jonathan: Und in diesem Lieblingslied von mir gerade, „Motherdance”, da sagt sie ja: „Das ist das Ende vom Lied”. Damit ist das Lied auch fast zu Ende. Und so ist das bei mir auch oft: Ich mach’ irgendwas, und wenn dann Mami kommt, jetzt ist aber zu Ende, dann mache ich noch zwei, drei Bewegungen, dann sagt sie nochmal: Jetzt ist Schluss, und dann muss ich auch gehorchen.
Wie entscheidest du, wann das Ende gekommen ist?
Brigitte: Weil er in seinen Reden und seinen Performances generell nie einen Schluss findet. Ich bin da, um den Bremser zu spielen. Er hört nicht auf. Ich finde, da muss auch irgendwo ein Ende sein. Als das Stück Lolita in Dortmund aufgeführt wurde, bin ich dann auf die Bühne gegangen und habe gesagt: „Jetzt reicht’s.”
DJ Hell: Ich kann mich an einen Moment erinnern, da waren wir acht oder zehn Stunden im Studio, das war wirklich auch ein Moment, wo man sagt, wir machen jetzt Pause oder wir hören auf. Da hat sie gesagt: „Du musst leise sein, damit du hörst, was die Musik dir erzählt.” Das sind so geniale Momente, die ich dann beim Durchhören der Aufnahmen entdecke, rausschneide aus dem Kontext und dann nach vorne stelle. Brigitte hat so viele Statements gemacht, auch in dem Liebeslied. Da singt sie: „Um Liebe geht es.” Und Jonathan dann: „Liebe, endlich Liebe.” Der Begriff der Liebe wird nochmal völlig neu beleuchtet und neu definiert. Das habe ich versucht, musikalisch auszuarbeiten.
Jonathan: Für mich sind das Balladen. Ich erkenne meine Mutter sofort wieder, das ist völlig natürlich, sie kommt aus einer Zeit der Balladen.
Brigitte: Aus einer Zeit, in der man viel auswendig gelernt hat.
Jonathan: Lale Andersen, Hans Albers, die hast du doch alle noch voll drauf.
Brigitte: Aus der Kriegszeit, ja.
Jonathan: Oder Heinz Rühmann und so. Wir gucken die ganze Zeit fern. Die 2, Derrick, Denver Clan, Mit Schirm, Charme und Melone, alles. Wir waren ja fernsehsüchtig. Jetzt gucken wir gerade Fritz Lang, die ganze Zeit. Dr. Mabuse, Metropolis, das ist ja alles drin in dieser Musik. Mami versteht natürlich Techno nicht, aber du musst es ja nicht verstehen, du musst es einfach nur zulassen.
Brigitte: Wenn die eigene Jugend so weit zurückliegt, dann kann man nicht mehr verstehen, dann muss man zulassen und akzeptieren.
Jonathan: Ich finde es immer wieder spannend, mit Mami zu streiten, wir machen das ja jeden Tag. Für mich war mit ihr zu singen ein ganz natürlicher Vorgang, der DJ Hell hat uns da ein Setting gegeben. Da gibt es keine Fehler, da ist nichts rausgeschnitten worden, nur aus musikalischen Gründen, nicht weil es doof war. Also ich würde sagen, aus diesen fünf Stunden kann man 500 Platten machen. (lacht) Oder wahrscheinlich noch mehr. Der DJ Hell wird darauf eine Antwort geben können.
DJ Hell: 500 wären eine Aufgabe, 50 könnte ich aus dem Material ohne Probleme machen. Ich bin gespannt, wie sich das Ganze weiterentwickelt, was für Thematiken in zukünftigen Sessions aufkommen. Ich will musikalisch in eine neue Richtung gehen, dieses Mal soll eine Band mit ins Studio kommen. Das erste Album ist noch gar nicht veröffentlicht, und ich bin schon beim zweiten – und ehrlich gesagt auch schon beim dritten Album. Text habt ihr ja für 5000 Alben.
Jonathan: Für eine Million mindestens, es ist grenzenlos. Aber ich habe noch eine Frage für dich, DJ Hell. Was bedeutet das für dich, dass du das mit mir und meiner Mutter machst, speziell mit meiner Mutter? Was hat das bei dir erzeugt? Ist das Hildegard Knef für dich? Mit was hat das für dich zu tun?
DJ Hell: Vielleicht hat es mit meiner Mutter zu tun, die mir auch sehr nahe steht. Wir sehen uns leider nicht so oft, die ist 82. Vielleicht will ich damit meiner Mutter gefallen, wie das jeder Sohn will. Man will die Mutter nicht enttäuschen. Ich habe größtmöglichen Respekt vor Brigitte, beobachte Brigitte, höre Brigitte zu und lerne viel für mein Leben aus eurer Verbindung. Brigitte ist eine große Inspiration in meinem Leben. Das war so ein intensives Erlebnis im Trixx-Studio. Ich habe geweint, weil mich das so berührt hat, wo diese sakralen Choräle kommen. Das gebe ich gerne zu. Ich bin wahnsinnig gerne in Gegenwart von dir und Brigitte, ich fühle mich einfach wohl dabei. Das ist, glaube ich, die größte Zuneigung, die man zeigen kann. Ich bin immer glücklich, wenn ich euch gesund sehe.
Jonathan: Wo hast du schon mal so eine Kombi gesehen?
DJ Hell: Das ist einzigartig, da kenn’ ich so nichts. Da fällt mir spontan nichts dazu ein, dass Mutter und Sohn zusammen künstlerisch agieren.
Wie stand und steht deine Mutter zu deiner Musik und zu deiner Existenz als Musiker?
DJ Hell: Das war ein Konflikt, die Mutter sagt natürlich immer, Sicherheit ist besser. Wie lange kannst du das machen, was macht das mit deiner Gesundheit? Verstanden hat sie das erst, als sie Dokumentationen im Fernsehen über mich gesehen hat. Sie hat zum Beispiel alle Zeitungsartikel in der lokalen Presse gesammelt, die hat sie mir vor zwei Wochen überreicht. Ich weiß nicht, ob sie das hundertprozentig versteht, weil sie nie im Club oder auf einem Festival dabei war. Ich könnte mir nie vorstellen, mit meiner Mutter ins Studio zu gehen. Da würde sie sich unwohl fühlen, das könnte sie nicht machen wie Jonathan und Brigitte.
Jonathan: Für mich sind das alles Liebeserklärungen. Nicht nur an die Mütter, sondern auch an eine sich jetzt verabschiedende Generation. Außerdem ist es eine Liebeserklärung an viele andere Musiker, das ist ja ganz wichtig. Man kopiert die nicht, sondern man liebt sie, man baut auf ihnen auf, man zeigt Respekt. Meine Referenzen, deine Referenzen und deine ja auch, Brigitte. Ich denke die ganze Zeit an Hildegard Knef und Lale Andersen.
Brigitte: Die singen ja, ich spreche ja nur.
Jonathan: Das macht ja nichts. Das waren Leute, die auch im hohen Alter noch unterwegs waren, die sich nie zu schade waren, noch etwas beizutragen.
DJ Hell: Hildegard Knef hat auch oft gesprochen auf der Bühne, es geht um deine Stimme und die Aussage. Im Englischen hast du eine tolle Vibration, das hat so eine Wärme und so eine Kraft. Das ist Mischung aus Sprache und Gesang.
Jonathan: Die Generationen müssen das wieder zusammen machen, vom Baby bis zum 150-Jährigen. Das meine ich überhaupt nicht süßlich. Da draußen ist so viel Horror, es muss mal wieder was passieren. Du bist ja gar nicht mehr in Clubs.
DJ Hell: Nein, ich habe seit einem Jahr Berufsverbot.
Jonathan: Ich habe wahnsinnige Angst vor dem, was ich jetzt sage: Ob ich es mal schaffe, mit DJ Hell und meiner Mutter in einem Club aufzulegen? Oder nur ‘ne Minute dazuzukommen? Das weiß ich nicht.
Brigitte: Da müsstet ihr mich sehr, sehr überzeugen.
Jonathan: Du würdest es eher machen als ich. Vielleicht trittst du mit DJ Hell auf. Was sagst du, Hell?
DJ Hell: Ich kann das inszenieren, wenn sich alles wieder normalisiert hat. Das kann man arrangieren. Das wäre natürlich eine wahnsinnig schöne Vorstellung, dass wir drei im Club performen.
Jonathan: Und ein allerletzter Punkt noch: Wenn ich mit Leuten über dich spreche und über das, was wir gemeinsam gemacht haben, da kommt immer ein Punkt, der ist der Wahnsinn: Das ist weltweit spielbar. Das ist zwar mit der Kunst auch so, aber das ist viel komplizierter, Musik geht einfach ins Ohr. Das geht direkt in den Körper. Das kannst du überall spielen, in Argentinien, in England, auf der Antarktis, auf dem Mars. Das ist so geil.