Foto: Michał Nowotniak (Vincent Neumann)
„Auf die Residents kann man sich verlassen, persönlich und inhaltlich. Sie kennen den Club, die Gäste, die Anlage, und sie sind ein Grundpfeiler der musikalischen Identität eines Clubs, also ebenso wichtig wie die Architektur, der Raumklang oder die Gestaltung“, sagte einst Nick Höppner in der Groove. Mit unserem monatlichen Resident Podcast wollen wir ihnen den gebührenden Respekt zukommen lassen.
Teilzeit-Raver, Vollzeit-Nerd: Vincent Neumann hat einen Day Job, der zwar – leider wohl – durchaus einiges mit dem Nightlife zu tun hat, vor allem aber ist er als Auskenner nicht nur in Sachen Kartenspiele bekannt. Nachdem der Leipziger sich in der hiesigen Szene seine Sporen verdiente, noch bevor jemand das Wort “Hypezig” ins Internet getippt hatte, heuerte bei einer ältesten Techno-Institutionen überhaupt an und ist seitdem Resident der Distillery.
Nach einer bewegten jüngeren Vergangenheit schaut der Traditions-Club mittlerweile optimistisch in eine Zukunft, wie auch Neumann erzählt, obwohl die Gegenwart weiterhin prekär ist. Auch im rasender Stillstand aber geht es mit Neumann weiter, der Mitte letzten Jahres mit Unitas Multiplex ein eigenes Label aus der Taufe hob und seinen Mix für den Groove Resident Podcast als Pandemieprogramm konzipiert hat: Über zwei Stunden hinweg lässt sich dazu wahl- und wechselweise im Sitzen oder beim Zoomen raven.
Du hast selbst gesagt, dass die Distillery dich überhaupt erst zum Auflegen gebracht hat. Wie genau?
Die Distillery hat mich zum Auflegen gebracht, weil ich durch die vielen Besuche in ihr das erste Mal Techno wirklich erlebt habe und dort auch quasi meine Eingebung auf der Tanzfläche bei Techno – gröber gesagt elektronische Tanzmusik generell – hatte. Ich bin ab 2005 zunächst unregelmäßig, ab 2009 regelmäßig hingegangen, zunächst zu Drum’n’Bass, später dann zu House und Techno. Oftmals stand ich aber auf der Tanzfläche – ich war ab 2008 quasi auch selbst dabei, zu Hause mit Traktor und Controller selbst für mich „aufzulegen“ – und dachte mir immer öfter „Hey, das klingt super, ich vermisse aber viele Tracks, die ich so gern auf der Tanzfläche hören würde und keine*r spielt die.“ Somit wuchs die Erkenntnis in mir „Ey, wenn andere es auch hinkriegen, vor anderen Menschen ihre Lieblingsstücke aufzulegen, dann kriegst du das auch hin.“ Was mich aber am meisten an der Distillery fasziniert, ist das menschliche Miteinander auf der Tanzfläche und im Club als Ganzes. Einmal kamen Freunde aus Köln zum Tanzen in die Distillery und sie waren überrascht über die Dancefloor-Etiquette – „Boah die sind alle so nett, die entschuldigen sich ja, wenn sie dir aus Versehen auf die Füße treten, wie krass“ – und ich glaube, das ist ein ganz fester Bestandteil, der den Laden ausmacht. Was mich auch immer beeindruckt und angezogen hat, war die relative räumliche Nähe von DJs und Publikum zueinander. Die Bühne, speziell im Keller, ist nur ein bisschen erhöht und das Publikum hat die Möglichkeit, sehr nahe an die DJs zu kommen.Das schafft sofort eine Nähe und Intimität, wie sie nicht allzu häufig in anderen Clubs zu finden ist. Es hat etwas vom Star-Sein weit Entferntes. Distillery-Chef Steffen Kache hat einen Club mal sehr treffend mit einem Biotop verglichen, in dem eine sofortige Veränderung der Stimmung oft mit nur einem einzigen neuen Menschen auf der Tanzfläche oder einer Geste komplett umschwenken, wenn nicht sogar kippen, kann. Dies habe ich oftmals im Keller auf der Tanzfläche erlebt und die Momente, in denen Menschen zu einem in Einklang schwingenden Gemisch werden, wo alle aufeinander Acht geben, waren so einprägsam schön, dass ich auch einen Teil dazu beitragen wollte und will, dass diese Momente auftreten und wir alle gemeinsam schön „im Modus“ sind.
Wie kam dein erstes DJ-Set dort zustande – und wie lief es?
Mein erstes DJ Set am 31. März 2012 in der Distillery kam durch Einladung von Einklang alias Mario Hausmann zustande. Ich hatte mit meinem besten Freund, Jens, ein paar Monate davor begonnen, Partys in Leipzig zu veranstalten und die liefen sehr gut, sodass Mario mich eines Tages fragte, ob ich nicht mit ihm mal gemeinsam im Keller spielen will. Nach Jahren des Ganz-vorne-Stehens-und-dem-DJ-auf-die-Finger-Guckens war es dann soweit. Ich war schweineaufgeregt und es waren ein Haufen meiner Freunde da, als um 01:00 die Kette zum Keller rausgezogen und die Tanzfläche freigegeben wurde. Irgendwann während des Sets, zwischen 5 und 6 Uhr morgens, ist Marios Laptop abgestürzt und er musste mir notgedrungen die Bühne alleine überlassen, sodass ich dann bis circa um 10 Uhr alleine gespielt habe. Habe dann als letzte Nummer Len Fakis “Rainbow Delta” gespielt, dabei geheult, meinen letzten Apfel gegessen und gedacht „Okay, das war’s, alles erreicht.“ Meine letzte Getränkemarke von dem Auftritt ist seitdem in meinem Portemonnaie.
Wann hast du als Resident angeheuert und wie kam es dazu?
Resident wurde ich glaube ich circa ein Jahr nach meinem ersten Auftritt. Der Booker, Marc, hat mich davor, als ich noch ein Tänzer und Fan unter vielen war, schon immer mal im Club gesehen – irgendwann läuft man sich ja immer über den Weg – und wir haben jedes Mal sehr entspannt und offen miteinander gequatscht. Ich bekam ein paar Monate nach März 2012 die erneute DJ-Einladung zum traditionellen Distillery-Closing zur Sommerpause Juli 2012. Vor der offiziellen Residency hatte ich noch ab und zu in anderen Clubs wie dem Sweat (RIP) oder dem Elipamanoke gespielt, das Institut fuer Zukunft gab es zu dem Zeitpunkt noch nicht. Einmal hatte ich den Anfängerfehler gemacht, an einem Wochenende sowohl an Freitag die eigene Party, ich glaube im Sweat, als auch am Samstag die Residency in der Distillery zu spielen. Marc hat mich vor dem besagten Wochenende kurz angerufen und nur gemeint, dass er das „nicht sooo cool“ findet und ich hatte sofort verstanden, was er meint. Ich hatte Marc dann auch irgendwann einmal gesagt, dass ich auch gar nicht in einem anderen Club Leipzigs als in der Distillery spielen möchte, und somit ging es recht einfach. Er tickt da ähnlich wie ich, was Loyalität und Konstanz angeht. Marc hatte bald darauf in einer Mail zum Line-up im März 2013 (CTRLS live, Fabula von Syndikat//Unikat) einfach geschrieben „Ich habe da mal was vervollständigt“ und dann stand plötzlich (Distillery) hinter meinem Namen.
Was hast du im Laufe deiner Residency gelernt?
Resident zu werden war für mich ein Traum und auch ein ziemlicher Glückstreffer, denn ich wäre nicht halb der DJ wie durch die monatlichen Auftritte im Club. Die ersten Jahre habe ich, glaube ich, immer das traditionelle Opening von 1 bis 3 Uhr gespielt und diese Nächte haben mich mehr trainiert als alles andere. Eine Residency in einem coolen Club ist etwas Seltenes, das vielen DJs weltweit verwehrt wird. Die Möglichkeit, regelmäßig vor Publikum aufzutreten, sowohl um Tracks zu probieren, als auch den Blick für die Tanzfläche zu schulen und die Interaktionen mit dem Publikum aufzubauen, zu pflegen und zu halten ist etwas Wertvolles, das zeitlich honoriert werden will. Meiner Meinung nach reicht es als Resident nicht, fünf Minuten vor eigenem Set-Beginn im Laden aufzukreuzen, die Kopfhörer einzustecken und nach Set-Ende gleich wieder zu gehen, weshalb ich traditionell immer eine Stunde vor Set-Beginn im Club aufkreuze, um mit den Leuten von der Tür, dem Barpersonal, Nightmanager*innen, Techniker*innen oder Steffen zu quatschen. Meistens bleibe ich nach „Schichtende“ auch noch eine Stunde. Ein Team funktioniert dann am besten, wenn alle untereinander auch miteinander reden. Irgendwann habe ich dann auch gemerkt, dass Teile des Publikums wegen mir kamen. Das war zunächst etwas Befremdliches, aber natürlich auch Berauschendes. Und dann kommt kurz darauf auch der Wunsch auf, diese Leute nicht zu enttäuschen. Die Residency hat mich auf alle Fälle gelehrt, nicht „gegen das Publikum“ anzuspielen nur, damit man die gerade gekauften Tracks präsentieren kann, um zu sagen, dass mansie gespielt hätte. Vielmehr sollte man stattdessen möglichst aufmerksam auf den Dancefloor und die Reaktionen zu den Tracks achten und flexibel darauf reagieren, entweder funktional oder spielerisch. „Oh, sie mögen Roman Lindau? Na, vielleicht mögen sie dann auch diese alte Echocord-Nummer!“. Daniel Sailer hat mir 2013 mal, als wir hinter einander im Keller spielten, eine vernichtend ehrliche Rückmeldung gegeben. Ich war dabei, das Opening zu spielen, es war schon ganz gut gefüllt, aber so richtig wollte der Funke nicht überspringen. Daniel kam dann zu mir und meinte nur so trocken „Du hast gerade drei Mal hintereinander den klanglich gleichen Track gespielt, kein Wunder, dass die Leute da an die Bar gehen.“ Und er hatte Recht. Ich hatte da wohl gerade drei Tools von Non Series und Konsorten hintereinander geknallt. Abwechslungsreichtum habe ich seitdem kennen und schätzen gelernt. Eine Residency hilft einem auch gut dabei, mit beiden Beinen auf dem Boden zu bleiben, da du während einer Nacht meistens entweder Intro oder Outro eines Headliners bist. Die meisten Gäste kommen wegen dem Headliner, nicht deinetwegen, das sollte man stets im Kopf behalten. Darüber hinaus habe ich auch gut gelernt, Getränkemarken zu haushalten und immer Gehörschutz zu tragen, was ich allen wärmstens empfehle.
Welche Anforderungen bringt der Job des Residents für dich im Vergleich zu einzelnen Gigs in anderen Clubs mit sich?
Die Anforderungen sind insofern anders, als dass das Stammpublikum dich irgendwann kennt – bei Georg Bigalke heißt es zum Beispiel immer „Stampfen mit Georg!“ – du es aber nicht mit den immer gleichen Buden langweilen darfst. Ich habe mal eine Zeit lang bei jedem Auftritt in anderen Städten Audions “MouthToMouth” gespielt. Würde ich das jedes Mal machen, wenn ich in der Distillery spiele, wäre es irgendwann ein Meme und sehr berechenbar. Klar hat jeder DJ „Signature Tracks“, aber bei einer Residency fällt es einem früher oder später auf die Füße, wenn man sich zu sehr wiederholt und auf sicheren Nummern ausruht. Eine andere Anforderung ist, dass egal, wo du auswärts hinfährst, du auch immer den eigenen Laden repräsentierst. Sowohl im Guten als auch im Schlechten. Das sollte man immer im Hinterkopf haben, wenn man in anderen Clubs auftritt. Genau so gilt das aber auch für Heimspiele. Wenn ich als Resident, quasi wie ein Gastgeber, einen Gast-DJ vom Hauptbahnhof abhole, dann bin ich ein Teil in einer langen Kette, die dafür gesorgt hat, dass dieser Auftritt zustande kommt. Ich hole die allermeisten DJs, wenn es möglich ist, vom Hotel zum Artist Dinner ab, um gemeinsam entspannt in den Abend hineinzufinden. Manchmal habe ich mehr Spaß am Artist Dinner gehabt als den eigentlichen Clubabend danach, einfach, weil wir uns in der Runde so gut verstanden. Und, wenn der Gast-DJ spielt, ist dein Job als Resident im Idealfall nicht vorbei, sondern du bist am besten noch eine Weile da, fragst, ob alles okay ist, ob was benötigt wird, ob noch ein Getränk ran soll oder ein Shot, ob der Ventilator angeschaltet werden soll, alles mit der Gästeliste geklappt hat und so weiter und so fort. Wir wollen den DJs das Gefühl geben, dass sie sich wohl fühlen können. Denn ja, das Nachtleben ist ein Geschäft, es soll aber auch Spaß machen.
Gibt es eine besonders denkwürdige Nacht aus deiner Geschichte in der Distillery?
Als ich 2013 das erste Mal für Marcel Dettmann das Opening spielen durfte im Rahmen der Dettmann II Album-Release-Tour. Marcel ist, seit ich ihn das erste Mal 2011 in Dresden im Whatever (RIP) hörte, eine unglaubliche Inspiration für mich. Er ist einer der wenigen DJs, deren DJ Sets ich mir zuhause anhöre und seine Musik hat eine einzigartige Strahlkraft und Atmosphäre, die mich regelmäßig in ihren Bann zieht. Ich hatte von der Album-Release-Tour zufällig erfahren, als ich im Distillery-Büro war und da den Spielplan für die nächsten Monate sah. Ich meinte indirekt zu Marc, dem Booker: „Oh, Marcel ist da! Na, da hätt ich ja voll Bock mitzumachen…“ Marc hat den Hinweis schon verstanden und meinte dann mal zu einem Opening im Sommer 2013, kurz bevor wir die Türen aufmachten, nur so im Vorbeilaufen zu mir: „Ach ja, Dettmann-Opening steht.“ Ich war überglücklich und verlangte sofort nach einem Gisela-Shot. Das eigentliche Opening am Abend der Album-Release-Party war super gelungen, auch wenn nicht jeder Übergang 100% klappte, ich war einfach sehr nervös. Die Order war, dass ich von 23:30 bis 3 Uhr spielen sollte. Marcel kam dann auch bald an und war gut gelaunt. Und es lief so gut, dass es dann um 3 plötzlich vom Nightmanager hieß „Spiel mal noch weiter“. Ich hatte mich darauf vom Aufbau des Sets nicht wirklich vorbereitet, da das Set klanglich nun schon am „Höhepunkt“ war, und dass der Headliner, Marcel, nur noch übernehmen musste. Aber so musste ich diesen Punkt noch auf unbestimmte Zeit halten und den Sound variieren, ohne das Publikum zu langweilen. Das war eine neue Erfahrung und auch eine neue Aufgabe für mich. Da hatte ich dann auch das erste Mal das Gefühl, dass das Auflegen etwas ist, das ich auch kann. Als Marcel dann später übernahm, war das dann nochmal eine ganz andere Liga, ich konnte auf die Tanzfläche, mich freuen und voller Endorphin verausgaben. Danach hatte ich auch noch Gelegenheit, entspannt mit ihm zu quatschen. Diese Nacht wird mir wohl für immer im Gedächtnis bleiben.
Eigentlich sollte die Distillery im nächsten Jahr ins sogenannte Black Triangle umziehen. Kannst du etwas dazu sagen, ob dieser Plan weiterhin besteht oder durch die Krise ins Wanken geraten ist?
Der Plan des Umzuges in das Gleisdreieck, so der Projektname, steht weiterhin an. Steffen hat mal die fröhliche Vision geäußert, dass wir den 30. Geburtstag des Clubs sowohl im alten Laden feiern als auch die Eröffnungsparty des neuen Standorts im gleichen Jahr. Es war ein glücklicher Zufall, dass wir in Sachsen einen nahezu coronafreien Frühling und Sommer hatten. Denn die Teams von Distillery, TV Club und viele weitere freiwillige Helfer*innen und Interessierte haben sich in dieser Zeit regelmäßig am Samstag zum gemeinsamen Arbeitseinsatz getroffen, um das riesige Gebäude und das noch riesigere Gelände auf Vordermann zu bringen und den Umzug langsam vorzubereiten. Ich war auch regelmäßig dabei und es war mit eines der schönsten Dinge, die wir den Sommer 2020 gemeinsam gemacht haben. Mit den Leuten von der Bar, die du im Rahmen einer normalen Samstagnacht maximal 15 Minuten zum Schwatzen hast, gemeinsam darüber zu ächzen, dass die Stahlwolle, die man vorher von irgendwelchen alten Rohren abgerissen hat, wie Sau auf der Haut juckt, hatte schon was. Das Gleisdreieck hat, von dem was mir erzählt wurde, auf alle Fälle riesiges Potential und ich bin, als ich das erste Mal das gesamte Gelände und Gebäude durchschritten habe, auch sehr beeindruckt gewesen von den Möglichkeiten, die sich dort bieten können. Steffen ist optimistisch, dass der Umzug klappen wird und wenn er positiv in die Zukunft sieht, dann tue ich das auch.
Neben einer Startnext-Kampagne lässt sich die Distillery beziehungsweise die Leipziger Szene insgesamt durch den Kauf von Solitickets unterstützen. Gibt es noch andere Möglichkeiten, den Club in dieser Zeit zu supporten?
Es finden immer mal wieder Crowdfunding-Kampagnen statt, in denen man gezielt bestimmte Clubs, Vereine, Kollektive oder Ähnliches unterstützen kann. Danke nochmals an alle Spender*innen für die bisherigen erfolgreichen Kampagnen. Darüber hinaus wurde vor Kurzem das neue Amt des „Club-Bürgermeisters“ in Leipzig aus der Taufe gehoben. Ob und inwiefern dieses einen spürbaren Effekt auf die Clublandschaft haben wird, bleibt abzuwarten. Ich bin positiv gestimmt bezüglich der Entwicklung, dieses Amt zunächst einmal überhaupt einzuführen und somit die kulturelle Relevanz von Clubs anzuerkennen. Generell glaube ich, dass der Hauptkraftakt in den nächsten Monate darin liegen wird, regelmäßig die Relevanz des Themas Nachtleben aufrecht zu halten, wiederholt die Trommel für uns zu rühren und für gleichbleibende Sichtbarkeit zu sorgen. Das Clubsterben geistert ab und zu durch die diskurssetzenden Medien, aber oftmals reicht das nicht, um dauerhaft für Veränderung zu sorgen, sondern es verglimmt schnell wie ein Strohfeuer der kurzlebigen Anteilnahme – „Oh, da muss was getan werden… Okay, nächstes Thema“. Es gibt eine schöne Kampagne namens Kulturgesichter Leipzig, die das ganze Thema durch Portraitfotos gut greifbar macht.
Das Land Sachsen hat unter dem Titel “Härtefälle Kultur” angeblich eine Lücke in seiner Kulturförderung geschlossen und explizit die Clubs in Fokus gerückt. Wie schätzt du die politischen Bemühungen in Sachsen ein – wird sich ausreichend für den Erhalt der Szene über die Pandemie hinweg eingesetzt?
Sachsen hat seine Clubs vor Corona oftmals stiefmütterlich behandelt.Im Prinzip war es oft so, dass Clubs hier, wie auch im Rest der Bundesrepublik mit Ausnahme von Berlin um Anerkennung kämpfen mussten. Die “Härtefälle Kultur”-Initiative der SAB ist auf alle Fälle zu begrüßen. Jedoch ist es, wie so oft, ein bürokratischer Aufwand, sich da erstmal zurecht zu finden. Es wird für viele Clubs, Kulturstätten, Kulturschaffende und Freiberufler*innen nicht einfach, die nächsten Monate zu überstehen. Hoffen wir das Beste.
Du selbst hast mitten in den Dancefloor-Stillstand hinein ein Techno-Label gegründet. Welches Konzept verfolgst du mit Unitas Multiplex?
Ich hatte zuerst im Jahr 2013 den Gedanken, ein Label zu machen, habe diesen aber rasch wegen Geldknappheit verworfen. Anfang 2020 war das Finanzielle dann kein Gegenargument mehr und ich stolperte irgendwie beim Musikdurchstöbern im Festplattenarchiv über den Track von Fundamental Interaction, “Private Contractors”, und fragte ihn einfach, ob er noch aktuelle Tracks hat, damit ich die Platte, die schon 2013 als erstes Release geplant war, zu veröffentlichen. Den Originaltrack “Private Contractors” musste er nochmal neu produzieren, deswegen auch der neue Name “Exclusion Principal”. Das Konzept des Labels ist, grob gesagt, auf den Begriff der „Vieleinheit“ von William Stern zurückzuführen. Mit dem Label möchte ich unterschiedliche Künstler*innen veröffentlichen, die eigenen, aber in Teilen ähnlichen Tanzflächen-Techno machen. Hauptsächlich sollen es Producers sein, die ich sowohl musikalisch feiere, als auch menschlich als ziemlich angenehm erlebe. Mir geht es um einprägsame, funktionale Nummern mit Melodie, die Hard Wax am ehesten als „big room DJ tool techno“ beschreiben würde. Wichtig ist mir auch, möglichst viele unterschiedliche Akteur*innen mit möglichst unterschiedlichen Hintergründen auf dem Label zusammenzubringen, es soll eben viele unterschiedliche Menschen abbilden. Das Artwork ist mir auch von Bedeutung, denn darauf bleibt man immer als erstes kleben, wenn man sich durch Hard Wax und Co (oder den USB wühlt). Jedes Artwork ist eine Verneigung vor etwas älteren Rollenspielen, da auch meistens in diesen Rollenspielen aus vielem – Attributen, Fähigkeiten… – eine Einheit gebildet wird. Das Label 2020 trotz Corona zu starten war meinem idealistischen Ansatz geschuldet, dass Krisenzeiten auch Content-Zeiten sind. Ich habe an mir selbst bemerkt, dass ich mir, durch die giglose Periode, mehr Zeit nahm, um Releases zu hören und diese auch intensiver wahrzunehmen. Und: ich hatte im ersten Corona-Jahr damit zu tun, ein komplett neues Feld kennenzulernen: Produzent*innen/Remixer*innen anfragen, Presswerk aussuchen, Vertrieb organisieren, Mastering in Auftrag geben, Artwork wählen, Layout, Kosten kalkulieren und so weiter und so fort. Trotz der Kosten ist es im Nachhinein eine der besten Entscheidungen, die ich 2020 getroffen habe. Das Schöne an der Labelarbeit ist, dass ich als jahrelanger Plattenkäufer auch selbst immer weiß, was ich als Konsument an meinen Lieblingslabels mag und was nicht. Die Veröffentlichungen sind nur auf Vinyl erhältlich, wer’s auf Bandcamp kauft oder ein Foto von den gekauften Platten schickt, kriegt die Files dazu, Files alleine gibt’s nicht. Zunächst sind zehn Veröffentlichungen geplant, weiter plane ich erstmal nicht.
Zu vielen DJ-Gigs reichte es im vergangenen Jahr leider nicht, auf Soundcloud veröffentlichst du aber mit recht hoher Frequenz Mixe, die auch mal bis zu drei Stunden lang sind. Welche Funktion haben diese anscheinend anlasslosen Mixe, die du schon vor der Pandemie neben klassischen Online-Mixen für Podcasts angefertigt hast, für dich? Fungieren sie als Tagebuch, bilden sie deine DJ-Workout-Routine ab?
Die Mixe wurden vor langer Zeit, als ich mit Auflegen anfing, geboren, um anderen Leuten meine Mixe zu zeigen. Damals, um das Jahr 2009 herum, als ich noch Bloghouse hörte, habe ich die Mixe noch alle bei Mediafire hochgeladen – Soundcloud war noch nicht sehr verbreitet – und meinen World-Of-Warcraft-Kumpels im Server-eigenen Forum gezeigt, die fanden die Sachen immer gut („Zum Kräuter farmen echt angenehm!“). Irgendwann habe ich das dann regelmäßig gemacht, weniger als Promo-Tool – weil, Mixe gibt’s halt einfach wie Sand am Meer -, sondern mehr, um die Veröffentlichungen, die ich gut finde, in Erinnerung zu behalten und anderen zu zeigen. Nun sind die Mixe eine gute Routine für mich, mir einmal pro Woche Zeit für die aktuellen Veröffentlichungen zu nehmen und die Emails des Promo-Fachs durchzugehen.
Was war die Idee hinter deinem Beitrag für unseren Resident-Podcast?
In dem Mix wollte ich den schmalen Grat schaffen zwischen Zuhause im Homeoffice als #SitzRave hörbar einerseits und als Clubmix für die Zoom-Party mit Freund*innen andererseits. Es sollte zu keinem Zeitpunkt weder zu inferno-clubbig werden, aber auch nicht zu Ppening-Flächen-wabernd. Ich wollte sowohl viele ältere Sachen spielen, die ich während der giglosen Zeit neu entdeckt habe – ich konnte endlich mal alle Cocoon-Compilations von A bis S durchhören! – als auch aktuell erschienene, sowie für mich moderne Klassiker wie die Kelly-Lee-Owens-Platte.
Last but not least: Was sind deine Pläne für die Zukunft?
Je länger die unfreiwillige Gigpause geht, desto mehr genießen ich und insbesondere meine Ohren ehrlich gesagt diese ruhigen Wochenenden. Es ist schön, nach einer Arbeitswoche einfach nach Hause zu kommen und nicht die Plattentasche für Samstag zu packen, aber diese Hektik und Abwechslung fehlt dann doch etwas. Wenn es dann langsam mit dem Auflegen wieder losgehen wird, werde ich weiterhin in der Distillery und anderen Clubs, die mir viel bedeuten, spielen und das Geld der Auftritte in das Label stecken. Insgesamt werde ich aber wahrscheinlich in der Zukunft das DJing etwas herunterfahren. Ich habe, vor Corona, immer mal Geräte und Software zum Produzieren gekauft, das kann ich jetzt benutzen, mal schauen. Das Schöne ist, dass ich keinen Druck habe, irgendetwas zu erbringen, sei es Auflegen, Label oder Produzieren. Wenn ich Lust auf etwas habe, mach ich’s.
Stream: Vincent Neumann – Groove Resident Podcast 14
01. Yung Hurn – Doppel C (Live From Earth)
02. Mammo – Type Null (Nduja)
03. Human Space Machine – Cycle (De Lichting)
04. Kirk Degiorgio – Mass (Applied Rhythm Technology)
05. Kelly Lee Owens – Jeanette (Smalltown Supersound)
06. Dean Grenier – Sweet Dreams (Omnidisc)
07. Benales – Turning Point (Sino)
08. JTC – Sonic Criminal (Killekill)
09. Viers – Oyamusi (Figure)
10. Shcuro – Bassforce (Naive)
11. Cyrus – Inversion (Basic Channel)
12. A. Mochi – Signum (Mote Evolver)
13. Dust-e-1 – Open Sky (DustWORLD)
14. James Welsh – Sink (Phantasy)
15. DJ Lily – Meet The High Priestess (BROR)
16. Gacha Bakradze – Elevate (Horoom)
17. Plant43 – Neon Vista (CPU Records)
18. Steffi x Virginia – Help Me Understand (Ostgut Ton)
19. Ausgang – Hypoxia (Marcel Dettmann Remix) (KEY)
20. Der Dritte Raum – Narkose (Harthouse)
21. Evigt Mörker – Frihet (Northern Electronics)
22. MoMA Ready – Bliss Count (HAUS of ALTR)
23. Odd Lust – Vocation (The Trilogy Tapes)
24. Al Wootton – Snake Dance (Livity Sound)
25. Sun Genam – Signy Hall (Who’s Susan)
26. Artefakt – Delphic (Delsin)
27. Roza Terenzi – That Track (Rewired Mix) (Planet Euphorique)
28. Abstract Division – Modal Realism (Psyk Remix) (Dynamic Reflection)
29. Eric Cloutier – Raxeira (Wolfskuil)
30. Richard Bartz – Subway 7 (Cocoon )
31. Monika Kruse @ Voodooamt – Luvsucka (Tresor)
32. Larionov & St. Theodore – Destruction Wave (Craigie Knows)
33. Pike Perch – Zero Ground (Part One) (Frisbee)
34. Kasper Marott – Mini Trance (Axces)
35. Taupe – Helion (Impress Music)
36. Robert Hood – A System Of Mirrors (Rekids)
37. Holger Flinsch – Wintermühle (Eruptive)
38. 1-800-Girls – Getting Back To You (Lost Palms)