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Dr. Motte & Westbam: „Die Kultur wird von Corona profitieren” (Teil 2)

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Dr. Motte und Westbam (Sämtliche Fotos: Alexis Waltz)

Im ersten Teil unseren Gesprächs mit Dr. Motte und Westbam anlässlich Mottes 60. Geburtstags am 9. Juli sprachen wir mit den beiden Techno-Vätern über ihre Sets auf Mottes Party und über die Karrieren der DJs, die bis in die 1980er Jahre zurückreichen. Im zweiten Teil geht es um Corona und darum, wie Szene, Gesellschaft und Staat mit der Krise umgehen sollen. Eine Steilvorlage hatte Westbam im Juni im ARD-Magazin Titel, Thesen, Temperamente geliefert. Dort hatte er sich gegen den Appell von Clubbetreiber*innen gewendet, der Staat möge der Szene unter die Arme greifen. Der fürsorgliche Staat bringe nicht die bessere Kultur hervor, hat er dort erklärt: „Punkrock und Rave und alle diese Sachen, das ist immer die Flucht vor dem Staat und nicht der Ruf nach dem Staat.” Motte vertritt da eine entgegengesetzte Meinung. Er geht so weit, dass er Techno als Weltkulturerbe schützen lassen will. Louisa Neitz und Alexis Waltz vom Team der GROOVE blieb da beim Gespräch mit den beiden in den Redaktionsräumen kaum etwas übrig, als sich zurückzulehnen und dem kunst- und staatsphilosophischen Schlagabtausch der beiden Techno-Väter beizuwohnen.

Welche Konsequenzen zieht ihr aus Corona? Du, Motte, hast die Politik aufgefordert, den Clubs in der Krise beizustehen. Westbam, du hast in deinem Interview bei Titel, Thesen, Temperamente eine gegensätzliche Meinung vertreten, für die du angegriffen worden bist.

Westbam: Ja, natürlich. Es wäre blöd, wenn man nur Interviews gäbe, bei denen jeder nickt, gerade zu diesem Thema. Mir wurde zugetragen, was da für Beschimpfungen kamen. Ich habe das nicht verfolgt. Da werde ich bloß noch hämischer. Ich glaube, meine Aussagen kamen so daher, dass die Leute dachten: „Naja, das ist ein saturierter Typ, der hat das alles nicht mehr nötig und kennt die Nöte der Menschen nicht mehr.” Ich fühle mit jedem Einzelnen, der in Probleme gerät, bedauere auch, wenn er den Arbeitsplatz verliert. Auch wenn er Kapitalist ist und einen Club hat. Ich fühle auch mit dem Veranstalter oder dem Clubbesitzer oder mit der Thekenkraft. Das ist das eine. Aber das andere ist, dass die Leute meinen, die Kultur gehe kaputt. Da muss ich sagen: Es kann sein, dass dein Club pleite geht, und dafür werde ich dich bedauern.

Aber? 

Westbam: Aber die Kultur wird gewinnen, das ist mein Glaube. Das wäre nämlich so, als wenn man sagen würde: Wenn die Steppe einmal abbrennt, dann wird da nie wieder etwas wachsen. Das Gegenteil ist richtig. Die Karten werden neu gemischt, und neue Leute bekommen neue Chancen, die sie vielleicht nicht gekriegt hätten. Wenn es die Dinosaurier nicht mehr gibt, dann kommt plötzlich die Ratte, und es entstehen menschliche Zivilisationen.

Wer ist im Berliner Umfeld der Dinosaurier und wer die Ratte? 

Westbam: Ich bin überzeugt: für Clubkultur braucht es zwei Plattenspieler oder zwei Tonquellen, einen Mischer, einen, der gerne Musik macht, ein paar Leute, die gerne tanzen, ein Brett, auf dem man ein paar Drinks abstellen kann, vielleicht noch ein Stroboskop in der Ecke. Und du brauchst einen kleinen Raum – mehr nicht. Wenn sich da irgendwelche Königreiche gebildet haben mit 100 Angestellten, dann wünsche ich ihnen alles Gute. Aber dass die Bedingungen, die ich gerade beschrieben habe, nicht mehr möglich sein werden, das ist völliger Unsinn. Ich denke, dass die Kultur, ehrlich gesagt, nach dieser Sache stärker zurückkommen wird.

„Wenn die Nachfrage – wir sind ja im Kapitalismus – da ist, wollen die Leute tanzen gehen, und irgendjemand stellt in Spandau ein paar CD-Spieler hin. Und dann kommen 200 Leute.”

Westbam

Corona ist also auch eine Chance. 

Westbam: Ich sehe bei meinen Kindern, dass es eine Generation gibt, die den ganzen Spaß an kollektiven Erlebnissen gar nicht mehr so gehabt hat. Die sitzen vor dem Rechner oder treffen sich mal im Park, aber die gehen in keine Clubs mehr und so weiter. So ähnlich, wie man das jetzt sieht, dass noch nie so viele Leute Joggen gegangen sind wie heute. Plötzlich wollen sich alle sich bewegen, weil sie denken, dass sie sich nicht mehr bewegen können. Ich habe noch nie so viele Leute demonstrieren sehen. An jeder Ecke ist eine Demo. Warum? Weil die Leute das Gefühl haben, dass es schwer wird mit dem Demonstrieren. Und plötzlich haben sie das Bedürfnis, dieses demokratische Recht auszuüben. So wird es auch sein, wenn die Leute wieder tanzen gehen können. Und Leute, die das bisher nicht für sich gesehen haben, oder Leute, die das noch nie gesehen haben, werden sich freuen zu tanzen. Und daraus wird eine Renaissance und eine neue Blüte des Nachtlebens entstehen. Das ist meine Prognose.

Dr. Motte: Es kann passieren, dass wir noch zwei Jahre warten müssen, weil die ganzen Clubs und Indoor-Veranstaltungen erst dann aufmachen können, wenn es einen Impfstoff gibt. Wann der verfügbar sein wird, weiß man nicht. Bis dahin wird es ganz viele Insolvenzen und ganz viele Clubschließungen geben. Dann haben Künstler und DJs auch keine Auftrittsmöglichkeiten mehr. Und es ist ja nicht nur das, das betrifft auch die Zulieferbetriebe und alles, was dazu gehört. Das wird sich stark bemerkbar machen, nicht nur in diesem Feld. Insgesamt wird wahrscheinlich jeder dritte Betrieb in Deutschland und auf der Welt insolvent gehen. Das wird die Armut vergrößern. Das heißt, es wird viel weniger Veranstaltungen geben in der Zukunft. Es wird weniger Leute geben, die es sich überhaupt noch leisten können, auf Veranstaltungen zu gehen. Egal was es nun ist, ob es die elektronische Kultur ist –

„Ein Club ist ja nicht einfach nur eine Disko, wo irgendwas passiert.”

Dr. Motte

Westbam: Ganz kurze Zwischenfrage! Auch wenn es jetzt nicht mehr die 1000 Riesenclubs in Berlin gibt – ein paar Turntables oder ein paar CD-Spieler und ein paar Daten-Sticks wird es immer noch geben. Meinst du nicht, dass das vielen kleinen Leuten eine Chance verschafft? Wenn die Nachfrage – wir sind ja im Kapitalismus – da ist, wollen die Leute tanzen gehen, und irgendjemand stellt in Spandau ein paar CD-Spieler hin. Und dann kommen 200 Leute.

Dr. Motte: Ne, ne. Man hat sich ein Unternehmen aufgebaut, man hat einen Ort gefunden. Da hat man Kosten und Pflichten. Du hast dann zum Beispiel auch das Problem, dass du mit DJs und Künstlern zusammenarbeitest, die teilweise bis auf zwei Jahre ausgebucht sind. Du brauchst also sowieso einen Plan und einen Bestandsschutz für die Zukunft, und eine Zukunftssicherheit, damit du das überhaupt umsetzen kannst. Ein Club ist ja nicht einfach nur eine Disko, wo irgendwas passiert. Das Programm wird kuratiert. Da kann ich auch stark mitfühlen. Ich selbst möchte eigentlich auch ohne Corona keinen Club mehr aufmachen müssen. Ich sehe, dass es ultra schwierig ist, über den Eintritt und den Getränkeverkauf die ganzen Kosten und Auflagen zu finanzieren. Da bleibt man Ende nicht viel übrig.

Westbam: Naja, besonders, wenn du Richie Hawtin für 100.000 buchst, und ihm dann noch den Privatjet zahlen musst. Und er vielleicht am Tag davor der Meinung ist, er hat jetzt doch keinen Bock und braucht noch irgendwas anderes. Dann hast du ein Problem.

„Ich glaube, dass jede gute Kunst, von der Höhlenmalerei angefangen, mir etwas von Freiheit und Befreiung erzählt.” 

Westbam

Dr. Motte: Außerdem kann ohne Bestandsschutz sonst was passieren. Das merken wird ja auch. Es kommt irgendein Investor und spielt Golf mit dem Club, und dann ist der einfach weg. Es ist schwierig ohne Nachhaltigkeitskonzept.

Da seid ihr also nicht einer Meinung.

Dr. Motte: Nein, ich sehe es total anders. Wie lange soll denn diese Pause noch gehen? Was soll da alles zugrundegehen? Um Kultur zu entwickeln, brauchen wir das Erleben der Kultur. Und das so oft wie möglich, damit wir uns weiterentwickeln können. 

Westbam: Das finde ich ja toll. Dann sind wir einfach völlig verschiedener Ansicht, was ich übrigens auch sehr gut ertragen kann, was ich auch gut finde. So soll das eigentlich auch sein, dass Leute verschiedene Meinungen haben. 

„Da ist ein Loch in der Straße, ich bezahle das und kann das gegenrechnen.”

Dr. Motte

Dr. Motte: Es kann nicht sein, dass die Polizei eine Wache auf das Festivalgelände stellen will wie letztes Jahr bei der Fusion. Es kann auch nicht sein, dass übergangen wird, was wir für eine Kulturarbeit mit den Clubs machen. Deshalb wollen wir mit Rave The Planet elektronische Tanzmusik-Kultur bei der UNESCO als Kulturerbe anerkennen lassen. Und damit wollen wir letztendlich auch die Anerkennung der Politik und der Behörden bekommen; dass von ganz oben eine Ansage kommt, das zu fördern und die Grundlagen zu verbessern. Das Finanzamt verlangt dann nur noch den niedrigen Mehrwertsteuersatz. Auf der Gewerbe- und Baurecht-Ebene hast du dann nicht mehr den Status von Vergnügungsstätten, sondern du bist eine Kulturstätte. Damit kannst du in Bereiche, wo momentan das Ordnungsamt oder Wirtschaftsamt sagt, dass da schon ein Pornokino oder ein Spielkasino ist und kein Club mehr rein darf. Das kann ja nicht sein. Deshalb gibt es von uns die Ansage: „Wir möchten diese Kultur auch in Zukunft weitermachen.” Dafür brauchen wir aber die Billigung.

Westbam: Wobei ich da mal einhaken müsste. Wenn du mal an deine eigene Jugend denkst, und was du selbst gut fandest, kommst du ja auch aus dem Geniale-Dilettanten-Umfeld und so. Hattest du das Gefühl, dass du dich dahingestellt und gesagt hast: „Der Staat hat uns hierbei zu helfen. Der soll uns die Bedingungen schaffen, wir brauchen Geld von dem Staat.”

Dr. Motte: Deutschland hat so viel Geld, das kannst du dir gar nicht vorstellen, gerade in diesem Augenblick. Gerade wurde erst wieder die Kohleindustrie unterstützt, dann wird die Autoindustrie unterstützt. Es wird unterstützt, unterstützt, unterstützt. Und wo kommt das Geld dann nicht an? Bei der Kultur und beim Bürger.

Max [Westbam, d.Red.] argumentiert mit euren Anfängen als Punks. Punk kann sich nicht vom Staat bezahlen lassen, das wäre absurd.

Dr. Motte: Das kann man nicht vergleichen, die Situation war eine andere. Unsere heutige Zeit ist anders. Das Umfeld war damals so, dass man nicht viel Geld in Berlin brauchte. Man konnte einfach frei leben. Du hast 100 Mark für eine Wohnung bezahlt, ansonsten konntest du machen, was du wolltest. Das ist jetzt anders, weil Berlin nicht mehr Berlin ist. Guck dir an, was hier an der gegenüberliegenden Seite [der Spree an der Holzmarktstraße, d.Red.] los ist. Sozialer Wohnungsbau wird privatisiert. Und die HOWOGE [Berliner Wohnbaugesellschaft, d.Red.] wird auch privatisiert und so weiter. Es geht nicht darum, dass der Bürger oder der Künstler in Deutschland unterstützt wird, sondern immer nur die, die Kartelle haben und sich im Geheimen mit Politikern absprechen. Das ist eigentlich das, was hier passiert.

„Ein Staatskünstler ist ein Sklave des Staates! Das hat mit Freiheit nichts zu tun. Ich möchte nicht, dass der Staat mir meine Windeln wechselt.”

Westbam

Dr. Motte: Noch eine Sache: Es gibt die Untersuchung der Clubcommission. Da steht drin, dass wir eine staatstragende Kultur sind, weil wir jedes Jahr 1,5 Milliarden Euro erzeugen.

Westbam: Und das ist für mich auch eines der großen Probleme! 

Dr. Motte: Wieso? Was ist denn das Problem daran? 

Westbam: Dass ich mich als Künstler jetzt sogar als ein staatstragendes Organ begreifen muss. 

Dr. Motte: Ich zahle Steuern, und nicht zu wenig. Das nervt mich total, was damit alles für eine Scheiße passiert. Ich hätte es lieber, wenn wir das in meinem Feld ausgeben. Ich hätte es lieber, dass ich sage: Da ist ein Loch in der Straße, ich bezahle das und kann das gegenrechnen.

„Es liegt am System, dass unsere Politik nur mit Lobbyisten redet. Die größte Lobby existiert nicht.”

Dr. Motte

Westbam: Okay, den Teil kann ich schon verstehen, wobei das auch ein Unterschied zu früher ist. Früher hat man sich nicht als Steuerzahler gefühlt, der einen Gegenwert haben möchte, sondern dachte, dass man mit dem Staat möglichst wenig zu tun haben will.

Dr. Motte: Wozu sind denn Steuern da? Die sind doch dafür da, dass der Bürger einen Gegenwert kriegt. Deswegen bin ich auch gegen TTIP und CETA und diese ganzen Freihandelsabkommen.

Westbam, du hast gesagt, dass man früher als junge*r Musiker*in zum Staat möglichst viele Distanz herstellen wollte. Der Staat hat sich im besten Fall zurückgehalten.

Westbam: Genau, das glaube ich auch noch universell. Ich möchte nur betonen: Von meinem Staat möchte ich, dass er mich gegen irgendwelche Leute beschützt, die mir Schutzgeld abpressen wollen. Ich möchte Rechtssicherheit haben. Ich möchte eine Infrastruktur haben. Das würde ich auch für mich in Anspruch nehmen. Ich habe gerade einem Künstler bei seiner Examensarbeit geholfen, und da fiel mir auch nochmal auf, was die Problematik des Staatskünstlers ist. Des staatlich geprüften und staatlich unterstützten und finanzierten Künstlers. Jetzt nochmal zu dir, Motte. Ich kann verstehen, dass du ein Misstrauen gegenüber irgendwelchen Kohleindustrien hast, die Lobbyismus machen. Und denen möchtest du entgegensetzen, dass die Clubcommission die Lobbyarbeit für die Clubs macht. Das ist eins zu eins dasselbe.

Was ist falsch am Staatskünstler? 

Dr. Motte: Es liegt am System, dass unsere Politik nur mit Lobbyisten redet. Die größte Lobby existiert ja nicht.

Westbam meinte ja, dass die Kunst und die Musik eigentlich keine Lobby braucht.

Westbam: Das würde ich so vielleicht nicht sagen. 

Dr. Motte: Ne, das tut mir leid. Das ist falsch, das ist echt falsch, weil der Einzelne vor der Politik keine Wirkung hat. Du brauchst eine Lobby, damit du was sagen kannst.

Westbam, sag bitte doch nochmal: Was ist die Problematik des Staatskünstlers?  

Westbam: Ich glaube, dass jede gute Kunst, von der Höhlenmalerei angefangen, mir etwas von Freiheit und und Befreiung erzählt. Und ein Staatskünstler ist ein Sklave des Staates! Das hat meiner Meinung nach mit Freiheit nichts zu tun und deshalb möchte ich mich nicht vom Staat bezahlen lassen. Ich möchte nicht, dass der Staat mir meine Windeln wechselt.

Dr. Motte: Eine Gesellschaft ohne Kultur ist keine Gesellschaft. Dafür werden Steuern auch sehr wohl benutzt, in Konzerthäusern und Opern und so weiter. Deshalb wollen wir von Rave The Planet das Kulturerbe anmelden, damit das gleichermaßen für uns gültig ist. Und damit die Bedingungen geschaffen werden, dass wir entspannt Kunst und Kultur machen können.

Westbam, guck dir Motte an, vielleicht ist er ein guter Staatskünstler? 

Westbam: Ja, das passt doch auch. 

Dr. Motte: Nein, ich bin ein Anarchist, das sage ich dir. Ich finde es aber richtig, das anzugehen, weil Steuern nicht nur für Kartelle da sind, ganz im Gegenteil. 

Westbam: Aber ganz ehrlich, ich bin auch null böse. Ich habe meinen Punkt, aber ich finde deinen auch interessant und gut. Ich weiß ja auch, wo der Motte herkommt.

Im dritten Teil unseres Gesprächs zwischen Dr. Motte und Westbam geht es um die Loveparade. Wie war es möglich, mitten in Berlin eine Party mit 1,5 Millionen Menschen zu feiern und nicht einen Euro Miete zu zahlen?

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