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Dr. Motte & Westbam: „Ich glaube nicht an den Fortschritt in der Kunst” (Teil 1)

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Dr. Motte und Westbam (Sämtliche Fotos: Alexis Waltz)

Egal, ob man Dr. Motte und Westbam liebt oder hasst: Aus der Techno-Geschichte sind sie nicht wegzudenken. Westbam produzierte mit „Monkey Say, Monkey Do” 1988 einen der ersten deutschen House-Tracks, Dr. Motte gründete 1989 in der Berliner Techno-Ursuppe die Loveparade. Innerhalb von wenigen Jahren wurde aus dem Umzug mit 150 Raver*innen ein gigantischer Rave mit 1,5 Millionen Besucher*innen, die die gesamte Berliner Innenstadt um die Straße des 17. Juni überrollten. Westbam ist Mottes partner in crime: Er produzierte mit ihm und einer Reihe von Gästen die Loveparade-Hymnen „Sunshine” oder „Music is the key”. 

Zwischen Motte und Westbam gibt es auch noch eine tiefere Verbindung: Sie gehörten zu den wenigen Akteur*innen der Szene, die Techno zu einer Massenkultur machen wollten, die nicht zwischen cool oder uncool unterschieden. Motte lud die Welt nach Berlin ein, um mit ihm zu tanzen, Westbam veranstaltete mit der Mayday einen der großen Raves der neunziger Jahre. Mit seinem Label Low Spirit vermarktete er Techno mithilfe der traditionellen Musikindustrie, von der sich viele Techno-Aktivist*innen absetzen wollten, an ein Massenpublikum.

Die Szene interpretierte die Aktivitäten der beiden als Ausverkauf und bestrafte sie mit der Verbannung aus Szene-Clubs und -Festivals. Weiter machen sie trotzdem: Dr. Motte versucht mit dem Projekt Rave the Planet eine neue Loveparade aus dem Boden zu stampfen, bei Westbam steht die Veröffentlichung eines neuen Albums an. GROOVE-Mitarbeiter*innen Louisa Neitz und Alexis Waltz luden Dr. Motte und Westbam zu Mottes 60. Geburtstag am 9. Juli in unsere Kreuzberger Redaktion ein. Ersterer holte eine Flasche einer für ihn etikettierten Limonade aus seiner unverzichtbaren Aktentasche – und Westbam überraschte mit Bibelzitaten. Lest hier den ersten Teil des Gesprächs – Teil 2 und 3 erscheinen in den nächsten Tagen.

Ihr feiert am Samstag Matthias’ 60. Geburtstag. Was spielt ihr da? Max, was ist dein Geburtstagsständchen für Matthias und Matthias, mit welchem Set begehst du diesen denkwürdigen Tag in den Gärten der Welt in Berlin-Marzahn?

Westbam: Ich weiß, dass Motte Matthias heißt, aber ich habe ihn in meinem Leben noch nicht mit Matthias angesprochen. Never call a street player by his real name.

Es gibt auch Künstler*innen, deren Umfeld sie mit ihrem echten Namen anspricht, Solomun zum Beispiel. 

Westbam: Bei mir kommt es darauf an. Mein Bruder sagt immer West oder Westbam zu mir. Ich sag auch zu Motte immer nur Motte. Ich werde manchmal schon auch Max genannt.

Dr. Motte: Mir schreibst du immer Motterich.

Westbam: Ja, mein Motterich. Ich habe ja auch schon eine Radiosendung zu Ehren von Mottes 60. Geburtstag gemacht. Da habe ich ein Gedicht geschrieben: Mein Motterich, mein Motterich wird sechzig.

Nennt dich deine Familie auch Motte? Oder Matthias?

Dr. Motte: Alle sagen Motte. Das ist schon mindestens seit 1979 mein Spitzname. Um zu der Frage zurück zu kommen: Was hast du denn für ein Geburtstagsständchen?

Westbam: Naja, mein Motterich, mein Motterich. In der Radiosendung hatte der Motterich einen Musikwunsch frei und hat sich „Acid Tracks” von Phuture gewünscht. Ich habe mir die Sendung gestern angehört, und es sind leider nur drei Minuten von „Acid Tracks” dabei, dann war die Sendung schon wieder vorbei. Aber der Gedanke zählt, wie man so schön sagt.

Westbam, du bist ja nicht nur Schriftsteller, Geistesmensch und Philosoph, sondern auch DJ. Wir als Techno-Magazin wollen natürlich wissen, was du für Motte am Samstag spielst.

Westbam: Ich habe das Set schon aufgenommen. Aber ganz ehrlich, das weiß ich gar nicht mehr so genau, irgendwas Spezielles.

Dr. Motte: Du hast nur eigene Tracks gespielt, oder?

Westbam: Ich spiele heutzutage nur noch eigene Tracks. Das ist meine persönliche Evolution. Ich habe schon meine erste Platte 1985 dafür gemacht, dass ich als DJ meine eigenen Sachen spielen kann. Das war damals noch ein eher ungewöhnlicher Gedanke. Die Demo meiner ersten Platte hat zwei Wochen gedauert, die Produktion hat zwei Wochen gedauert, der Edit hat zwei Wochen gedauert, die Anpressung hat zwei Monate gedauert. Dann war da irgendwas falsch, dann kam die nächste Anpressung. Nach einem halben Jahr hattest du dann fünf Minuten Musik, die du spielen konntest. 

„Ich will mich eigentlich nicht wiederholen, ich will immer nur Bomben haben. Die können ja immer nur einmal explodieren.”

Dr. Motte

Das ist heute völlig anders. 

Westbam: Ich glaube nicht an den Fortschritt in der Kunst, aber an den Fortschritt in der Technik. Den gibt es eben. Der hat dazu geführt, dass man jetzt unheimlich schnell Musik machen kann. Auch die Grenze zwischen fremder und eigener Musik lässt sich leichter auflösen, was meiner Meinung nach eine wirklich schöne Sache an DJ-Musik ist. Auch wenn ich mir mal einen Download hole von irgendjemanden. Dann mache ich auch immer noch was damit, bis nicht mehr klar ist, ob es ein Lied von mir ist oder von jemand anderem. Ich war nie der tolle Plattenkäufer. Ich hatte musikalisch immer gute Ideen, aber wenn ich mir etwas im Plattenladen aussuche, komme ich immer auf zu diverse Sachen. 

Was gefällt dir? 

Dieses und jenes. Da kann mein Set etwas zu weit gefächert sein, und mit meinen eigenen, begrenzten musikalischen Mitteln prozessiert, wird das dann was Eigenes. Oder ich merke, dass das bei den Leuten besser ankommt, wenn ich so spiele. Ich bin erst jetzt, nach Jahrzehnten, dahin gekommen, ein Set zu finden, das mich reflektiert. Dazu muss ich auch sagen: Im Metropol [Dort fanden im Berlin der später achtziger Jahre die ersten House-Partys statt, Westbam war dort Resident. Die Aut.] habe ich das ja noch mit zwei Copys gemacht, zum Beispiel mit zwei Dead-Or-Alive-Platten. Ich habe nur zwei Minuten laufen lassen und dann den Anfang hin- und hergemischt, dass da nur dieser Bass-Beat lief. Also: Auch 1984 gab’s da schon solche Sachen, aber die Technik ist mir dann später sehr entgegengekommen. Ich erwähne das nur, weil so viele Leute sagen, dass man nicht die Loop-Funktion benutzen soll, weil es alles so sein muss wie mit Plattenspielern früher. Aber Loop-Funktionen wollte ich mit Plattenspielern früher machen, auch wenn das ein riesen Kraftaufwand war. Ich finde das toll, dass man das jetzt alles so leicht machen kann.

Und du Motte, wie gehst du dein Set an?

Dr. Motte: Ich bin eigentlich schon immer ein Vinyl-Junkie gewesen. Ich hab 1974 wie ein Bekloppter Jazz gekauft, bis Punk Jazz abgelöst hat, dann Schwarze Musik. 

Westbam: Echt, 1974 hast du dir schon Platten gekauft? Wahnsinn. Da warst du echt früher dran als ich.

Dr. Motte: Da gab es in Spandau das Musicland. Das war damals fünf Minuten von mir. Da habe ich da mein ganzes Taschengeld hingeschleppt und das bisschen Geld, das ich mir durch Ferienjobs verdient habe. Später war ich überall in Berlin unterwegs und habe Platten gekauft. Ich war süchtig nach Musik. Und dann spielte ich irgendwann in einer Band. Da habe ich ein Schlagzeug von meiner Mutter geschenkt bekommen. 

Westbam: Eine Mutter, die ein Schlagzeug kauft, ist allerdings auch tapfer. 

Dr. Motte: Wenn ich ein Instrument lernen will, dann kauft sie mir das, meinte sie. 

Der Bezirk Spandau steht in Berlin nicht gerade für Subkultur. 

Dr. Motte: Ich war angeschlossen an die ganze Welt, weil wir da einen französischen, eine amerikanischen und einen britischen Sender hatten, und da konnte man alles hören. Die DDR war auch nebenan. Das war ein ganz anderes Radio-Gefühl. Ich habe mich da nicht wirklich isoliert gefühlt, es war eher das Gegenteil. Aber wenn Max sagt, er spielt eigentlich nur Sachen, die er selbst gemacht hat, dann bin ich eigentlich genau das Gegenteil. Ich hab nur Musik von anderen gespielt. Und das ist natürlich ein anderer Ansatz, weil ich mich an guter Musik von anderen erfreue. Ich bin auch einer, der das macht, wie das früher die DJs im Dschungel [maßgeblicher Club im Berlin der 1980er, d. Aut.] gemacht haben: Man ist dort nämlich hingegangen und hat nur zwei Stunden laute Musik gehört am Donnerstag oder Sonntag. Du hast dieses eine Stück nur einmal gehört und dann nie wieder. Das war schon ziemlich geil. Das ist etwas, das mich bis heute verfolgt. Ich will mich eigentlich nicht wiederholen, ich will immer nur Bomben haben. Die können ja immer nur einmal explodieren. 

„Ich glaube, dass alle genauso wie ich eine extreme Sehnsucht haben, wieder mal laut Musik zu hören. Das ist so das, was ich als Kultur der elektronischen Tanzmusik oder des Techno verstehe. Ich will es spüren, mein Körper will das spüren, und das habe ich gerade nicht.”

Dr. Motte

Das ist ein guter Punkt. Richie Hawtin sagt, das er überhaupt keine alte Musik spielt. Wenn er ein altes Stück spielen würde, würde er nur den Moment wiederholen, in dem er es damals hätte spielen können, als es rauskam.

Dr. Motte: Das war für mich bei Techno auch von Anfang an so, auch bei der Entdeckung von Acid House. Das ist dann nicht so romantisch. Wenn man sich mit Stücken, die man kennt, zuhause fühlen will, dann kommt man nicht zu Techno. Das machen dann eher meine Eltern. Die tanzen zu bekannten Stücken, aber ich will eigentlich nur das Unbekannte und neue Dimensionen entdecken. Eher so der Star Trekker bin ich da. 

Wie setzt du das heute, bei deinem sechzigsten Geburtstag, konkret um? 

Dr. Motte: Das habe ich mal ein bisschen anders gemacht. Da habe ich die letzten zwei Jahre eingedampft.

Und was ist da passiert, in den letzten zwei Jahren?

Dr. Motte: Naja, langsam werde ich auch wieder schneller. Ich bin immer unter 130 bpm gewesen und merkte, es zeckt mich mehr, wenn es schneller ist. Das können jetzt ruhig auch mal 134 oder 136 bpm sein. Und es muss auch immer eine ordentliche Bassdrum geben, die sich ein wenig wie eine schamanische Trommel anhört. Oben drauf geht’s dann ab. Die hohen Frequenzen schleppen uns dann in eine andere Dimension. Und ich mag es, wenn die Musik so energetisch und so rhythmisch ist, dass man nicht anders kann, als dazu zu tanzen. So würde es auch Hans Cousto [Autor u. a. von Die kosmische Oktave: Der Weg zum universellen Einklang, d. Red] erklären. Wir als Techno-Wahnsinnige wollen eigentlich auf den Wellen reiten oder in Harmonie ergehen.

Westbam: Da kommen wir jetzt wieder auf das Om. (lacht)  

Dr. Motte: Naja, alles ist in Schwingungen, das ist ja der Stand der Wissenschaft. (putzt sich die Nase)

Wie erlebt ihr denn die gegenwärtige Situation? Was habt ihr in den letzten Monaten gemacht, als ihr nicht auftreten konntet? 

Dr. Motte: Ich finde die gegenwärtige Situation unerträglich. Also nicht nur für mich, sondern für alle, weil im Augenblick alles stillsteht. Es gibt im Veranstaltungsbereich, ob es nun ein Festival oder ein Club ist, keine Aussichten, wie es weitergehen soll. Momentan ist es auch so, dass zum Beispiel in der Schweiz ein bisschen gelockert wurde, sich die Leute im ersten Club infiziert haben und alles wieder runter gebrochen ist. Aber wenigstens hat man sich da mal was getraut. Ich glaube, dass alle, genauso wie ich, eine extreme Sehnsucht haben, wieder mal laut Musik zu hören. Das ist so das, was ich als Kultur der elektronischen Tanzmusik oder des Techno verstehe. Ich will es spüren, mein Körper will das spüren, und das habe ich gerade nicht.

Ich produziere aber mittlerweile auch sehr leise Musik.

Westbam

Und was hast du stattdessen gespürt? 

Dr. Motte: Nichts. Ich fand es am Anfang noch sehr interessant, diese Ruhe und die klare Luft in der Stadt. Die ersten Monate war ja wunderbares Wetter. Diese Ruhe mochte ich, im Wedding ist es ja schon ziemlich laut. Da war einen Monat lang jeden Tag Sonntag, das fand ich schon ganz gut. Aber jetzt reicht es auch wieder, weil wir jetzt wieder weitermachen wollen. Ich kann es gar nicht erwarten, dass es endlich wieder losgeht. Jetzt habe ich keine Aussichten – und ich habe auch keine Einnahmen. Alle haben keine Einnahmen. 

Westbam: Keine Aussicht, keine Einnahme, poetisch sehr schön. 

Dr. Motte: Also: Keine Aussichten, dass es irgendwann wieder weitergeht. Das Einzige, was mich jetzt so ein bisschen führt, ist das, was wir mit Rave The Planet machen. Wir machen nämlich Instant Raves. Da haben wir wenigstens Kontakt mit den Künstlern. Das ist draußen in der Mall of Berlin, da machen die ihre Aufnahmen. Da ist es wenigstens ein bisschen laut.

Und was hast du die ganze Zeit gemacht, Max? 

Westbam: Theoretisch könnte man laute Musik hören. Ich produziere aber mittlerweile auch sehr leise Musik, das reicht mir vollständig. Das gehört zu einer artgerechten Haltung, glaube ich. Kollektive Musik ist eher das DJing; dass du Musik mit anderen Leuten zusammen hörst. Das ist ja eine der grundsätzlichen DJ-Erfahrungen. Du hörst Musik mit anderen Leuten anders, als wenn du sie nur alleine hörst. Der größere Teil war für mich sowieso immer das Musikmachen. Die ganzen neunziger Jahre hindurch habe ich im Studio gelebt. Mittlerweile mache ich sogar noch mehr Musik als früher.

Wie hat sich deine Arbeitsweise über die Jahre und Jahrzehnte verändert? 

Westbam: Leute sagen mir immer, dass ich noch dieses Keyboard oder jenen Synthesizer brauche. Ich möchte nichts, was über den Laptop hinausgeht. Den Laptop kann ich ins Bett mitnehmen, an den Küchentisch mitnehmen oder in einer Wartehalle aufklappen. Damit kann ich überall Musik machen. Kopfhörer auf und los geht es. Da schließe ich mir noch nicht mal eine Bassbox an, das mache ich alles mit den Kopfhörern.

Was ist daran anders als bei der Arbeit im Studio?

Westbam: Ich empfinde das als sehr befreiend. Das mache ich seit Jahren jeden Tag. Gigs habe ich ja in der Regel ein- oder zweimal die Woche. Du kommst vielleicht eine Stunde vorher und bleibst maximal bis eine Stunde nach dem Gig. Meistens spielt man heutzutage auch nicht viel länger als zwei Stunden. Das heißt: da fehlen eigentlich diese vier Stunden Cluberfahrung pro Woche. Und es fehlen auch die zehn Stunden reisen. Und das genieße ich sehr, weil ich reisen eigentlich hasse. Ich mag es an vielen verschiedenen Orten zu sein, ich hasse es bloß, dahin zu kommen.

Lest im zweiten Teil des Gesprächs wie Dr. Motte und Westbam zur Coronakrise stehen und wie die Szene und der Staat diese in ihren Augen bewältigen sollte.

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