Cleveland – Gamma (Kalahari Oyster Cult)
Will man für diese EP einen Genrebegriff finden, müsste es sicherlich Deconstructed Club Music mit einer Vapor-Wave-Soundästhetik im Dreamhouse-Breakbeat-Gewand sein. Piezos Remix-Beats verharren in einem Zustand, als würde man eine 1990er-Jahre-Jungle-Platte, die eigentlich auf 45 Umdrehungen pro Minute laufen sollte, auf 33 abspielen. Deshalb zerlege ich den Remix gleich in der Ableton Live DAW, erhöhe die Geschwindigkeit auf 135 BPM und transponiere den Tune um +8. Dadurch entsteht aber auch kein klassischer Jungle. Denn überall eiern verzogen verhallte Soundharmonie-Fetzen herum. Und die sich überschlagenden Synth-Bleeps erzeugen ein Gefühl von Radioheads „Packt Like Sardines In a Crushed Tin Box” im Bastard-Pop-Deep-House-Remix von SM auf Guilty im Jahr 2002. Vielleicht könnte man die gesamte Platte wie folgt beschreiben: Die Glitches, das Geblubber, das dissonante Verschrobene und Kratzen, das bei Radiohead leise im Hintergrund lief, läuft bei Cleveland und den beiden Remixern Piezo und Beta Librae laut im Vordergrund. Letztere Version überzeugt mit einer synkopierten Kick, Türenknarzen und beengenden U-Boot-Echolot-Klängen. Das Original des italienischen Luxemburgers Cleveland alias Andrea Mancini, der in Brüssel lebt und auf dem einflussreichen Amsterdamer Internetradio Red Light seine reguläre Radioshow bestreitet, frischt als abgespeckte aber verspulte Fused & Bruised-Label-Erinnerung den Big-Beat-Nebenschauplatz im UK-Breakbeat-Revival wieder etwas auf. Dort macht „Ora”, wenn auch digital sauber, ziemlich deep als Referenz an die zweite Generation der Happy-Hardcore-Fangemeinde um das Jahr 2000 weiter. Während die Kick Kraftwerks Trans-Europa-Express-Groove am Hörer wesentlich schneller als in den 1970er Jahren vorbei jagt. Nach 20-maligem Durchhören aller Nummern entsteht nach anfänglicher Orientierungslosigkeit eine seltsam stimmige und gute Atmosphäre. Mirko Hecktor
EOD – Zone (bbbbbb)
Neues von Reykjavíks Pracht-Label! Nach Kollege Volruptus veröffentlicht nun auch EOD seine neue EP Zone. Die fünf Tracks sind in ihrer Anlage sehr verschieden. Während der Beginn „From the 1st Sound” als kleine D’n’B-Ballade daherkommt, endet das Ganze mit „Mule” in einem andächtigen Orgelstück. Was sich allerdings als roter Faden durchzieht, ist der generelle Vibe. Alles ist nämlich konsequent synthetisch und erinnert an manchen Stellen auch mal an die Klangästhetik alter Jump’n’Run-Games. Es bleibt dabei allerdings immer, auch wegen der präzisen und knackigen Drums, extrem partytauglich. Der Mann forciert ja schließlich auch eine Art des Electros, wo der Sound hin und wieder auf der äußersten Bratzigkeits-Grenze balancieren darf und muss. Sehr schön ist deshalb aber eben auch das futuristische „Emper”. Hier wird nämlich bewiesen, dass ein paar sensiblere Elemente nicht immer den rohen und treibenden Drive behindern müssen – sie machen alles einfach nur spannender! Lucas Hösel
Juan MacLean – Manthony (Correspondant)
Mit der Manthony erscheint dieser Tage das Debüt von Juan MacLean auf Correspondant. Eigentlich erstaunlich. Schließlich wirken die Produktionen des einstigen Six-Finger-Satellite-Gitarristen, in denen die Schnittmenge von House und Techno sich nicht als Tech-House, sondern als Disco-Update ergibt, schon seit jeher wie eine klingende Manifestation des ausgeprägten Profils von Jennifer Cardinis richtungweisendem Label. Mit vier neuen Tracks wandelt Maclean auch auf den Spuren von Patrick Cowley, am ausgeprägtesten im Titelstück der EP, das ravige Sirenensounds, eine Acidline, unerbittliche Drums und Conga-Sounds zu einem zwingenden Dancefloor-Tune von hypnotischer Wirkung zusammenschweißt. „Bufomania” und „In A Minute” spitzen die Verbindung von Synthesizer-Klängen und mechanischen Beats in Richtung Neo-Trance zu, einmal mit euphorischer, einmal mit sinister dräuender Tendenz. Der heimliche Hit ist aber „She’s Breaking Up”: Hierfür hat MacLean statt Langzeit-Gesangspartnerin Nancy Whang die zu Beginn der Zehnerjahre mit Sascha Funke als Saschienne in Erscheinung getretene Julienne Dessagne alias Fantastic Twins ins Studio gebeten. Deren übereinander geschichtete Vocals legen dem Track eine immersive Spannung an – eine ausgesprochen fesselnde, suggestive Altstimme, die auch beim Dark-Wave-inspirierten Italo-Disco-Act Kirlian Camera eine gute Figur abgegeben hätte. Harry Schmidt
Hörproben gibt’s bei den einschlägigen Stores.
Otik – Thousand Year Stare (Gobstopper)
Der in London lebende Produzent Otik ist in den letzten Jahren auf einer ganzen Reihe namhafter Labels zugange gewesen, so etwa auf Dext, Keysound oder Nous. Obwohl man ihm nicht zu unrecht gerne den Bass-Music-Stempel aufdrückt, fühlt sich der Mann in einer ganzen Reihe anderer Genres wohl. Das Spektrum reicht von UK Garage bis Dub Techno. Zweifellos hat Otik schon zuvor gute Tracks gemacht, aber was er da seit Anfang dieses Jahres raushaut, ist absolut bemerkenswert. Die Wetlands EP auf InterGraded ließ einen schon denken: ‘Hoppla, der Otik ist inzwischen ja auf einem ganz anderen Level’. Doch nun ist auf Gobstopper Records, dem Label von Mr. Mitch, das bisherige Meisterstück des in Bristol aufgewachsenen Engländers erschienen. Auf den vier Tracks der EP 1000 Year Stare spielt er in einer ganz eigenen Liga. Eine zentrale Rolle kommt auf seiner neuen Platte das in Bristol traditionell fest verankerte Soundsystem-Erbe jamaikanischer Herkunft zu. Der Titeltrack „1000 Year Stare” wird dabei ein wenig konkreter. Wie Otik hier das Thema Breakbeat interpretiert, lässt einen an Smith & Mighty und ihr 3 Stripe Soundsystem denken, so zirka 1990/91, darüber Sound-Texturen zwischen Ambient Techno und Shoegaze. Jeder einzelne Track auf dieser EP ist großartig, eine besondere Würdigung verdient aber „Ghost Mole” – hier werden die frühen Shut Up & Dance, Roska-Elemente und Partikel aus Juke oder Electro gespalten, isoliert und schließlich zu etwas irre Gutem zusammengefügt. Holger Klein
Zenker Brothers – Mad System (Ilian Tape)
Wer sich und seinen Nachbarn in Zeiten von Shutdown-Langeweile einen Gefallen tun will, ballert mit der Bluetooth-Box aus dem offenen Fenster und bläst dem ollen Typen von gegenüber die Deutschlandflagge vom Balkon. Scheiß auf Andrea Berg, Munition gibt’s von den Zenker Brothers. Mit Mad System feuern Dario und Marco Zenker aus allen Ilian-Tape-Rohren, bevor sie sich im „Bengel Mode” hinter Brutalismus-Beats und Truncate-Gedächtnisstampfer flüchten, den „Chi Boost” zünden und zwischen übersteuertem 21-Uhr-Geklatsche die Hantelbank ins Freie drücken. Links, zwo, drei, vier Armlängen Abstand – wenn’s drinnen verboten ist, pumpt man eben unter freiem Himmel und eiert neben Parkbänken zu Techno aus der Dose rum. Dabei ist „Outside” der Anti-Titel zur aktuellen Lage, eine Ode ans Rausgehen, an die ersten Sonnenstrahlen nach sieben Stunden Dunkelheit oder der Laberflash mit Tränengarantie. Hoffen wir mal, dass wir das Ding bald mal im Club zu hören bekommen. Bis dahin hustet man zu Hause in die Kniekehle, zockt Mario Kart auf dem Uralt-Nintendo und donnert zu „Shaketown” über den Regenbogen-Boulevard. Christoph Benkeser