Auch in Zeiten des Coronavirus erscheinen Alben am laufenden Band. Da die Übersicht behalten zu wollen und die passenden Langspieler für die Isolation zu küren, wird zum Fulltime-Job. Ein Glück, dass unser Fulltime-Job die Musik ist. Zum Ende jedes Monats stellt die Groove-Redaktion Alben der vergangenen vier Wochen vor, die unserer Meinung nach relevant waren. Im dritten Teil des März-Rückblicks mit Nazar, Pantha du Prince, Sleeparchive und sechs weiteren Künstler*innen – wie immer in alphabetischer Reihenfolge. Hier geht’s zu Teil 1, hier zu Teil 2.
Nazar – Guerilla (Hyperdub)
Es ist Krieg. Zwar nicht hier und auch nicht in der Nähe. Mindestens aber in zwei Dutzend Ländern rund um den Globus, die wir viel zu oft gedankenlos als „Dritte Welt” bezeichnen: Kamerun, Kongo, Mali, Nigeria, Irak, Libyen, Syrien, Jemen und bis 2002 auch in Angola, wo seit Mitte der 70er ein verstörender und gegenwärtig lediglich pausierter Bürgerkrieg wütete – die Apokalypse wurde hier schon mehrmals Realität. Der 26-jährige Nazar erlebte diesen Konflikt als Kind hautnah mit, bevor er mit seiner Familie nach Belgien floh und dort seine Jugend verbrachte. Immer wieder kehrte er seitdem ins Heimatland zurück, besuchte mit seinem Vater Orte, die kaum vorstellbare Grausamkeiten sahen und 2006 in dessen Kriegstagebuch Memorias De Um Guerrilheiro festgehalten wurden. Mittels musikalischer Verarbeitung versuchte Nazar, seinen eigenen Erinnerungen und denen seiner Mitmenschen ihre Grausamkeit zu nehmen und sie gleichzeitig für andere erlebbar zu machen, die von all dem keine Notiz nahmen. Auf dem jetzt auf Hyperdub veröffentlichten Debütalbum Guerrilla gelingt ihm das mit einer ebenso vehementen wie spielerischen Kreativität, die von Kuduro über Post-Industrial bis Deconstructed Club und Spoken Word alle Einflüsse aus seiner neuen Wahlheimat Manchester mit den Wurzeln in Angola verbindet. Schon die EP Enclave von 2018 geriet durch diese Hybridisierung zu einem der bis dato härtesten Hyperdub-Releases überhaupt. Maximal abgedrehte angolanische Rhythmen, scharfzackige One-Shots und allerlei Klänge aus Kriegsgebieten treffen nun in erneut düsteren Szenarien aufeinander. Chaos und Gewalt sind durch das Schleifen rostiger Klingen, das klickende Nachladen einer heißgelaufenen AK-47, durch Schüsse, Schreie und brutale Glitches in Tracks wie „Diverted”, „UN Sanctions” oder dem wahnsinnigen „Arms Deal” allgegenwärtig. Doch macht sich bei „Bunker”, dem Feature mit Shannen SP, genau wie im bekloppt hicksenden „Immortal” auch die verdrillte Psyche der vom Krieg gezeichneten Menschen bemerkbar, die entweder nach Erlösung oder Rache dürsten. Schräge Melodien schneiden sich dabei in eine mechanische Tonalität, mit der man sich vielleicht zunächst etwas anfreunden muss. Dann aber ist Guerrilla ein pulsierender Trip ins Herz der Finsternis, für den es keine Rückfahrkarte gibt. Nils Schlechtriemen
Nicolas Jaar – Cenizas (Other People)
Nicolas Jaar treibt die Spaltung seiner Künstlerpersona unbeirrt voran. Unter dem Alias A.A.L. veröffentlichte er im Februar sein zweites reines Dance-Music-Album, das erneut zwischen Sample-intensivem Deep House und Melodie-affiner Freigeistigkeit pendelt und gesammelte Werke aus den letzten Jahren vorstellt. Unter Klarnamen serviert des ewige Wunderkind der elektronischen Musik hingegen kaum noch Tanzbares, verschreibt sich konsequent und mitunter fast schon dogmatisch der Avantgarde. Cenizas – zu Deutsch: Überreste; Asche – heißt das nächste Epos, das auf dem eigenen Label Other People erscheint. Das Album entstand zwischen 2017 und 2019, was angesichts seines zeitlosen – oder viel mehr: zeitabgewandten – Sounds allerdings nur eine Randnotiz bleibt. Jaar verschmilzt erneut mal mehr, mal weniger einnehmend analoge und digitale Klangerzeuger; Blasinstrumente prozessiert er, die Hauptimpulse und Fundamente der Stücke – Tracks wäre ob der dargebotenen Gravitas wohl eine zu profane Bezeichnung – gehen wie üblich vom Klavier aus. „Gocce” kombiniert diese Elemente als Jaar-artigste Skizze der LP in eindrücklicher wie erwartbarer Form. Der düstere Popsong „Mud” im Anschluss wirft einmal mehr die Frage auf, wer sich gegenseitig stärker beeinflusste: José González mit seinem Projekt Junip oder eben Jaar selbst. Wie auch Space Is Only Noise, der Durchbruch von 2011, oder das überragende Sirens von 2016 hört sich Cenizas abermals an wie aus einem Guss. Der beschrittene Weg hin zu eingängigen Melodien ist dieses Mal vielleicht noch einen Tick steiniger – die Vorabsingle „Sunder” mit Sprechstück („A Coin In Nine Hands” vom Vorgänger lässt grüßen) verdeutlicht das. Genauso übrigens wie die wehmütigen Choräle auf „Hello, Chain” oder die etwas langatmige, abermalige Liaison von Trompete und Klavier auf „Rubble”. Cenizas präsentiert sich durch und durch als ein Werk der inneren Einkehr, als 54-minütiger Spannungsabfall nach der Feuersbrunst, greift in gewohnt bilingualer Manier die Motivik des Vergänglichen auf und ist, trotz der mitunter etwas schwülstigen Elemente, ein absolut gelungenes Album. Ach ja: Zum Schluss gibt’s mit „Faith Made Of Silk” übrigens sogar noch den lange vermiedenen veritablen Song mit Drumming. Maximilian Fritz
Pantha Du Prince – Conference of Trees (Modern)
Wenn Bäume zusammenkommen, hört sich das zwar nicht ganz so musikalisch an (Wurzeln wachsen, Blätter rascheln, ein Specht klopft vielleicht), in dieser Interpretation von Pantha du Prince jedoch bekommt man das Gefühl, sich in die Musik gewordene Konversation der Natur eingeklinkt zu haben. Eingeklammert von zwei elegisch-langgezogenen Ambient-Stücken, erschafft der Produzent mit viel Vorsicht und Fingerspitzengefühl eine Welt, in der die Zeit nur ganz langsam zu vergehen scheint – so wie sie die namensgebenden Bäume in ihrer Konferenz wahrscheinlich wahrnehmen. Mit zerbrechlichen Rhythmen und ganz viel organischer Percussion, die zwar ihrem Ursprung nach gesampled und dennoch von Fernost inspiriert scheint, baut Hendrik Weber ein Album voller kleiner Überraschungen und Tracks, die zwar langsame Beats tragen, die aber keinesfalls den Dancefloor im Blick haben. Wie ein Teppich aus Moos wächst dieses Album vor sich hin, lädt zum Verweilen und Picknicken ein, wie ein erfrischendes Nickerchen unter dem schützenden Blätterdach. Und wenn es zum hinteren Drittel hinaus dann doch etwas doller sein darf, dann wirkt das, als bekämen wir einen exklusiven Einblick in das, was auf der Lichtung passiert, wenn eigentlich keine Menschen anwesend sind. Wer also der Jahreszeit entsprechend ein Defizit an Waldspaziergängen beklagt, dem sei als Gegenmittel dieser akustische Ausflug ins Unterholz ans Herz gelegt. Und allen Freunden cleverer, bis ins Detail ausproduzierter Electronica sowieso. Leopold Hutter
Portable – The Transit Of Mercury (Khoikhoi)
Der Südafrikaner Alan Abrahams alias Portable, auch bekannt als Bodycode, lebt seit geraumer Zeit in Europa und veröffentlichte in den letzten 20 Jahren auf Labels wie Dial, !K7, Perlon, Live At Robert Johnson oder Ghostly International. Er zählt zu den Musikproduzent*Innen, die den anhaltenden polyrhythmischen Afro-Elektronik-Hype seit zehn Jahren mitgeprägt haben. Sein neues Album wird von einer digital bereinigten und statisch komprimierten Kickdrum geprägt. Es überzeugt allerdings auch mit stimmigen Plug-In-Clustern. Auf der einen Seite steht da eine tontechnisch weichgespülte, harmonische, Riot-artige Paranoia-Madness. Auf der anderen eine liebliche Watte-Post-Deep-House-Wohlfühl-Analogie („Take My Heart”) zu Acid-Pop-Hits wie „The Sun Can’t Compare” von Larry Heard & Mr. White erreichten wenige Alben im letzten Jahrzehnt. „Climb” entfacht diese unterschwellige Aggro-Haltung gegen alles und vor allem sich selbst, die den Partyabend möglicherweise mit einer Zahnlücke versüßt. Die Sehnsucht nach dem gut gelaunten Leichtigkeits-Sprung rücklings vom obersten Stockwerk jedes x-beliebigen Wolkenkratzers im Sommersonnenuntergang gibt dir „Said It All”. Hinter dir, vor dir im freien Fall leuchten flitzend-feuernde Bürofenster die Landebahn deiner Endlichkeit aus („This Passing Moment”). Vielleicht wird die Platte deshalb sogar unfreiwillig politisch, auf alle Fälle tragisch („You Hacked Me”). Ob das Album mit dem Johannes-Kepler-Titel-Verweis explizit afrofuturistische Züge in sich trägt, die Hörer*in für sich selbst entscheiden. Mirko Hecktor
RDG – Planetary Sound Fiction (Circle Vision)
Ruben Dag Nielsen alias RDG hat in den letzten zehn Jahren mehr als fünfundzwanzig EPs veröffentlicht, aber ein Album gab es vom Kopenhagener bisher nicht. Ergo markiert Planetary Sound Fiction sein Longplayer-Debüt. Die große Überschrift lautet natürlich auch hier wie auf seinen Maxis „Dub”. Dafür steht RDG, aber auch für Verschmelzen und Über-den-Tellerrand-Blicken: Jungle- und Drum’n’Bass-, Techno-, Experimental- und Leftfield-Einflüsse sind allgegenwärtig, wirken aber nicht beliebig kombiniert oder wahllos zusammengebastelt, sondern ergeben in der Summe einen echten Emergenzeffekt – das berühmte Mehr der einzelnen Teile. Dabei heben sich Instrumentalstücke wie „Be You” oder „A Number” besonders ab vom dominierenden Elektronik-Dub-Konsens. Hier setzt Nielsen seiner Kreativität noch weniger Grenzen als in seinen Gesangstracks. Gerade seine Fähigkeit, bekannte Stilmittel dosiert und in geschickten Kombinationen einzusetzen und dabei immer eine gewisse Beschränkung auf das Nötigste im Blick zu haben, zeichnet seine Produktionen aus. Nielsen will nicht überwältigen und setzt den Bass nicht als Betäubungsmittel ein – manche Tracks wirken für Dubverhältnisse geradezu enthaltsam in Sachen Tieffrequenzen. Das hat nicht nur seinen Reiz, sondern ist auch klug, weil dadurch Raum gelassen wird für Überraschungen und bewusstes Wahrnehmen von Sound-Ideen und dramaturgisch gezielt platzierten Tiefbass-Schwingungen. Mathias Schaffhäuser
Red Robin – Nice Drama (Slythm)
Am Anfang von Red Robins Debüt stehen ein paar Grußworte an seinen verstorbenen Vater Ulrich. Bis es dann wirklich beginnt, dauert es noch etwas. Nun gut. Die erste Nummer, „Grassid Samurais”, ist ein dubbig-experimenteller Zehnminüter, der wenig darüber verrät, was uns auf Nice Drama erwarten mag. Eine entspannte Bassline schleicht sich bald in die gespannten Ohren. Frühlingsfrisches Vogelzwitschern wuselt sich ein (vielleicht das süße Rotkehlchen vom sehr hübschen Cover), vereinzelte quirky Sounds und Speech-Samples erklingen. Der funkige House-Track „Firlefunk” spinnt einen humorigen roten Faden. Vom heiteren Vorgänger geht es in den düsteren „Affreux” mit stumpfem Beat, verträumten Melodien und Film-Samples. „Clyde” beschwört mit feinem Bass-Sound und Saxophon-Sample einen entspannten 1980s/90s-Vibe. Und das wären auch schon die Hauptzutaten für dieses leckere Süppchen. Nach einem Interlude geht’s zu „Ashamed & Alone”, ein bisschen Downtempo, Trip-Hop. Und wieder zurück zum Gute-Laune-Funk. Nice Drama ist ein liebevoll arrangiertes Album mit gesunden melancholischen Zwischentönen – macht generell Laune. Lutz Vössing
Session Victim – Needledrop (Night Time Stories)
Frühling 2020. Die Welt steht Kopf und ertrinkt in Hysterie, während im Wald nach wie vor alles seine Zeit, seinen Ort hat. Nichts bleibt hier, aber nichts ist verloren. Alles ist im Fluss. Wem das Tohuwabohu dieser Tage also zu viel wird, dem schenken Hauke Freer und Matthias Reiling ein Album zum Abschalten in der Natur, für die immer viel zu kurzen Abende mit Freunden, irgendwo am See, auf einer Wiese, zwischen Bäumen. Needledrop zeigt das Duo Session Victim in herrlich ausgeruhter Form, aber auch so intuitiv herumspielend wie noch nie. Vom sonst ohnehin schon dichten Deep House der beiden werden behutsam ein paar BPM subtrahiert, die Produktion in Grasnoten gebadet und an den stilistischen Wäscheleinen zwischen Downtempo, Trip-Hop und Jazz-affinem Sampling in den Wind gehangen. Sowieso: Die Samples! Einige live während diverser Sessions eingespielt, andere aus Plattensammlungen und der 90er-Grabbelkiste entwendet, bei denen sich jetzt 20 Jahre später deutlicher denn je zeigt, wie geil das damals einfach alles schon klang. Nightmares On Wax, DJ Shadow, Herbaliser, Saint Etienne, Portishead, Air – solche Namen fallen im Promotext und versprechen nicht zu viel. Das geht schon im Opener „Bad Weather Mates” los: Delikate Soul-Loops über zartem Bass, ein beschwingtes Säuseln in warmen Klangfarben, harmonische Akzente flirren und funkeln – plötzlich ist es wieder Freitagnachmittag ’96, tiefe Zufriedenheit macht sich breit und die Sonne spendiert eine üppige Dopamindusche. „Made Me Fly” featured die bezirzenden Vocals von Beth Hirsch (ja, die Stimme aus „All I Need” von Air) zu einem zurückgelehnten Kontrabassbeat und luftigen Melodien, die dem Titel alle Ehre machen. In Tracks wie dem passend benannten „Jazzbeat 7” oder „Waller And Pierce” zeigt sich dann wieder, dass Session Victim zu jenen kreativen Köpfen zählen, die Instrumente wieder als Sampler und Sampler als Instrumente begreifen. Ihre „Isle Of Taste” haben die zwei ohne Frage gefunden, „Still High” vom lustvollen „Glimmer” eines unwahrscheinlich geschmackvollen Soundtracks für den nahenden Sommer. Nils Schlechtriemen
Sleeparchive – Trust (Tresor)
Merkwürdiger Titel für eine Techno-Platte, aber: Roger Semsroth alias Sleeparchive ist immer und vollends zu vertrauen. Insgesamt öffnet sich der Berliner mit Trust dem industriellen Großraum und findet daher mit Tresor das passende Label (auf dem er ja schon seit geraumer Zeit veröffentlicht). Die ersten beiden Tracks „Needle” und „Glass” zeigen, was Sleeparchive meisterhaft beherrscht: wenige Loops so zu setzen, bis sie sich ineinander bis zur Op-, in diesem Fall also Audio-Art verwickeln. Während „Needle” industriell schnaubt und kratzt und faucht, clonkt „Glass” sehr elegant dahin. „Concrete” geht dann doch einen dezidierten Schritt ins Schranzige: Stampf-Beat und gestauchte Samples treffen auf Stoizismus und rennen gegen Wände. Auch im Titelstück sowie in den Tracks „Peccant” und „Fence” wird der Rost von den Rohren gerubbelt. Wie gut also, dass es zwischendrin immer wieder Luft zum Atmen gibt: „Dust” in vielerlei Grautönen lebt von den Räumen zwischen den Schlägen, „Leave” wirkt beinahe frühlingshaft in seinen hohen Sinusfrequenzen, während der „Loop 2” sich als effektives Hypnose-Tool erweist. Ceci n’est pas un purisme. Christoph Braun
Volruptus – First Contact (bbbbbb)
Musik des Electro-Genres ist ja oftmals mit einem gewissen retro-futuristischen Charme behaftet, der Erinnerung also an eine eine Zukunft, die mal gewesen hätte sein können – im allerschlimmsten Fall eine wertkonservative Zukunftsidee. Ganz anders sieht das – zum Glück – bei der Musik des Isländers Volruptus aus. Nach seinem Debütalbum auf dem eigenen Label Sweaty Records sowie drei folgenden EPs auf Bjarkis bbbbbb und Nina Kraviz’ трип legt der mit seinem zweiten Album First Contact nun sein bisheriges Meisterwerk vor. Electro mag hier zwar die Basis sein, nach hinten gewandt ist hier jedoch gar nichts. Stattdessen gibt es Next-Level-Electronic, die aus zahlreichen Quellen schöpft, sei es Techno und Psytrance, Rephlex’scher Braindance, Breakbeat und Jungle oder eben Electro. Das Ganze ergibt eine Melange voller Überraschungen, avantgardistisch in Produktion und Sounddesign, ohne dabei die Tanzfläche aus dem Auge zu verlieren. Humor und Ironie blitzen währenddessen in Tracktiteln wie „Top 10 BIZZARE Discoveries Science STILL Can’t Explain” oder „Chicxulub Space Rock”auf. Überhaupt ist das komplette Album von Beginn bis Ende ein einziger Spaß, zum Zuhören wie zum Tanzen. Chapeau, Herr Volruptus, das hier ist auf jeden Fall ein großes Ding. Tim Lorenz