Bergsonist – Middle Ouest (Optimo Music)
Clubmusik war eigentlich immer schon eine diskursive Angelegenheit. Neben dem in den neunziger Jahren vorherrschenden Verständnis, dass Tanzen zum geraden Beat vor allem die Befreiung des Körpers und das Aufgehen des Individuums in der Menge mit sich bringe, gab es immer auch Versuche, mit Beats und Klängen obendrauf und untendrunter mehr zu machen, als die Leute einfach in Bewegung zu versetzen. In den neuen Zwanzigern finden solche Ideen anscheinend immer mehr Anklang. So wird man von DJs und Produzenten zunehmend mit anderen auf der Tanzfläche zusammengeführt, um zu sich selbst zu kommen, sich zu ermächtigen – oder zumindest die eine oder andere Frage mit auf den Weg gegeben zu bekommen.
Selwa Abd alias Bergsonist trägt ihren diskursiven Ansatz sichtbar im Namen. Mit ihrer Selbstbezeichnung als „Bergsonistin“ verweist sie auf den französischen Philosophen Gilles Deleuze und dessen ganz eigene Fortschreibung der Lebensphilosophie seines Kollegen Henri Bergson. Schon ihr Debütalbum From Dualism to Monism von 2017 nennt im Titel zwei konkurrierende philosophische Positionen zum Verhältnis von Geist und Materie. Die in Marokko geborene New Yorker Produzentin versteht sich zudem, in der Tradition von Steve Goodmans Buch Sonic Warfare, mit ihrem Musikmachen als Aktivistin, die Sonic Weapons für den Club liefert. Teilhabe am Unbehagen in der Kultur als gemeinschaftsstiftende Erfahrung, wenn man so möchte.
„Heutige Produzent*innen reflektieren dabei anscheinend mehr als ihre Kolleg*innen in den neunziger Jahren die körperlichen Folgen ihres Tuns: „Otology“ mit seinen hallend-metallischen Melodiefetzen in Drexciya-Manier führt die Ohrenheilkunde vorsorglich im Titel.”
Etwaige Bedenken, dass die vielen Vocals von der Musik ablenken oder sie zur unbedeutenden Hintergrundangelegenheit machen, können vorsorglich zerstreut werden. Bergsonists aktuelles Album Middle Ouest vermag ohne jegliches Vor- oder Zusatzwissen zu begeistern – allein schon durch die Wahl und Vielfalt der souverän angeeigneten Stile. Im Titeltrack beschränkt sie sich auf mutmaßlich nordafrikanische Perkussion, macht damit ein überzeugendes Statement für die direkte körperliche Wirkung von polyrhythmischen Beats auf Basis akustischer Instrumente. In „Amazon Snake Charming“ kombiniert sie elegant Tablaklänge mit elektronischem Knirschen und einer sanft sirenenartigen Zweitonmelodie. An anderer Stelle setzt sie den Beat brutaler und geradliniger ein, lässt in „La Rave“ sogar tranceartig irisierendes Analogblubbern auf introspektiven weiblichen Gesang treffen. Heutige Produzent*innen reflektieren dabei anscheinend mehr als ihre Kolleg*innen in den neunziger Jahren die körperlichen Folgen ihres Tuns: „Otology“ mit seinen hallend-metallischen Melodiefetzen in Drexciya-Manier führt die Ohrenheilkunde vorsorglich im Titel.
Selbst zum derzeit durch die Klimaprotestbewegungen wieder im Aufschwung begriffenen Antinatalismus hat Bergsonist einen Track beigesteuert: „Don’t Have Babies, Global Warming Will Kill Them“. Womit sie ein Beispiel dafür liefert, dass man bei Musikern nicht zwangsläufig jede ihrer Botschaften teilen muss, um ihre Musik mögen zu können. Der gurgelnd brachiale Beat, in den sie nach und nach filigranere rhythmische Elemente integriert, erfüllt seinen Zweck jedenfalls ganz unabhängig davon, ob man auf Kinder verzichten will oder nicht. (Frage am Rand: Wäre es nicht konsequenter, sich gleich selbst umzubringen, statt die Frage des ökologischen Fußabdrucks auf die folgende Generation abzuwälzen? Ist keine Handlungsempfehlung.)
Bergsonist macht mit Middle Ouest zuallererst ein Statement für – stilistische – Pluralität. Ihr Plädoyer überzeugt auf voller Länge. Kontrovers debattieren kann man dann ja immer noch. Tim Caspar Boehme