Kitjen-Boss Igor Tipura (Alle Fotos: Pilvi Möhrle)
Am Anfang war der Club. Dort erstand die Party. Dann kam das Label. So ließe sich die Genesis des Stuttgarter Imprints Kitjen im Kurzdurchlauf erzählen. Doch Labelbetreiber Igor Tipura hält nichts von Hektik und geht die Sache lieber entspannt an: Lediglich neun Releases stehen nach fünf Jahren zu Buche – auf die Plattenteller kommt hier nur, was dem Küchenchef selbst hervorragend mundet.
Betreiber: Igor Tipura
Gründung: 2015
Stil: Clubmusik, Synth-House, Nu-Disco, Experimental
Künstler: Tambien, Shit Robot, Fantastic Man, Hotel Lauer, Suzanne Kraft, S-F-X, Beesmunt Soundsystem, Stijn Sadée
Größter Hit des Labels: Fantastic Man – „Galactic Ecstasy“
Das Spannende an Stuttgart ist, dass es kompakt sei und nicht so viel Auswahl biete, findet Igor Tipura: „Dadurch sind die Leute gezwungen, selbst kreativ zu werden.“ Ende 2011 eröffnete in den Räumlichkeiten eines ehemaligen Chinarestaurants in der Stuttgarter Innenstadt der temporäre Club KimTimJim seine Pforten, Zielgruppe war ein musikinteressiertes, reiferes Publikum an der Schnittstelle von Neo-Disco, Deep House, Electro-Pop und urbanen Techno-Sounds. Geöffnet war nur samstags, in der einstigen Küche befand sich die Raucherlounge, in der Mitte des Raums stand noch eine Batterie alter Gasherde. Als Tipura begann, in diesem intimen Rahmen donnerstags kleine, aber feine Partys zu organisieren, war der Name Kitjen in Anlehnung an die Initialen des Clubs geboren.
„Nicht allzu viel Geld mit dem Label zu verlieren, war so was wie das vorrangige ökonomische Planziel.“
Das Glück währte nicht allzu lange: Bereits Anfang 2012 musste das KimTimJim wieder schließen, der Gedanke einer Labelgründung lag da noch in weiter Ferne. Erst 2015 und etliche Locations später, darunter die Bar Romantica, wo sich die Partyreihe mit Gästen wie Ata, Gerd Janson und Palms Trax als Fixpunkt im Stuttgarter Nachtleben fest etablierte, schlug mit einer Maxi von Hotel Lauer (Jacob und Phillip Lauer) die Geburtsstunde der Ein-Mann-Schallplattenfirma. „Ich mach das jetzt mal,“, lautete die Maxime der Stunde, „ohne allerdings genau zu wissen, wie das geht“, sagt Tipura, der 2007 für ein Studium der Medienwirtschaft von Nürnberg in die schwäbische Landeshauptstadt gezogen war. Unterstützung kam von Kontakten, die er durch das Booking für die Partyreihe geknüpft hatte, insbesondere von Albrecht Wassersleben (Uncanny Valley) und den Jungs vom Münchner Plattenladen Public Possession. Auch wenn Tipura später mit einer Bachelorarbeit über die quantitative und qualitative Analyse kleiner Schallplattenfirmen sein Studium abschließen wird („Das hätte ich mal besser vor der Labelgründung gemacht“), stand der Start weniger unter den Vorzeichen eines Masterplans als vielmehr unter der Devise learning by doing. Dennoch meint Tipura im Rückblick: „Kein Hexenwerk!“ Andererseits habe er auch nie große Erwartungen gehegt: „Nicht allzu viel Geld damit zu verlieren, war so was wie das vorrangige ökonomische Planziel.“
Musikalisch spiegelt das Profil von Kitjen zu einhundert Prozent den Geschmack seines Betreibers, im weiten Feld zwischen Synth-House und Nu-Disco. Tipura nennt es einfach „Clubmusik“. Als DJ habe er ursprünglich HipHop aufgelegt – Mos Def, DJ Hi-Tek, Rawkus-Platten fanden sich in den schweren Cases der 90er-Jahre. Mittlerweile legt auch Tipura hauptsächlich digital auf. Alle Kitjen-Tracks sind via Bandcamp verfügbar – für kleine Labels sieht er darin den idealen Vertriebskanal. Dennoch ist ihm der physikalische Tonträger nach wie vor ein Anliegen: Bislang wurden sämtliche Releases auch als Vinyl veröffentlicht. Üblicherweise liegen die Auflagen im Bereich von 500 Kopien, Spitzenreiter ist die KITJEN 005 von Fantastic Man (Galactic Ecstasy) mit über 1000 Exemplaren – nach Verkaufszahlen der bis dato größte Hit des Labels. Wichtiger als der ökonomische, sprich quantitative Erfolg sind Tipura aber andere Faktoren, eben die qualitativen Aspekte einer Veröffentlichung, die sich weniger in Stückzahlen als in Aufmerksamkeit niederschlagen: „Erst später ist mir klar geworden, was eigentlich am meisten Spaß macht an so einem Label: Du bekommst Musik von jemandem, Artwork von wem anders, bringst das passend zusammen auf dieses physische Format, wo sich noch mal Leute um das Mastering und den Schnitt kümmern, damit die Pressung gut klingt – und dann steht so eine Platte auch in einem Laden in Japan. Das fühlt sich einfach sinnvoll an.“
Erstaunlich niedrig ist die Frequenz im Release-Schedule. Aber dass in fünf Jahren lediglich acht EPs erschienen sind, ist keine künstliche Verknappung, sondern ist einerseits den verfügbaren Ressourcen („Ich mache alles allein“) und andererseits dem bereits erwähnten Qualitätskriterium geschuldet („Ich würde nie eine Platte veröffentlichen, nur damit was erschienen ist – ich muss schon komplett davon überzeugt und begeistert sein, damit ich etwas rausbringe“). Nachdem sich Kitjen noch bis vor kurzem komplett auf Clubmusik-EPs beschränkt hatte, hat Tipura 2019 mit einem Album von S-F-X (Stefan Haag alias Chinaski) neue Wege jenseits des Dancefloors beschritten: „Was mir daran sofort gefallen hat, war die durchgängige Stimmung“ der teilweise auch sehr kurzen Tracks – „so eine Art samplebasiertes japanisches Horrormovie-Ding.“
„Alles, was Selbstvermarktung angeht, ist für mich die Hölle, darin bin ich unfassbar schlecht – das sollen andere machen.“
Auf die visuelle Identität hat er von Anfang an Wert gelegt: Mit Ausnahme des S-F-X-Albums, dessen Artwork von Michael Sattler stammt, DJ und Graphiker des Robert Johnson, der auch den Kontakt zu Haag hergestellt hatte, ist mit Manuel Bürger ein Grafikdesigner für alle Kitjen-Cover verantwortlich, der zu den renommiertesten Experten seines Fachs zählt (Transmediale, Volksbühne Berlin, Deutscher Pavillon für die Architektur-Biennale Venedig 2020 zusammen mit Team 2038). Auch in Sachen Mastering vertraut Tipura seit dem fünften Release mit Stefan Eichinger alias Lopazz auf einen anerkannten Fachmann. Geschnitten wird bei SST in Frankfurt. Ansonsten übernimmt der 37-Jährige so gut wie alle Rollen bei Kitjen selbst – vom Küchenchef bis zum Kellner, um im gastronomischen Bild zu bleiben. Ein festes Domizil für die Partys hat er derzeit nicht. Das siebenjährige Bestehen der Reihe wurde im Club Rakete im Theater Rampe am Marienplatz gefeiert, Tipura wohnt dort gleich um die Ecke. Größte Kitjen-Veranstaltung derzeit ist der jährliche Rave für die Jungen Freunde der Staatsgalerie: In diesem Jahr waren unter dem Motto „Disco Tiepolo“ Perel (DFA) und Technobeton (Bordello A Parigi) im Sterling-Bau zu Gast – die Strapazen des Abends stecken Tipura noch spürbar in den Knochen.
Klar bekomme er auch Demos, aber meist entscheide sich rasch, dass sie nicht zum Label passen. Allerdings verdanke er die EP von Beesmunt Soundsystem einer solchen Bewerbung. Überwiegend stammten die veröffentlichten Einsendungen jedoch von befreundeten oder ihm persönlich bekannten Acts, erzählt Tipura. Der produziert auch selbst „mit ganz geringem Output“ – neben „Dwams“ auf Unknown To The Unknown entstanden bislang lediglich zwei Remixe, einer für Bunkr auf Love On The Rocks und einer für Skatebård & Lauer, ebenfalls auf UTTU. Aber auf dem eigenen Label veröffentlichen will er auf keinen Fall: „Alles, was Selbstvermarktung angeht, ist für mich die Hölle, darin bin ich unfassbar schlecht – das sollen andere machen.“ Dem Jahr 2020 sieht er in Sachen Kitjen entspannt entgegen: Konkret sei jedenfalls noch nichts geplant, sagt Tipura und lächelt. In der Ruhe liegt die Kraft.
Drei wichtige Kitjen-Platten
Hotel Lauer – The Lauhman Brothers (KITJEN 001)
Initialzündung und Türöffner zugleich für Kitjen war die EP The Lauhman Brothers. „Ich war und bin ein großer Lauer-Fan“, erklärt Tipura, wie es zum ersten Release kam. Nachdem Phillip Lauer bereits auf einigen seiner Partys aufgelegt hatte und man sich dabei auch menschlich bestens verstanden hatte, traf Tipuras Anfrage auf offene Ohren. Umgekehrt war Tipura hocherfreut, dass die beiden Tracks, die ihn daraufhin erreichten, auf das Konto von Hotel Lauer gingen, gehörte doch Brudis, die auf Live At Robert Johnson erschienene Debüt-EP von Jacob und Phillip Lauer, zu seinen damaligen Favoriten. „Aggas“ besticht als „HiNRG-Sommerhit“, so Tipura, mit Neo-Trance-Einschlag. „Stollice“ schlägt genauso wie die A-Seite ein, bringt aber eher Italo-Flair auf den Plattenteller. „Fast klassischer Lauer-Sound, vielleicht ein bisschen schmutziger als gewohnt“, meint der Chefkoch. Bürgers Artwork kombiniert dazu Drucksachen und Funde aus mehreren Kontinenten, vorwiegend Fernöstliches, mit eigenen Zeichnungen.
Suzanne Kraft – DJ Safety (KITJEN 004)
Die EP von Suzanne Kraft ist das Ergebnis einer nächtlichen E-Mail-Korrespondenz zwischen Tipura und Diego Herrera. Begeistert von einem Boiler-Room-Mix des Produzenten, erfuhr der Kitjen-Betreiber, dass es sich um komplett unveröffentlichtes Material handelte. Herrera schickte fünf Tracks, Tipura wählte zwei aus, der Mexikaner den dritten – innerhalb von zwei Stunden „war die Sache gegessen“. Zu hören sind drei Jams für besondere Momente. „Eine meiner Lieblingsplatten. Wahnsinn, wirklich abgefahren!“, findet Tipura. Die Rückseite zeigt die Reproduktion eines Fake-News-Tweets, der die aus Los Angeles stammende DJ Alison Swing, auch im Salon zur wilden Renate zugange, als Suzanne Kraft ausgibt.
Fantastic Man – Galactic Ecstasy (KITJEN 005)
Unter quantitativen Aspekten die erfolgreichste Platte des Labels. Auch den Producer aus Melbourne habe er als Fan kontaktiert, so Tipura. Noch immer bekomme er hervorragendes Feedback zu der 2016 erschienen 3-Track-EP, die von DJs wie John Talabot hoch und runter gespielt wurde. Jeder der Tunes beleuchtet Acid aus einem anderen Blickwinkel und gewinnt dem klassischen Thema eine andere frische Perspektive ab: der Titeltrack im epischen New-Age-Gewand, „Acid Martin“ an der Schnittstelle von Manuel Göttsching und Nu Groove, „Legoman“ mit luftig-leicht dahineilendem UK-Breakbeat-Feel. Mit der im September 2019 erschienenen Solar Surfing-EP, der jüngsten Veröffentlichung des Stuttgarter Labels, ist Fantastic Man der erste Act mit zwei Kitjen-Relases in seiner Diskografie.