(

Foto: Chris Phillips (Porn by Pornceptual – 6 Years, Berlin).

)

Techno, Sex, Kunst und eine Kampfansage gegen verstaubte Tabus – sexpositive Raves avancieren vom queeren Underground-Phänomen zu einer neuen Säule der Clubkultur. Der Darkroom der Pornceptual auf dem diesjährigen Melt-Festival markiert dabei 2019 ein neues Level der wachsenden Popularisierung sexpositiver Partys. 

Die blauschwarzen Augen der riesigen Vulva linsen unter ihrer braunen Lockenmähne hervor, hin zu ihrem Gegenüber: Ein Penis samt Hoden, mit stechendem Blick und einer Haarpracht aus Blättern und Ästen. Das Trio wird von einem Anus komplettiert, der gemeinsam mit Vulva und Penis einen Torbogen zwischen zwei Bäumen formt. Dahinter ein Freiluft-Labyrinth aus Bauzäunen, vor neugierigen Blicken durch Camouflage-Netze geschützt.

Wer Vulva, Penis und Anus passiert, hat einen konkreten Wunsch: Sex. Mal allein, mal zu zweit oder zu zehnt. Es ist ein Darkroom unter freiem Himmel, eine Cruising-Area für sexuelle Spielgefährt*innen. Ein Novum auf dem Melt 2019 in Ferropolis, der eisernen Festivalstadt im sachsen-anhaltischen Gräfenhainichen. Und in dieser Form auch ein Novum für das Berliner Kunstprojekt Pornceptual, das mit der Gestaltung dieses Terrains eine neue Evolutionsstufe sexpositiver Raves sichtbar gemacht hat.

Pro Sex – Contra Sexismus

Foto: Melt Festival (Performance @ Secret Garden of Porn Stage)

Der Begriff „sexpositiv“ hat sich im Bereich der Clubkultur erst im vergangenen Jahrzehnt etabliert. Über dreißig Jahre zuvor prägte ihn eine US-amerikanische feministische Bewegung, die sich gegen die These, Pornografie sei per se Ausdruck der sexuellen Kontrolle des Patriarchats, positionierte und eine neue Ära der Freiheit weiblicher Sexualität und der feministischen Pornografie einleiten wollte – pro Sex, contra Sexismus. In dieser Tradition stehen auch die heutigen sexpositiven Raves. Die wichtigste Regel: Nein heißt Nein, persönliche Grenzen werden ohne Nachfrage akzeptiert und respektiert.

Sex ist überall erlaubt und erwünscht. Wer dezente Beleuchtung bevorzugt, kann im schummrigen Darkroom auf Tuchfühlung gehen. Wer keine Lust auf den Weg dorthin hat, kann einfach auf dem Dancefloor vögeln. Und wer sich einfach nur von Musik, Kunst und Atmosphäre inspirieren lassen will, kann das ohne nerviges Anbaggern tun. Sexpositive Partys sind also keine klassischen Sex- oder Swingerpartys. Es geht um Selbstverwirklichung, sexuelle Freiheit und den Wunsch nach Safe Spaces ohne Hass und Diskriminierung,. Gleichzeitig geht es um die ästhetische und kunstvolle Würdigung der Sexualität.

Sexpositive Raves auf Erfolgskurs

Foto: Chris Phillips (Porn by Pornceptual – 6 Years, Berlin)

So wollen die beiden Pornceptual-Gründer*innen Raquel Fedato und Chris Phillips durch eine künstlerische Auseinandersetzung mit Sexualität und Pornografie sexuelle Selbstbestimmung abseits der durch Genderstereotype geprägten Norm vermitteln – queer, divers und feministisch. 2011 startete der Kunstblog Pornceptual mit dem selbsterklärten Ziel, bei möglichst vielen Menschen die Vorstellung von Pornografie neu zu definieren und deren Einstellung Sexualität gegenüber zu öffnen. Zwei Jahre danach brachten Raquel und Chris ihre Botschaft mit Performances, Installationen und elektronischer Musik von der Virtualität des Internets in die Realität der Berliner Clubkultur: Sie starten ihre sexpositive Veranstaltungsreihe Pornceptual. Heute, sechs Jahre später, ist diese Veranstaltung einer der etabliertesten sexpositiven Raves in Deutschland.

Während manche sexpositiven Partys auf ein konkretes Label verzichten, sprechen andere explizit ein queeres Publikum an, richten sich vor allem an die Fetisch- und BDSM-Community oder setzen einen bestimmten Dresscode in den Fokus. Diese Vielfalt sexpositiver Partys existiert noch nicht allzu lang: Nach Wegbereitern wie dem Berghain oder dem KitKatClub, war Pornceptual bei der Gründung 2013 eine der ersten sexpositiven Clubveranstaltungen in Berlin, die sich klar von herkömmlichen Sexpartys abgrenzen wollte. Auch als sich 2015 das sexpositive Veranstaltungskollektiv poly|motion, ebenfalls in Berlin, gründete, war das Konzept der sexpositiven Party unter Feiernden wie Veranstalter*innen weitgehend unbekannt. Mittlerweile haben sich sexpositive Partys in den Berliner Clubs und auch darüber hinaus etabliert: In Hamburg gesellten sich in diesem Jahr gleich zwei neue sexpositive Veranstaltungsreihen zu der erst 2018 gestarteten Kinky Sundays. In Leipzig geht im Dezember die sexpositive Vertigo nach einer dreijährigen Pause wieder an den Start.

FKK – ein kultureller Vorteil? 

Foto: Chris Phillips (Porn by Pornceptual – 6 Years, Berlin)

Auch wenn sich mittlerweile auch in anderen Städten Deutschlands sexpositive Partys verbreiten, konzentriert sich die Szene, wie so oft, auf Berlin. Das liege zum einen an der historisch gewachsenen, vielfältigen Clubkultur der Stadt, vermuten Raquel Fedato und Chris Philips. Einen weiteren Faktor sehen sie in der besonders in den neuen Bundesländern verbreiteten Freikörperkultur. Nacktheit sei in Deutschland allgemein weniger tabuisiert, sexualisiert und vor allem kriminalisiert als in den meisten anderen Ländern. 

Chris berichtet von einer unangenehmen Erfahrung mit der britischen Gesetzgebung: „Die Polizei kam auf unsere Veranstaltung und beschwerte sich, dass wir keine ‚Lizenz für Nacktheit‘ hatten. Man könnte denken, London sei eine offene, tolerante Metropole, aber dem ist nicht so. In Berlin würde das niemals passieren.” Die Offenheit der FKK in Deutschland würde Menschen dabei helfen, ihren eigenen Körper zu akzeptieren und andere Körper weniger zu bewerten, vermutet Chris – eine gute Voraussetzung, um zementierte gesellschaftliche Tabus zu brechen und auf sexpositiven Partys eigene Hemmschwellen zu überwinden. 

Subkultur meets Mainstream

Trotz der steigenden Beliebtheit sexpositiver Partys erscheint die diesjährige Kooperation von Pornceptual und Melt zunächst außergewöhnlich: Auf der einen Seite ein subkulturelles Kunstprojekt, das in der Berliner Technokultur zuhause ist. Auf der anderen Seite ein kommerzielles Festival mit 20.000 Gästen, das von einer Agentur organisiert wird, die auch die populären Festivals splash!, Full Force und Lollapalooza veranstaltet. Das Melt wartet stets mit einem namhaften Line-up auf, von Bilderbuch über Modeselektor und Solomun bis hin zu Honey Dijon und Charlotte de Witte.

Doch eben diese Differenz macht die Kooperation für Raquel Fedato und Chris Phillips so interessant. Sie wollen ihre Idee nicht in der Berliner Techno-Bubble konservieren und veranstalten ihre sexpositiven Raves gezielt in unterschiedlichen Städten und Ländern. „Wir könnten nicht behaupten, unser Konzept und unsere Einstellung verbreiten zu wollen, wenn wir damit nicht auch die Menschen erreichen wollen, die bisher noch keinen Bezug zu unseren Veranstaltungen hatten“, erklärt Raquel. Der Melt-Floor sei vor allem ein Showcase gewesen, um den Melt-Besucher*innen durch erotische Performances, Musik der Residents und die Visualisierung kunstvoller Pornographie die Botschaft von Pornceptual zu vermitteln.

Foto: Melt Festival (Drag-Performerin Olympia Bukkakis @ Secret Garden of Porn Stage)

Vonseiten des Melt passt diese Kooperation ins Konzept: Unter dem Motto „No Borders“ wurde dieses Jahr ein besonderer Schwerpunkt auf Diversität gelegt. Das Line-up erscheint hinsichtlich Gender und Herkunft der Künstler*innen ausgewogen, mit einem von einem Drag-Kollektiv gehosteten Floor und einer Voguing-Show wurde ein Teil queerer Kultur sichtbar gemacht.

Awareness: Essenz der guten Atmosphäre

In den letzten Jahrzehnten war Sex auf Raves und in Darkrooms vor allem Teil der marginalisierten queeren Clubkultur, erklärt Chris Phillips: „Menschen, die auf herkömmlichen Partys ständig Vorurteile und Diskriminierung erfahren, brauchen einen sicheren Raum – einfach nur, um sie selbst sein zu können und ihre Sexualität offen auszuleben.“ Dieser Raum der sexuellen Freiheit für alle Identitäten, Vorlieben und Fetische soll auch auf einer sexpositiven Party entstehen. Ju Thomas war in der ersten Hälfte dieses Jahres der sogenannte Darkroom-Beauftragte für die erste sexpositive Party Hamburgs, der Kinky Sundays im PAL. Für ihn zeigt sich diese Selbstverwirklichung auch in der Kleidung: „Wenn ich mich freizügig und fetischmäßig anziehe, falle ich damit nicht auf – ich werde auf so einer Party nicht wie im Alltag angegafft.“

Damit sich alle Besucher*innen so wohl wie möglich fühlen, ist ein ausgefeiltes Awareness-Konzept besonders für sexpositiven Partys unerlässlich. Das Kollektiv poly|motion ist im Berliner ://about blank zuhause und veranstaltet dort seit vier Jahren sexpositive Partys. Dino ist von Anfang an dabei. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit im Kollektiv ist die Awareness auf den Veranstaltungen – also die Aufmerksamkeit für Situationen, in denen die Grenzen einer Person überschritten werden. Das übergeordnete Ziel von Awareness ist, dass sich alle Menschen unabhängig von Geschlecht, sexueller Identität, Hautfarbe, Herkunft, Aussehen und körperlichen Fähigkeiten beim Feiern möglichst wohl, frei und sicher fühlen können. 

„Wir wollen eine gute Atmosphäre schaffen – in einem Party-Kontext, in dem es ja oft schwierige Situationen gibt“, erzählt er. Zwei Mitarbeiter*innen sind als Awareness-Team zu jeder Zeit im Club unterwegs, halten nach kritischen Situationen Ausschau, um bei Bedarf zu intervenieren, und sind ansprechbar für Menschen, die sich unwohl fühlen, diskriminiert oder belästigt wurden. Die Verhaltensregeln für die Gäste basieren vor allem auf gegenseitigem Respekt und hängen sichtbar im Club aus. Dino weiß: „Wir können keinen vollständigen Safe Space schaffen, weil wir auf einer Party im Club nicht die Kontrolle über das Verhalten der Leute haben können. Aber wir können zumindest versuchen, einen Ort zu schaffen, wo Leute möglichst viel Spaß haben, sich wohlfühlen und mal Sachen auszuprobieren, sie noch nicht gemacht haben.“

„Ich bin überzeugt, dass es auf diesen Partys weniger übergriffig zugeht, als auf jeder Kiez-Party an der Reeperbahn“

Ju Thomas, Darkroom-Beauftragter

Auch die Selektion der Gäste an der Tür ist essentiell für die Atmosphäre auf der Party und das Wohlbefinden der Gäste. „Bei uns gibt es keinen Dresscode“, betont Dino. „Die Leute können nackt, in Unterhose, im Langweiler-Outfit oder voll in Lack kommen – alle sind willkommen.“ Viel wichtiger als das Outfit sei die Einstellung der Besucher*innen, von der sich die Türsteher*innen am Einlass einen Eindruck verschaffen: „Du musst die Rücksicht mitbringen, die es auf so einer Party braucht. Wenn du die von Anfang an nicht mitbringst, ist das vermutlich nicht deine Party und du wirst nach Hause geschickt.“

Ähnlich läuft es auch bei anderen sexpositiven Partys wie Pornceptual und Kinky Sundays. Veranstalter*innen können durch die Selektion an der Tür sowie durch die Arbeit der Awareness-Teams auf die Atmosphäre einwirken. Zentraler Einflussfaktor sind  jedoch die Gäste selbst – vor allem bei solchen Veranstaltungen, auf denen ein Großteil nackt oder halbnackt feiert. „Ich bin überzeugt, dass es auf diesen Partys weniger übergriffig zugeht, als auf jeder Kiez-Party an der Reeperbahn“, sagt der Hamburger Darkroom-Beauftragte Ju Thomas. „Ich denke, dass die Leute durch die Nacktheit und Offenheit sehr viel von sich selbst preisgeben. Und da das alle machen, entsteht eine sehr intime Stimmung. Das stärkt den Zusammenhalt und die Leute achten mehr aufeinander. Und wenn dann doch eine Person übergriffig wird, reagieren auch die Gäste.“

Kein Ort zum Rumhängen, Nachlegen oder „Nur-mal-gucken“

Auf einem Festival kann der Zugang zu einzelnen Floors freilich nicht eingeschränkt werden. Und es ist anzunehmen, dass ein Teil der mehreren tausend Besucher*innen nicht die notwendige Einstellung mitbringt. Für Raquel Fedato und Chris Phillips war die Kooperation mit Melt dahingehend eine Herausforderung: „Es war ein großes Experiment – wir wussten ja nicht, wie die Crowd auf die erotischen Performances und die Cruising Area reagieren wird“, erinnert sich Chris. Die Lösung: Eine klare Unterscheidung zwischen offener Bühne und Dancefloor einerseits und dem Darkroom als sexpositivem Rückzugsort andererseits. Bei Letzterem gab es dann auch eine Selektion der Gäste: Wer in den Darkroom wollte, musste zunächst eine Person am Eingang passieren, die Konzept und Regeln erläuterte und nach einem kurzen Gespräch den Eintritt gestattete oder verwehrte. Dabei ginge es auch um die Absicht der Interessierten – der Darkroom ist kein Ort zum Rumhängen, Nachlegen oder „Nur-mal-gucken“.

Foto: Melt Festival (Performance @ Secret Garden of Porn Stage)

Wie auf der poly|motion gibt es auch bei Pornceptual-Veranstaltungen ein Awareness-Team. Dieses war auch beim Melt aktiv und unterstützte dabei das frisch gegründete Awareness-Team des Festivals. In diesem Jahr hatten Gäste erstmals die Möglichkeit, einen Awareness-Bereich auf dem Melt aufzusuchen, um in belastenden Situationen ein offenes Ohr zu finden. Mit durchschnittlich einer Awareness-Mitarbeiter*in pro 1800 Besucher*innen war das Team etwas schmal besetzt. Dennoch sei alles bestens gelaufen, sagen Sarah Swolinsky, die für die Awareness auf dem Festival zuständig war, und Florian Czok, der Melt-Booker. Einziger negativer Zwischenfall auf dem Pornceptual-Floor, laut Chris und Raquel: Ein Typ, der am Eingang der Cruising-Area abgewiesen wurde und wutentbrannt sein Bier in den Darkroom pfefferte.

Raquel und Chris sind zufrieden mit ihrer neuen Erfahrung. Der größte Teil der Besucher*innen ihres Floors habe bisher noch keinen Kontakt mit sexpositiven Partys gehabt. Dementsprechend seien manche Gäste am ersten Abend von den expliziten erotischen Art-Performances etwas schockiert gewesen. Doch der Grundtenor der Stimmung schien neugierig und aufgeschlossen gegenüber dem dargebotenen Programm, dem Projekt und seiner Botschaft. Melt-Booker Florian Czok berichtet, dass zunächst vor allem darkroomerfahrene Gäste den Schritt in das Bauzaun-Labyrinth wagten, während die meisten anderen zunächst mit der neuen Möglichkeit warm werden mussten: „Anfangs waren viele noch verhaltener und zögerlicher. Aber von Tag zu Tag haben mehr Leute die Cruising Area ausprobiert. Der letzte Tag war auch der am besten besuchte. Aber rappelvoll war es nicht.“

„Es war völlig dunkel, es lief Strobo und man hat nur Bass gehört. Die Leute waren komplett nackt und die Stimmung war übelst geil.“

Beim diesjährigen Feel Festival, das 20.000 Besucher*innen anzieht, lud der Berliner Club Burg Schnabel Pornceptual ein, den Indoor-Floor zu hosten. „Gleich am Eingang standen drei, vier Leute, bei denen du deine Klamotten in Müllsäcke packen konntest“, berichtet eine Besucherin des Feel Festivals. „Drinnen war es brechend heiß, es gab keine Lüftung. Du musstest einfach nackt oder sehr leicht bekleidet tanzen.“ Sie vermutet, dass sich die eher raveaffinen Gäste der besonderen Verhaltensregeln in diesem ungewöhnlichen Feierkontext eher bewusst waren – ein Briefing am Einlass gab es nicht. „Da waren auch viele Menschen, die nicht wussten, wie sie damit umgehen sollen. Die dachten: ‚Wenn die Leute nackt sind, haben sie Bock auf mehr.‘“ Aus dieser falschen Schlussfolgerung hätten sich unangenehme Situationen für sie ergeben. Dennoch erinnert sie sich gern an den nackten Rave: „Es war völlig dunkel, es lief Strobo und man hat nur Bass gehört. Die Leute waren komplett nackt und die Stimmung war übelst geil.“

Jenseits gesellschaftlicher Normen

Ein kleines Zwischenresümee: Sexpositive Partys haben sich in Deutschland innerhalb weniger Jahre etabliert, ausdifferenziert und vergrößert. Mittlerweile sprechen sie neben einem queeren Publikum und der BDSM-Szene ein zunehmend größeres Publikum an. Woran liegt diese Entwicklung?

Foto: Chris Phillips (Porn by Pornceptual – 6 Years, Berlin)

Wie so oft spielt das Internet eine tragende Rolle. Einerseits können sich einzelne Communitys leichter vernetzen, austauschen und wachsen, etwa über Dating-Apps wie OK Cupid oder Grindr oder durch Foren wie FetLife, dem weltweit größten Sozialen Netzwerk für die BDSM- und Fetisch-Community. Gleichzeitig wird der Zugang zu Informationen leichter, die über sexuelle Vorlieben und Identitäten aufklären, die nicht der gesellschaftlichen Norm von Monogamie, Heterosexualität und binären Geschlechtern entsprechen. Dino aus dem Awareness-Team der poly | motion vermutet, dass manche auch dadurch motiviert werden könnten, sexpositive Partys zu besuchen: „In meiner Idealvorstellung merken viele Menschen gerade, dass sie sich vielleicht gar nicht in dem Rahmen bewegen müssen, in dem sie aufgewachsen sind. Sie können ihre Sexualität freier ausleben und realisieren, dass es mehr gibt, als ‚normale‘ monogame Beziehungen.”

Auch außerhalb des Internets zeigen sich Entwicklungen: „Man redet offener über Sex, das Thema ist wesentlich weniger schambehaftet“, stellt der Hamburger Darkroom-Beauftragte Ju Thomas fest. Menschen seien eher bereit, ihre sexuellen Interessen zu erkunden und eigene Hemmschwellen zu überwinden. Eine Konsequenz daraus könnte ein wachsendes Interesse an Experimenten mit der eigenen Sexualität sein: „Sexpositive Partys sind oft eine Einführung für Menschen, die daran interessiert sind, Sex auf eine andere Art zu erleben“, so Pornceptual-Gründerin Raquel Fedato. „Es ist ein angenehme Möglichkeit, das für sich auszutesten.“

Auch für Veranstalter*innen sind das Internet und soziale Medien häufig unverzichtbar. „Pornceptual ist durch das Internet zu einer Marke gewachsen“, sagt Raquel. „Von null auf fast 100.000 Follower auf Instagram – das spielt eine wichtige Rolle, um unsere Botschaft zu verbreiten.“ Die virtuelle Welt ist hierbei mit der Realität eng verknüpft: Die Onlinekommunikation der einzelnen Veranstalter*innen wirkt sich auf die Zusammensetzung der Gäste auf den jeweiligen Veranstaltungen aus. „Auf die Kinky gehen überwiegend Männer, sowohl schwul als auch hetero. Frauen sind teilweise sehr wenig vertreten“, so Ju.

„Wenn du einen Raum für Menschen schaffst, in dem sie Sex haben, muss dieser Raum so sicher wie möglich sein – sexpositiv heißt auch, Verantwortung zu übernehmen.”

Chris Phillips, Pornceptual

Eigentlich adressieren die Hamburger Kinky Sundays ein queeres Publikum, auf dem sich alle willkommen fühlen sollen. Die Bilder, mit denen auf Facebook und Instagram für die Veranstaltung geworben wird, zeigen jedoch fast ausschließlich männliche gelesene Personen – das prägt offenbar auch das Geschlechterverhältnis der Besucher*innen. Dieser Effekt des Marketings zeigt sich auch bei der poly|motion: „Seit einigen Monaten bewerben wir aktiv ein Fetischpublikum“, sagt Dino. „Jetzt kommen mehr Leute, die ihr Spielzeug mitbringen oder im Harness kommen. Das hat das Bild der Party etwas verändert.

Foto: Chris Phillips (Porn by Pornceptual – 6 Years, Berlin)

Die wachsende Beliebtheit sexpositiver Raves sei eine gute Sache, finden Raquel Fedato und Chris Phillips. „Ich hoffe, dass die Menschen, die solche Veranstaltungen organisieren, das Ganze ernst genug nehmen“, betont Chris. „Denn wenn du einen Raum für Menschen schaffst, in dem sie Sex haben, muss dieser Raum so sicher wie möglich sein – sexpositiv heißt auch, Verantwortung zu übernehmen.” Sexpositive Partys dürfen keine Massenveranstaltungen werden, findet Dino: „Ich glaube, dass solche Konzepte immer wieder neu entstehen und klein gedacht werden müssen.“ Damit meint er auch die Anzahl der Gäste auf einer Veranstaltung: „Bei einer poly|motion mit 1000, 2000 Leuten wären wir völlig überfordert. Gerade wenn es um Respekt, um Rücksicht, um aufeinander aufpassen geht, kann ich das nicht unendlich viele Gäste reinlassen.“ Je mehr Gäste auf einer Veranstaltung seien, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Teil nicht an die notwendigen Regeln hält.

Auch der Darkroom-Beauftragte Ju Thomas begrüßt die wachsende Beliebtheit sexpositiver Raves. Er prognostiziert, dass sexpositive Partys sich noch weiter ausdifferenzieren werden, sei es musikalisch oder auf die Zielgruppe bezogen. Während manche Veranstaltungen als „leichte Einstiegsparty in die Szene“ funktionieren würden, würde es auf anderen eher härter zugehen. 

„So what! Wenn die ganzen Heten auch mal aus sich rauskommen, ist doch schön!“

Dino, Awareness-Team poly | motion

Aber wenn sexpositive Partys, die als Safe Spaces der queeren Community begonnen haben, nun ihre Türen für alle sexuellen Orientierungen öffnen, verlieren sie dann nicht eben jenen Charakter als geschützte Räume, der für diese marginalisierten Gruppen so wichtig ist? „Jede*r gibt erstmal sein Label an der Garderobe ab und ist einfach eine Person. Das schließt natürlich auch die Leute ein, die keiner sexuellen Minderheit angehören“, findet Ju. Pornceptual-Gründer Chris sieht das ähnlich: „Wenn jemand, der sich als hetero identifiziert, zu unseren Veranstaltungen kommt und mit seiner Sexualität experimentiert, ist das natürlich etwas Großartiges. Aber natürlich müssen die Leute offen sein – Homophobie wollen wir nicht.“

Dino sieht das kritischer: „Wenn die Party für alle Menschen offen ist, gibt es (heteronormative Anm. der Redaktion) Machtdynamiken, die in queeren, schwulen oder FLINT-Räumen ( Frauen*, Lesben, inter, non-binary und trans* Personen Anm. der Redaktion) nicht vorliegen. Deshalb dürfen diese geschützten Spaces nicht verloren gehen.“ Dennoch begrüßt er das steigende Interesse an sexpositiven Partys: „Aber wenn in dieser Entwicklung solche Räume erhalten bleiben, dann: so what! Ich meine, wenn die ganzen Heten auch mal aus sich rauskommen, ist doch schön!“

Foto: Chris Phillips (Porn by Pornceptual – 6 Years, Berlin)

Vom Darkroom auf den Dancefloor

Der sich in der Clublandschaft abzeichnende Prozess wird sich möglicherweise verstärkt auch auf Festivals wiederfinden. Neben dem Melt- und Feel-Festival hostete Pornceptual dieses Jahr auch eine Location auf dem Amsterdam Dance Festival. „Festivals wären natürlich der nächste Schritt“, sagt Melt-Booker Florian Czok. „Die Kooperation mit sexpositiven Kollektiven könnte sich etablieren, aber nur auf den dafür geeigneten Festivals: Es muss zum Konzept und zur Identität des Festivals passen und darf kein sell-out werden.“

Sex hat es also vom Darkroom auf den Dancefloor geschafft – eine clubkulturelle Kampfansage gegen überholte gesellschaftliche Normen und Konventionen. Mit ihrer zunehmenden Beliebtheit werden sexpositive Partys mittelfristig eine neue Säule der Clubkultur darstellen. Ein im Sinne der Offenheit, Toleranz und sexuellen Freiheit wünschenswerter Fortschritt. 

Vorheriger Artikel[REWIND2019]: 10 unvergessliche Momente
Nächster ArtikelNeues Album: „Mr. G Presents The Alien With Extraordinary Abilities”