Alle Fotos: Alexis Waltz
In der europäischen Festivallandschaft sticht Flow mit seinem geschmackvollen Booking und seiner ambitionierten Nachhaltigkeitsstrategie heraus. Wir haben uns dort umgesehen.
Das Festivalgelände befindet sich nur drei U-Bahn-Stationen vom Hauptbahnhof von Helsinki entfernt, in einem urbanen Zwischenraum, der darauf wartet, entwickelt zu werden. Wo früher Erz zu Eisen und Stahl verschmolzen wurde, tummeln sich zwischen einem Kraftwerk mit hohen Schornsteinen, einer stillgelegten Stadtautobahn und einer jüngst errichteten Shopping Mall erlebnishungrige Festivalgäste.
Auf den zweiten Blick erweist sich das Gelände als überraschend atmosphärisch. Die schlichten, alten Industriegebäude mit ihren runden Dächern würde man eher in Russland verorten, sie eignen sich auch als Kulisse für einen Agentenfilm. Der großen leeren Fläche vor der Hauptbühne setzen sie komplexe Räume entgegen, in denen man sich verlieren kann.
Das Schwarz, das in Deutschland style default ist, fehlt hier. Die Outfits der Crowd feiern Farbe. Ein T-Shirt mit kleinen Bananen, Wimperntusche im Primärfarben und ein türkises Kleid mit großen lachsfarbenen und kaminroten Blüten, dazu eine große Tasche in Orange und Marineblau. „Hier ist es neun Monate im Jahr dunkel und kalt. Wenn endlich mal die Sonne scheint, wollen wir das genießen.”, erklärt mir jemand.
Die Wahllondonerin Mafalda spielt traditionelle Discostücke und R&B-Songs und macht ein Statement daraus, die Tracks nicht zu mixen. Manche der Stücke mag sie so gerne, dass sie mitsingt. Douglas McCarthy von Nitzer Ebb trägt einen schwarzen Anzug und eine Pilotenbrille mit gewölbten Gläsern. Er springt auf der Bühne umher, wedelt mit dem Mikro, mimt den clownesken Alleinunterhalter. Drummer Bon Harris schlägt martialisch auf seine Drum Pads ein, trommelt, als würde er die gesamte Wut der geknechteten Arbeiterklasse aus Fritz Langs Metropolis verkörpern. Die Eigentlichkeit des Industrial-Genres bricht die Band so mit Ironie und Zynismus. Auf der Hauptbühne steht, mit 40-minütiger Verspätung, Erykah Badu. Die düstere Diva ist heute milde gestimmt, sie weist die Crowd auf den bass drop hin und lobt: „You have a good spirit.” Ihre Songs klingen so fragmentarisch wie auf den Alben. Dass sie auch hier auf der großen Bühne keine Bass- oder Snaredrums brauchen, dabei aber auch nicht ins Schunkelige verfallen, ist durchaus beeindruckend.
Aïsha Devi steht allein auf der Bühne, ein langer Tisch mit vielen Geräten und einem Laptop ist diagonal neben ihr aufgebaut, dahinter ein riesiger Screen, auf dem ein Video durchläuft. Vektorgrafiken stürzen in Hochhauslandschaften, ab und zu scheinen mittelalterliche Heiligenbilder auf. Devi beugt sich über ihre Geräte und vertieft sich in sie. Dann tritt sie zurück und tanzt als schwarze Silhouette vor der farbigen Leinwand, wenig später reckt sie den Hals in die Höhe und singt. Auf ein ekstatisches Moment folgt ein noch extatischeres Moment, die Crowd wartet auf eine Entladung, aber die gewährt Devi nicht. Das wirkt zugleich himmelschreiend und selbstbezogen und in dieser Spannung zeitgemäß.
Levon Vincent ist der absolute Gegenpol. Die Ermüdung als Konsequenz aus dem jahrlangen Touren übersetzt er in Konzentration und Ruhe. Jedes Element ist gewollt, liebevoll hört er den Platten zu und wie sie ineinander laufen. Dennoch verschleiert er die Übergänge nicht. Eine fleischfressende Pflanze blitzt in dem Tattoo auf, das auf seinem Unterarm wuchert. Auf seinem Finger steckt ein Ehering.
„I don’t know”, sagt Eva Geist ein wenig hilflos und bedeutet Donato Dozzy, der nach ihr spielen wird, dass sie aufhören will und er anfangen soll. Er lacht nur, und sie muss noch ein Stück spielen. Als die unwirkliche, einprägsame Hookline des Tracks verklingt, schreit jemand im Publikum: „I love you.” Sie sagt ernst „Mille Grazie”. Sie umarmt Dozzy und seine Wall of Sound entfaltet sich, ein unterirdischer Bass, ineinander verschachtelte Percussions: das Tor zu einer anderen Welt.
Auf der tollen Globe Ballon Stage spielt das Nyege Nyege-Kollektiv aus Uganda unter einem riesigen Ballon, der in unterschiedlichen Farben erstrahlt. Auf der Hauptbühne kommt es derweil zum Eklat. Weil sich Erykah Badu verspätet hatte, muss Solange ihren Auftritt verkürzen. Exakt um Mitternacht wird ihr der Saft abgedreht. Sie und ihre Band performt pantomimisch weiter, und Solange macht ein bitteres Gesicht. „Wir müssen leider pünktlich aufhören”, erklärt mir am nächsten Tag die Pressefrau. Manchmal muss man die Regeln brechen. „Nicht in Finnland”, erwidert sie lächelnd.
Ein Tor zu einer anderen Welt wie die Musik von Donato Dozzy ist auch das komplett in rot und weiß gekleidete Kollektiv House of Disappointments. Ein bäriger, mürrischer Typ mit einer goldenen Krone legt auf, drei Personen tanzen dazu: Ein Mann in Drag in einer Plüschjacke und Plateauturnschuhen, ein hageres, geschlechtsloses Wesen in einer roter Leopardenleggins und Fetisch-Maske und eine junge Frau in einem weißen Tennis-Dress. Der Höhepunkt ist eine Gabber-Version von Britney Spears „Hit Me Baby One More Time”.
Jlin sorgt für ein würdiges Finale. Als AV-Session mit der Berliner Künstlerin Theresa Baumgartner angekündigt, steht sie allein auf der Bühne, ganz und gar in blauen Nebel gehüllt. Jlins Bass hat die Crowd auf dem schönsten Floor des Festivals, suggestiv The Other Sound betitelt, im Griff. Die Fabrikhalle mit den mächtigen Säulen erinnert an den Säule-Floor im Berghain. Auf JIins Bass-Puls reagieren die Drums mit einer unberechenbaren Vertracktheit, die flirrenden Synths und gelegentlich auftauchenden Stimmen sind dann nur noch der Schlussstein. Musik, die Normalität und Ausnahmezustand in ein neues Verhältnis setzt.
Am zweiten Tag spielen Katerina und Linda Lazarov einen durchlässigen, klangverlieben Sound, der fluffig ist und dennoch ernsthaft, der die Düsseldorfer Schule durchlaufen hat. Klänge, die d´accord sind mit ihrer Künstlichkeit. Katerina wiegt mit den Schultern, lässt sich von den Grooves forttragen, Linda Lazarov ruht ganz in sich, schließt die Augen, wenn sie einen Übergang macht – zwei Arten, sich von der Musik berühren zu lassen.
„Wir sind Newcleus bei Tag, Dreams 2 Science bei Nacht,” erklärt Gregg Fore und fügt hinzu: „Wir haben einen Geburtstag zu feiern. Ich wurde gestern 60.” Newcleus gründete er in den siebziger Jahren, in den achtziger Jahren produzierte er mit der Gruppe den Electroklassiker „Jam on Revenge (The Wikki-Wikki Song)”. Hier spielt er die sparsamen Grooves seines House Alias Dreams 2 Science, vital, aber sie verheimlichen nicht, dass sie aus einer anderen Zeit stammen. Hier ein Xylophon, dort eine Streicherfigur – mehr braucht es nicht, damit das trockene Drumming und die vollen, plastischen Basslines die Crowd tragen.
Dann stehen Tame Impala auf der Bühne. „Let´s do this”, sagt Kevin Parker und klingt dabei überheblich und abgezockt. Ein US-amerikanischer Kollege hat gehört, dass bei den Konzerten der Band die Musik vom Band kommt. Das wirkt nicht so, dennoch ist nachvollziehbar, wie ein solcher Eindruck entsteht. Die Tontechniker*innen versuchen die Effekte auf der Stimme minutiös so zu reproduzieren, wie sie auf den Alben klingen. So kontrolliert wirkt der gesamte Sound und ihre Erscheinung auf der Bühne. Statt an den anvisierten Psychedelic Rock der Sechziger erinnern sie an den Corporate Rock der Siebziger. Am Ende explodiert die Konfettikanone und bläst Millionen von farbigen Papierschnitzel in die Luft. Zwar werden die nach dem Konzert sofort zusammengefegt, dennoch sind sie ein Grund, mich über die vielgepriesene Nachhaltigkeitsstrategie des Festival zu informieren – und so mache ich einen Termin mit einem der Leiter von Flow aus.
Tatsächlich kann ich am nächsten Tag Tomas treffen, einen der Macher des Festivals. Er ist ein eleganter, ernsthafter, ein wenig reservierter Finne um die Vierzig, der ein verwaschenes Polohemd trägt. Er ist von Haus aus Musiker. Vor fast 20 Jahren ist das Festival aus einer Clique von Kolleg*innen entstanden, die an der Schnittstelle von Jazz und Elektronik operierte. Für das erste Flow luden sie Jazzanova aus Berlin nach Helsinki ein, womit das Konzept schon umrissen war: gediegene, afro-amerikanische Musik und ihr globales Echo. Nach einigen Jahren war die Luft raus und die Gruppe wollte das Festival neu erfinden – sie kamen sie auf das Thema der Nachhaltigkeit. Das verfolgen sie jetzt schon seit 14 Jahren, in dieser Zeit konnten sie viel erreichen: Das Festival produziert zero waste, es hat eine neutrale CO2-Bilanz. Sämtlicher Müll wird getrennt, alles wird wiederverwertet, sagt Tomas. Zwar landen viele Bierdosen im falschen Mülleimer, aber offenbar werden die nachträglich noch von dem gigantischen Team von Volunteers sortiert. Aus Bierdosen werden wieder Bierdosen, energy recycling heißt die Tonne für die Dinge, die nur noch verbrannt werden können.
Für die neutrale CO2-Bilanz wurde in einem Jahr Windkraft in China finanziert, in einem anderen die Aufforstung eines Waldes in Afrika. Die größte Herausforderung sind, wen überrascht es, die Flüge. Immerhin benutzen nur die wenigsten Künstler*innen einen Privatjet, und viele US-amerikanischen Artists treten am betreffenden Wochenende noch in einem anderen skandinavischen Land auf. Wie erklärt man Solange, dass sie coach fliegen soll? Dieser Witz kann Tomas kein Lächeln entlocken. Sein Geheimnis, um nicht Festivalmüde zu werden? „Ich verbringe meine Zeit nicht im Backstage, sondern vor der Bühne.”, sagt er.
Den dritten Abend beginnt Baba Stiltz mit breakig aufgebohrtem Tech-House und überraschend vielen Kompakt-Platten. Das funktioniert, die Crowd wogt, die Tracks auf einer tieferen Ebene kommunizieren zu lassen, gelingt ihm aber nicht. DJ Python spielt sphärische Sounds, die sich wie auf seinen Platten auf magische Weise zu Tracks formen. Er übergibt an K-Hand, die den organischen, rohen Techno spielt, den man mit ihr verbindet.
Lanark Artefax bespielt das Other Sound-Fabrikgebäude. Er steht in einem Drahtkäfig und zertrümmert die klonkige Warp-Ästhetik Autechres. Auch die Clubbezüge, die bei Autechre noch ein Motor waren, werden zertrümmert. Diese Trümmer bleiben aber dennoch das Material, das diese Musik prägt, der Warp-Fetisch strukturiert dieses akustische System. Dieser Live-Act ist schwer zu überbieten, Amnesia Scanner gelingt das. Verzerrte Stimmen hallen zwischen den Betonsäulen. Verstörend, weil sie kein Format bedienen, immer haarscharf an der Formlosigkeit vorbei. Weil sie vom Schmerz handeln, aber dennoch lebendig klingen.
Punk, Trash und Kaputtheit findet man auf dem Flow Festival nur an den Rändern, eine gangbare Strategie, denn Festivals neigen zur Vertrashung von dem, was sie vorgeben zu feiern. Ein solcher Rand auf dem Festival ist die Red Stage, auf der Gabber Eleganza spielt. Mit Army-Mütze steht er hinter den Decks, konstruiert die Build-Ups, zu dessen Entladung die drei Tänzer*innen auf der Bühne und die Crowd absteppen können. Das macht gute Laune, fühlt sich wie ein Workout an.
Dann spielen The Cure, ihre Mischung aus Morbidität und Gefälligkeit ist ein ultimativer Masterplan. Alles, was Tame Impala gestern falsch gemacht haben, machen sie richtig. Treibend und driftend lassen sie sich auf die Unschärfen des Livespiels ein, verzichten auf die Verzierungen der Songs aus dem Studio, aber verlieren dabei nie den roten Faden.
The Cure sind berüchtigt für ihre langen Konzerte, hier hören sie pünktlich nach zweieinhalb Stunden auf, das Finale auf der Konzertbühne wird James Blake überlassen, der mit Schlagzeuger und einem Multiinstrumentalisten auftritt, der unter anderem zwischen einer Gitarre, einem riesigen Modularsynthesizer und einem Minimoog sitzt. James Blake haut in die Tasten eines Dave Smith Prophet 8. Natürlich kommen dabei nur ganz zarte Klänge heraus. Mehr braucht es nicht. Denn Blakes feiner, präziser, dennoch kraftvoller Stimme gehört die ihr ergebene Crowd.
Das Festival hört Sonntag pünktlich um Mitternacht auf. Das Closing übernehmen Willikens & Ivkovic auf der einen Stage, Nina Kraviz auf der anderen. Beide sehen etwas erschöpft aus, Ivkovic steht da, in die Musik vertieft, Willikens wirkt ein wenig nervös. Auf ihr Set wirken sich diese Zustände aber nicht negativ aus, virtuos mixen sie die Sound-verliebten, analytischen Tracks der Düsseldorfer Schule mit Rave Classics n-ter Ordnung.
Nina Kraviz ist an diesem Abend bestens aufgelegt, sie raucht, trinkt Sekt und spielt loopigen, kurzatmigen Chicago Techno, der auf den vergleichsweise kleinen Floor so gut passt wie in den Big Room, hart und beherzt. Später kommt dann auch die schon längst obligatorische Drum & Bass-Platte. Kraviz fügt sich dem rigiden Zeitregime des Festivals, die Crowd jubelt – und strömt zufrieden über die Stadtautobahn zurück in die Stadt.