Wenig beeinflusst ein Musikfestival so stark wie das Wetter. Doch obwohl es zum ersten Mal in 13 Jahren von Regen überschattet wurde, war diese Ausgabe des Neopop-Festivals an der Costa Verde eine ganz besondere. Als am Sonntag gegen zwölf Uhr mittags dann endlich die Sonne durch die Wolkendecke an der „Perle des Nordens“, wie die Kleinstadt Viana do Castelo in Portugal auch liebevoll genannt wird, brach, schien es beinahe, als hätte Petrus schlussendlich resigniert aufgegeben und würde den Spirit und unbändigen Enthusiasmus der Besucher*innen (und allen voran der Campenden) honorieren. Das kollektive Aufatmen der feierwütigen Gemeinde sowie der Organisator*innen, die bis dato so einige Hasen aus ihren Hüten zaubern mussten, um gegen die Widrigkeiten anzukämpfen, war merklich zu spüren. Vielleicht war es aber auch nur die angenehme Brise, die zeitgleich über die malerische Atlantikküste pfiff.

Trainspotting in Portugal

Nur kurz das Gepäck auf das Zimmer bringen und ein Taxi rufen. Wie immer bin ich ein bisschen spät dran. Vielen Dank TAP Air Portugal. Dann noch schnell die Regenjacke überwerfen und los geht’s. Das Opening-Concert auf der Neo Stage – einer der zwei Bühnen des Neopop – will ich natürlich nicht verpassen. Underworld gebührt die Ehre, den (in-)offiziellen Festival-Startschuss zu geben. Die beiden Briten Karl Hyde und Rick Smith, die mit ihrem Soundtrack zum Film „Trainspotting“ den Sound einer ganzen Generation geprägt haben, beginnen jeden Moment. Endlich am Festivalgelände angekommen, ziehe ich mir meine Kapuze tief ins Gesicht. Stürmischer Wind und Regen schlagen mir entgegen, aber ich tue es den jetzt schon ziemlich ausgelassen wirkenden Besucher*innen gleich und stemme mich gegen den Wind. Britische Band, britisches Wetter. Passt.

Karl Hyde von Underworld. Foto: Neia Gomes.

An der Bühne angelangt, stelle ich fest, dass die Veranstalter*innen ganze Arbeit geleistet haben: Mitten auf dem Platz des alten Forts, in dem das Neopop Jahr für Jahr stattfindet und das mit seinen hohen, das Gelände umrahmenden Steinmauern zu beeindrucken weiß, wurde mal eben eine hangarähnliche Konstruktion errichtet, die den Besuchern bitter benötigten Schutz vor der Witterung bietet. Underworld stimmen gerade ihren Track „Cowgirl“ an, während ich noch die als Triptychon aufgebauten Screens bewundere. Der Sänger Karl Hyde ist auf den Bildschirmen energetisch performend zu sehen und die flashige Lichtshow passt perfekt zum Auftritt. Auf das obligatorische „Obrigado“, das dem vorrangig portugiesischem Publikum Jubel und Applaus entlockt, folgt dann mit „Born Slippy“ die Hymne, auf die hier alle gewartet haben. Schon jetzt muss ich feststellen, dass das portugiesische Temperament auch ihre Art zu feiern prägt.

Nach dem Konzert geht es dann noch kurz zu einem Stand, an dem man Getränkemarken kaufen kann. Mit Bargeld oder Karte zahlen ist hier nämlich nicht. Das sollte dann aber auch tatsächlich das einzige Mal an diesem Wochenende gewesen sein, dass ich irgendwo ein paar Minuten anstehen musste. Lobend zu erwähnen sind an dieser Stelle auch die Bio-Papierstrohhalme sowie das Pfandsystem. Den eigenen Becher behält man nämlich genau so lange, wie man selbst will und kann ihn jederzeit gegen einen frisch gereinigten umtauschen lassen. So geht Umweltfreundlichkeit in 2019!

x Portugiesisches Temperament beim Feiern. Foto: Rui Soares.

In the spirit of Throbbing Gristle

Nach einem unglaublichen Fischgericht in einem charmanten, kleinen Restaurant der Altstadt geht es – dieses mal zu Fuß – auf’s Gelände. Armband vorzeigen, kurze Taschenkontrolle und schon ist man drin. Mich verschlägt es gleich zur Anti Stage, auf der Interstellar Funk eine aufregende Mischung aus Industrial Techno und roughen Acid-Beats spielt. Das Publikum nimmt seinen für die frühe Nacht recht gewagten Sound aber voll an und bewegt sich munter im Takt. Scheinbar mühelos heizt der Niederländer für gut zwei Stunden den Leuten ein und bereitet gekonnt den Boden für eine lange Nacht. Ivan Smagghe, der an diesem Wochenende auch noch mit Vladimir Ivkovic auf dem schlussendlich dem Wetter zum Opfer gefallenen Houghton Festival in England hätte spielen sollen, löst ihn nahtlos ab und nimmt den roten Faden des Vorgängersets auf. Ein bisschen reservierter klingt es zwar, das tut nach crushenden LoFi-Hi-Hats und verzerrtem 303-Gefrickel aber auch echt gut. Vor allem, da nach ihm Alessandro Adriani und Michael Amato alias The Hacker ihr berstendes Live-Set präsentieren. Die beiden dirigieren gekonnt ihr Maschinenpark-Orchester und spätestens jetzt kann keiner mehr einfach nur ruhig stehen. Adriani pusht die Tänzer*innen zusätzlich immer wieder mit wohl platzierten Live-Vocals, die mich Parallelen zu Auftritten der British Murder Boys und Volition Immanent ziehen lassen. Die wissen bei ihren cutting edge-Performances nämlich mit ganz ähnlicher vokaler Artistik zu glänzen.

x Richie Hawtin auf der Neo Stage. Foto: Rui Soares.

Auf der Neo Stage spielt zur gleichen Zeit niemand geringeres als Richie Hawtin, und einen kurzen Ausflug dahin lasse ich mir nicht nehmen. Dass der ganz genau weiß, wie man einen Dancefloor in Brand setzt, ist gemeinhin bekannt, aber das Peak-Time-Feuerwerk, welches er entzündet, sucht an diesem Abend seinesgleichen. Auch wenn seine legendären Plastikman-Tage (leider, leider) schon lange Geschichte sind, muss man die Energie und stete Innovationsfreude des Briten honorieren. Bis weit in den Morgen hinein höre ich dann noch einen meiner persönlichen Favourites des Festivals: DVS1 spielt ein über drei Stunden langes psychedelisches Meisterwerk, mixt warme Bässe mit reduzierten Melodien, loopt dann noch auf den CDJs elegante Synth-Pads hinzu, fadet sie genau im richtigen Moment ein und reizt schlichtweg die Grenzen des Djing aus. Weniger Discjockey als vielmehr Klangarchitekt, kreiert er bis kurz nach neun Uhr morgens eine Sound-Utopie, deren einziger Makel ist, dass sie irgendwann zu Ende geht.

x DVS1 während seines Sets. Foto: Diogo Lima.

Four to the Floor

Von den vielen portugiesischen Künstler*innen, die das Festival (meist als Warm-Up am frühen Abend) miteinbindet, ist Carlos Maria Trindade, den man wohl am ehesten von der von Andrew „Lovefinger“ Hogges kuratierten Compilation auf ESP Institute kennt, der Bekannteste. Der Experimental-Musiker tritt am Freitag zusammen mit Switchdance als SURTO im rosa angestrichenen neoklassischen Theater der Stadt auf. Zusätzlich untermalt wird das Ganze noch durch eine Live-Video-Manipulation des Filmregisseurs João Botelho sowie ausdrucksstarke Bewegungen der Tänzerin Marta Viana. Die Stimmung ist zurückhaltend, aber das soll sie auch sein. Hier geht es nicht um exzessives Feiern, sondern um die Auslotung der Symbiose aus Klang und visueller Stimulation. Ob in der Loge oder im Saal, die Sicht ist in jedem Fall hervorragend und nur zu gerne versinke ich in meinem bequemen Sitz und genieße die Show. Der Tapetenwechsel tut mir merklich gut und mit neuer Kraft schwinge ich mich daraufhin auf und marschiere zum Hauptgelände am Hafen.

Dort angekommen hört es dann endlich auf zu regnen. Die Dankbarkeit der Besucher*innen hierüber ist erkennbar. Auf der Neo Stage spielen die Tech-House Giganten Pan-Pot und Paco Osuna, daraufhin folgt Technogewitter von Chris Liebing, aber das Big Room-Gedöns spar ich mir. Weitaus interessanter scheint mir das B2B zwischen Ø [Phase] und Matrixxman zu sein. Ich werde meine Entscheidung nicht bereuen. Als gut miteinander vertrautes Tag Team spielen sich die beiden geschickt die Bälle zu –Platten-Ping Pong auf hohem Niveau. Zu meiner Freude gehen die beiden über die ganze Spanne ihres Sets gekonnt auf die Tracks des jeweils anderen ein und pumpen mal ravigen, mal dystopischen 130 BPM-Techno durch die fantastisch klingende Soundanlage, der die Tanzenden gleichwohl begeistert wie fesselt. Dann ist Dasha Rush an der Reihe. Die große Erwartungshaltung auf ihre Live-Performance lässt die Massen erst mal unsicher abwarten, der Funke will nicht gleich überspringen. Nach ein paar Minuten aber merkt man, wie sich der Knoten löst und die treibende Musik ihre Magie entfaltet. Hier und da sind sogar ein paar einzelne Jubelrufe zu vernehmen, als sie metallische Percussions, 606-Snares und wilde 808-Handclaps hineinschnalzen lässt, hauptsächlich aber tanzen die Leute wie in Trance versetzt, ganz und gar in die Soundwelten der russischen Künstlerin vertieft.

x Die Besucher*innen bewiesen Regentauglichkeit. Foto: Rui Soares.

It’s not over till it’s over

Mit einer großen Portion Wehmut wandere ich nochmal durch die kleinen Gassen der Stadt, an Kirchen und kunstvoll gestalteten, mit Ornamenten verzierten Häusern vorbei und blicke dabei zum prachtvoll beleuchteten Heiligtum der Santa Luzia, das über Viana do Castelo zu wachen scheint. Es ist die letzte Nacht, und im Theater steht ein weiterer audiovisueller Orgasmus auf dem Programm. Die Genfer Filmkomponistin Aïsha Devi und der Visual-Artist Emile Barret präsentieren hier eine Show, dessen DMT-Trip-Faktor den Film „Enter The Void“ alt aussehen lässt. Auf breakige Beats, die einen ganz tief in den rubinroten Theatersitz drücken, folgen ruhige Momente, die Devi mit ihrer sagenhaften Stimme voll und ganz zu füllen weiß. Ihr Gesang ähnelt einem Mantra und führt in Konsequenz dazu, dass man sich umso besser auf die visuelle Erfahrung einlassen kann. Dass sie rituelle Praktiken und meditative Techniken als Einflüsse benennt, leuchtet mir jetzt ein.

x Bis der allerletzte Rest aus dem Cellophan-Tütchen gekratzt ist. Foto: Rui Soares.

Mich aus meinen Gedanken zu holen, schaffen dann erst wieder Jeff Mills respektive Surgeon. Wie Mills mit seinem eigenen Track „The Bells“ die Menge endgültig abholt, ist schlichtweg episch und auch das reduziert bleepige Live-Set von Surgeon weiß zu überzeugen. Der sympathische Engländer kann sich auch selbst ein verschmitztes Lächeln nicht verkneifen, als die Meute nach einem von einer Gabba-Kickdrum jäh beendeten Drop völlig ausrastet. Darauf folgend gibt Rødhåd der portugiesischen Crowd unzählige Gründe, den Easyjet-Flug von Porto direkt ins Berghain besser heute als morgen zu buchen. Obwohl er am vorigen Nachmittag noch auf der Zürcher Street Parade aufgetreten ist, wirkt er fokussiert und hellwach. Sein Mixing ist on point und die Menge dankt es ihm mit heftigem Stampftanz. Man möchte eigentlich nicht in Laurent Garniers Haut stecken, denn da ranzukommen, scheint ein Ding der Unmöglichkeit. Denkste. Die französische Techno-Legende wäre wahrscheinlich aber eben nicht da, wo sie heute ist, wenn er nicht sogar noch eins draufzusetzen wüsste. Selbst die Sonne scheint ihm wohl gesonnen, denn endlich, nach vier grauen Tagen, kommt sie schuldbewusst hervor. Eigentlich war sein Set nur bis 12 Uhr Mittag angedacht, aber erst in den frühen Nachmittagsstunden, als wirklich auch der allerletzte Rest MDMA aus den Cellophan-Tütchen der Besucher*innen gekratzt ist, löst er sich vom Mixer, winkt in die Menge und beendet das Neopop 2019.

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