Früher lernten viele die elektronische Musik über FM-Radiosender kennen. Robert Hood etwa erfuhr erst durch Radiohosts und DJs wie Electrifying Mojo, dass diese Art von Musik überhaupt existiert. Frühere Generationen von Groove-Leser*innen wurden durch die HR3-Clubnacht mit Sven Väth an Techno herangeführt. Die digitale Revolution des 21. Jahrhunderts hat eine neue Form von Radio hervorgebracht – das Web-Radio. Diese Wende hat eine neue, kollaborative Art der Kommunikation zwischen Radiomacher*innen und Community geschaffen. Das Internet ermöglicht es dem musikalischen Untergrund, sich über lokale und nationale Grenzen hinweg zu verbreiten und Gleichgesinnte zusammenzuführen.
Wie sieht die moderne Radiolandschaft im deutschsprachigen Raum aus? Welche Erfolgsmodelle und interessanten Formate haben sich bereits etabliert? Wie wirken die lokalen Musikszenen und Radios aufeinander und was entsteht daraus? Im Rahmen unserer Serie “Web-Wellen” haben wir diese Fragen sieben wichtigen Webradios aus dem deutschsprachigen Raum gestellt. Tune in!
Web-Radios entstehen oft, wenn die kulturelle Szene einer Stadt übervölkert ist von kreativen Köpfen, die nach neuen, kollaborativen Plattformen suchen. Ob es sich um einen Piratensender aus den Neunzigern handelt oder um ein Netzradio aus unserem Jahrzehnt – zu den Radiokonzepten gehören nie allein DJs, sondern auch Produzent*innen, Künstler*innen, Entwickler*innen, Designer*innen, Promoter, Volenteers und Radio-Amateure.
Diesen Kreativen eine Plattform zu bieten, war auch Traum von Kaspar van de Water aus Düsseldorf: „Ich war schon ziemlich lang in der Musikszene der Stadt unterwegs und wollte einfach alle Kreativen zusammenbringen, damit Künstler, Designer und sogar Tätowierer unter einem Dach miteinander arbeiten und sich austauschen können.“
Vor zwei Jahren hat er dafür eine Räumlichkeit im Zentrum Düsseldorfs im Hinterhof der Galerie ROOOOOM gefunden und mit seinem Bruder, dem Grafiker Kilian van de Water und dem Web-Entwickler Fernando Diaz Azancot das Callshop Radio gelauncht.
Zu diesem Zeitpunkt war die lokale Szene der Stadt reif für ein Community-Radio. Die Generation der Salon der Amateurs-Raver, -Residents und anderer lokaler Produzent*innen wollte sich auch jenseits von Clubs und Bars etablieren. „Für Radio ist es total wichtig, dass in einer Stadt viel los ist, weil im Radio die Community der Stadt repräsentiert wird”, glaubt Kaspar. Trotzdem verfüge die Düsseldorfer Szene über relativ wenige für elektronische Musik geeigneten Locations. Deshalb entschied sich die Stadt, das Webradio auch finanzielle zu unterstützen. Darüber hinaus werden einige Ausgaben vom Sponsor Carhartt übernommen, der in NRW besonders im urbanen Bereich aktiv ist.
Bei der Programmgestaltung des Callshop kommt es Kaspar besonders auf Diversität an. Er wollte von Anfang an verschiedenen Genres zusammenbringen, damit sie sich gegenseitig beeinflussen können. Die starke Überzeugung von dem Mehrwert, der in solchen künstlerischen Zwischenräumen entsteht, spiegelt sich auch in seiner eigenen Sendung „Show Double Happiness” mit ihrer Soul-, Reggae-, Drum’n’Bass-, Grime- und Breakbeat- Selektion wieder. Diese breit aufgestellte Radiovision zog innerhalb von zwei Jahren über 20 monatlichen Shows mit einem vielfältigen Genrespektrum an. Darüber hinaus wurde das Radio von vielen etablierten Gast-DJs und Produzent*innen besucht. „Wenn im Studio Jan Schulte oder Orson vorbeischauen, werden damit auch unsere DJs unterstützt. So stärken sich alle gegenseitig”, erzählt Kaspar.
Deshalb ist für ihn gelegentliches Live-Video Broadcastings sehr wichtig. Dabei hat der neue Facebook-Algorithmus das Videostreaming fast unmöglich gemacht, sagt Kaspar. Berühmte Tracks würden oft stumm geschaltet oder der Stream verschwindet komplett, wenn er bekannte Tracks enthält. Deswegen will Callshop sich auf die Entwicklung eigener Streaming-Kapazitäten konzentrieren.
Zu den festen Callshop-Residents gehören Kaschiel, Jamal F und DJ Ungel. Sie repräsentieren Callshop als DJ-Familie auch bei den Veranstaltungen im Salon des Amateurs, im Golzheim und im Acephale in Köln. Besonders freut sich Kaspar über die Selector aus dem Callshop-Roster, die sich wie das Radio über überraschende Genrewechsel definieren, wie zum Beispiel Heavy Rotation und Penelope. “Im Radio kann man ein alternatives Repertoire repräsentieren. Ich unterstütze immer, wenn sich DJs im Radio anders als im Club ausdrücken.”
Im September startet Callshop neue Shows und Projekte: Ein zweites Studio in Leipzig mit lokalem Callshop-Programm wird eröffnet. Das Ziel ist “durch einen spielerischen Umgang die Szenen zweier Städten zu vereinen”. Die Radiovertreter*innen fliegen über die Kollaboration mit einer Düsseldorfer Kaffeerösterei nach Afrika, um an dem Lake of Stars Festival in Malawi eine Woche lang mit Locals Radio zu machen und das Programm nach Deutschland zu streamen. Callshop plant außerdem die Konzerte des Düsseldorfer Schauspielhaus mit einer Online-Präsenz zu unterstützen. Darüber hinaus will Callshop einen Merchandise- und Schallplattenladen eröffnen. “Wir wollen so viele Kooperationen mit Veranstaltern und Museen wie möglich aufbauen”, sagt Kaspar.
Die Zusammenarbeit mit anderen Webradios ist für Callshop natürlich auch wichtig. Die guten Beziehungen zu Radio 80000 aus München und dublab.de aus Köln sowie eine Einladung ins Cashmere Studio in Berlin fördern nicht den den musikalischen Austausch. “Was ich besonders schön am Radio finde, ist, dass marktförmige Beziehungen keine Rolle spielen. Beim Radio gibt es nur Zusammenarbeit, keine Konkurrenz. Man teilt oft die Ideologie mit den anderen Radios, aber nicht die Hörerschaft.” Zwar hat Kaspar mit dem Callshop-Team schon viele Projekte in Gang gesetzt, aber bei ihm entstand vor Kurzem noch ein weiterer spannender Traum: ein Festival, bei dem die Stages ausschließlich von Webradios kuratiert werden.