Foto: Agustín Farias (Or:la)
Wer auf seinem Feed den ein oder anderen viral gehenden Boiler Room-Ausschnitt mitbekommt, wird Or:la vielleicht schon einmal gesehen haben. Beim AVA Festival 2017 war es, als ein Raver vor der Kamera legendär ekstatisch ausrastete. Der DJ, neben der er herumzappelte, verhalf er dadurch zu mehr Bekanntheit. Ursprünglich aus Nordirlands zweitgrößter Stadt Derry stammend, machte sich Or:la zunächst in ihrer Studienstadt Liverpool einen Namen; dank ihrer Debüt-EP auf Hotflush schließlich auch in ganz UK. Inzwischen lebt sie in Berlin. Sie ist in dem Maße angekommen, dass sie mit ihrem neuen Label Céad selber unbekannten Produzent*innen eine Plattform bieten will. Mit der Presse hatte sie bisher nur schriftlich kommuniziert. Groove-Redakteurin Cristina Plett traf Or:la zu ihrem ersten persönlichen Interview.
Orlagh Dooley ist eine aufmerksame Person. Eine wertvolle Eigenschaft, das wird sofort ersichtlich. Ohne die wäre dieses Interview wohl kaum zustande gekommen. Denn als ich zur vereinbarten Zeit vor ihrer Haustür in einer ruhigen Straße in Berlin-Prenzlauer Berg stehe, finde ich ihren Namen am Klingelschild nicht. Kaum fünf Minuten unruhiges Warten und eine E-Mail an ihre Presseagentin später kommt Orlagh von alleine durch die milchverglaste Tür. Ihr war selbst eingefallen, dass nur der Name ihrer Mitbewohnerin auf der Klingel steht. „Entschuldige die ganzen Stufen” sagt sie, als wir die Treppe in den vierten Stock hochlaufen.
Erstaunlich bescheiden für eine Person, die in den vergangenen drei Jahren einen ziemlich rasanten Aufstieg hingelegt hat. 2012 erst spielte Or:la, wie sie sich als DJ nennt, ihren ersten DJ-Gig in einer Bar in ihrer nordirischen Heimatstadt Derry („Ich glaube nicht, dass mich damals jemand ernstnahm”). Sechs Jahre später und sie legte in einer sehr viel bekannteren Bar auf, der Panorama Bar. Ihre Sets sind geprägt von Breaks mit 90er-Trance-Einflüssen; mit einer Leichtfüßigkeit, die auf ihren eigenen Releases von Nachdenklichkeit begleitet wird. In die gleiche Richtung bewegt sich der Output ihres früheren Labels Deep Sea Frequency und der aktuellen Neugründung Céad. Ein Sound mit Wiedererkennungswert. Und hohem Trendfaktor im Jahre 2019.
„Are you there?”
Interviews hat sie dennoch erst wenige gegeben, unser Gespräch ist ihr erstes face-to-face-Interview. Denn Orlagh gilt als schüchtern, was ich vor allem daran merke, dass sie sich selbst nicht gern beim Reden zuzuhören scheint. Ihre Antworten sind kurz, die Pausen zum Überlegen lang. Das spiegelt ihre Umgebung: den aufgeräumten Esstisch, das stylish eingerichtete, fast ein wenig zu ordentliche Wohnzimmer der WG.
An schriftliche Interviews gewöhnt, möchte Orlagh im Vorfeld die Fragen sehen. Nichts Ungewöhnliches, gerade bei Künstler*innen mit noch wenig Presseerfahrung. Als sie vor dem Gespräch jedoch erst einmal ihren Laptop aus ihrem Zimmer holt und darauf die Antworten vorgeschrieben hat, bin ich doch ein wenig überrascht. Während des Gesprächs unterbricht sich Orlagh ab und zu und liest mir stattdessen Passagen ihrer Antworten vor, weil sie das Gefühl hat, manche Sachverhalte so besser ausdrücken zu können. Sie sagt, dass sie keinen Aspekt vergessen möchte, den sie als wichtig erachtet. Als sie über ihre Kindheit oder frühe Studienzeit spricht, zum Beispiel.
Eine gewisse Art von Ernsthaftigkeit und Kontrolliertheit, die auch in dem Video zu beobachten ist, das mindestens einen Anteil an Orlaghs heutiger DJ-Karriere hat: Ihr erstes Boiler Room-Set, aufgenommen am 5. Juli 2017 beim Ava Festival in Dublin. Auf YouTube hat das Video heute knapp 1,2 Millionen Klicks. Ein Ausschnitt daraus, von der Seite „Mr. Afterparty” auf Facebook gepostet, wurde sogar 3,5 Millionen Mal angesehen. Darauf läuft gerade der Break von „Are You There” im 95 Remix von Josh Wink, Orlagh dreht am CDJ herum. Doch der Grund, warum der Clip viral ging, befindet sich in der Crowd: Neben ihr steht ein dünner Typ in getigertem Hemd und weißer Sonnenbrille und rastet mit extrovertierten Bewegungen komplett aus. Er hebt die Arme, jubelt, wedelt mit seinen Händen sogar vor Orghlas Gesicht herum. Ihr ringt das jedoch nur ein kleines Lächeln ab. „Ich hab’ das eindeutig nicht richtig bis zum Ende des Sets bemerkt. Aber ich fand es sehr lustig”, sagt sie heute darüber.
Konzentration statt Hände in die Luft
Den konzentrierten Gesichtsausdruck hat sie beim Auflegen oft. „Die meiste Zeit bin ich einfach mit dem head in the game, anstatt mit den Armen zu wedeln oder so”, erklärt sie das. „Und ich habe ein ziemlich starkes resting bitch face”, fügt sie lachend hinzu. Aber selbst wenn gerade ein Track laufe und der Übergang vorbei ist: „Es gibt immer etwas, was du machen kannst.”
Als sie auf der Innervisions-Party während des Sónars in Barcelona spielt, kann ich das mit eigenen Augen beobachten. Orlagh ist tatsächlich permanent beschäftigt. Sie mixt die Tracks schnell rein und raus, lässt bei den Übergängen gerne mal zwei Tracks eine Weile lang parallel laufen. Für die Zeit – rund 18 Uhr – und das Setting – eine eher leere Tanzfläche –, ist ihr Sound jedoch erstaunlich fordernd. Sie spielt pumpenden House, acidlastigen Rave und natürlich ihre Trademark-Breaks. Eine in sich kohärente Mischung, die dennoch nicht gerade Warmup-Qualitäten besitzt. Vielleicht ist es eine Ausnahme, vielleicht das Resultat eines mit kurzen Sets vollgepackten Tourkalenders. Die vorherigen zwei Tage hat sie bereits an anderen Orten in Barcelona gespielt. „Drei Tage hintereinander sind okay, mehr wäre zu viel. Ich bin froh sagen zu können, dass das mein persönliches Limit ist”, sagt sie im Vorfeld der Barcelona-Gigs, während wir noch in Berlin sitzen.
Mit einem DJ-Club an der Uni fing es an
Wie die meisten DJs spielte Or:la in ihren Anfangstagen hingegen öfters das Warmup: „Ich mag es, das Opening zu machen, den Ton anzugeben.” Das tat sie zum Beispiel bei der Partyreihe, die sie in Liverpool mit Breakwave organisiert hatte, „Meine Nacht”. Nach Liverpool war sie 2012 zum Studieren gezogen. In Derry hatte ihr kurz zuvor Celtronic, eine Organisation die jährlich ein großes Festival veranstaltet und Studios für junge Musiker*innen bereitstellt, den ersten Gig in der Bar ermöglicht. „Ich hab einfach Musik gespielt. Ich wusste nicht richtig , was ich tat. Aber es war nett von ihnen, mir trotzdem diese Chance zu geben”, sagt sie. In Liverpool begann sie erst richtig mit dem Mixen und Produzieren.
Da weder sie noch Freund*innen von ihr Decks hatten, auf denen sie üben konnte, schloss sie sich einer „DJing society” an. Leute von der Universität organisierten so open-deck-nights: „Man tauchte in kleinen Bars auf und wir hatten den Raum für drei Stunden. Man schrieb seinen Namen auf eine Liste und es war first come, first serve. Jeder bekam rund 30 Minuten. Und dann spielten wir einfach. Ins kalte Wasser geschmissen”, erinnert sie sich. Später gründete sie selbst solch eine Gruppe. Statt die angehenden DJs sich selbst zu überlassen, zeigte sie ihnen das Auflegen. „Es war eine schöne Erfahrung, Leuten etwas beibringen zu können.”, sagt Orlagh, und ihre Stimme scheint sich kurz in der Erinnerung zu verlieren.
Sie selbst hingegen sieht sich von einer DIY-Mentalität geprägt. Dass sie das Mixen bei den open-deck-nights alleine lernte, sich anschließend Ableton selber beibrachte – beides führt sie auf ihre Kindheit zurück. Orlagh wuchs auf dem Land in der Nähe von Derry auf. „Meine Kindheit war viel: Sachen erschaffen, Sachen bauen, meine eigene Version von Sachen machen. Vor allem, weil unsere Möglichkeiten dort ziemlich begrenzt waren” Sie erzählt, dass sie als Zehnjährige mit ihrem Cousin selber Musik auf Kassette aufnahm und sie gemeinsam vor ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester kleine Konzerte gaben. Als junger Teenager zog sie mit ihrer Familie in die Stadt. Erst als sie auf die Volljährigkeit zuging, entdeckte sie elektronische Musik für sich.
Bring-your-own-booze-Party in einer alten Kantine
Vielleicht liegt es an dieser „Selbermachen-Einstellung“, dass Orlagh für ihre „Meine Nacht”-Partys, keinen Aufwand scheute. Die Partys fanden an Orten statt, die bisher nicht für Raves benutzt worden waren. Ein Riesenaufwand, jedes Mal Locations zu finden. „Wir fuhren einfach rum und sprachen mit Leuten. Es brauchte ziemlich viel Verhandlungsgeschick”, erzählt sie. Eine Videoaufnahme zeigt sie beispielsweise in der früheren Kantine eines Supermarkts spielen. Zudem verkaufte sie selbst Tickets, stand an der Tür, räumte nach der Party wieder auf – nur die Bar fiel weg, weil die Partys eine „bring your own booze”-Regelung hatten. Orlagh glaubt, dass das ihre Art aufzulegen beeinflusst hat: „Statt dass ich einfach irgendwo gebucht werde, auftauche und meine Tracks spiele, kenne ich glücklicherweise sagen, jede Rolle im Clubbing-Prozess zu kennen. Ich versetze mich in die Promoter hinein, ich versetze mich in die Tanzenden hinein. Ich denke, ich habe eine dreidimensionale Sichtweise auf das ganze Nachtleben.” Allen Faktoren versucht sie, Aufmerksamkeit zu schenken.
Auch mir. Kaum ist mein Glas Wasser ausgetrunken, fragt sie auch schon, ob ich noch mehr möchte. Den Menschen, die sie auf Tour trifft, bringt sie ebensoviel Interesse entgegen: „Ich werde mich immer an die Promoter erinnern, die eine Party organisiert haben, die mich besonders angesprochen hat.” Wer weiß, ob sie das in einigen Jahren immer noch von sich behaupten kann.
„Ich identifiziere mich sehr mit der irischen Szene”
Mit ihrer Labelarbeit gibt sie etwas zurück an die Szene. Bereits bevor sie selbst bekannt war, gründete sie 2017 mit Breakwave, ihrer Co-Organisatorin von „Meine Nacht”, das Label Deep Sea Frequency. Nach vier Platten, reich an Electro, Breaks und Energie, wurde es eingestellt. Doch nun macht Orlagh direkt weiter: Die erste Platte auf ihrem neuen Label Céad ist im Juli erschienen.
Céad, „Käid” ausgesprochen, ist dabei eine Hommage an ihre irische Herkunft. Es bedeutet „100” auf Irisch, auch wenn sie selbst die Sprache nicht spricht. „Es ist eine sterbende Sprache”, erklärt Orlagh. Aber: „Ich wollte einen Namen, der mit Irland zu tun hat, um mich wieder als irische Künstlerin zu positionieren. Weil Derry theoretisch zum UK gehört, könnte man mich als UK-DJ einordnen, aber ich identifiziere mich sehr mit der irischen Szene”, sagt sie, und da fällt auf, dass ihr irischer Akzent überraschend leicht ist. Sie ist selbst mit einer Reihe an irischen Künstler*innen befreundet, die zunehmend international unterwegs sind, wie Sally C oder Cromby.
„Es fühlt sich toll an, quasi der erste Schritt auf der Leiter zu sein. Leuten eine Möglichkeit zu geben und zu sehen, wie sie sich entwickeln”
Die erste Platte auf ihrem neuen Label stammt jedoch von Lewski, einem Niederländer – und ziemlichen Newcomer. Anderen Leuten eine Plattform zu bieten, gerade das mag sie: „Es fühlt sich toll an, quasi der erste Schritt auf der Leiter zu sein. Leuten eine Möglichkeit zu geben und zu sehen, wie sie sich entwickeln”, sagt sie. Als zweiter Release war eigentlich etwas von ihr selbst geplant. Denn fürs Produzieren nimmt sich Orlagh trotz zunehmender Verpflichtungen als DJ extra Zeit: „Unter der Woche nehme ich für gewöhnlich wenig Gigs an, denn das ist meine Zeit um mit Produzieren und Labelarbeit aufzuholen.” Viel benötigt sie dafür nicht – sie produziert in ihrem WG-Zimmer mit einem Laptop und Monitorboxen: „Du kannst eigentlich alles auf einem Computer machen. Du brauchst keine teure Hardware.”
Mit der eigenen Veröffentlichung wird es jedoch wohl noch etwas dauern. Stattdessen lässt sie erneut einem Newcomer den Vortritt, der ihr ein paar Tracks geschickt hatte. „Der neue Release passt sehr gut nach dem Lewski-Release, vom Klang her”, erklärt sie. Orlagh spielt mir auf dem Laptop ein paar Ausschnitte der Platte vor – erneut zum Teil flirrender und leichtfüßiger Electro, an einigen Stellen mit Laserstrahlen pumpend. Es passt in seiner Ähnlichkeit zur Platte von Lewski fast zu gut. Auch die Covergestaltung wird erneut von Grafikdesigner Patrick Savile stammen: „Jedes Artwork geht von einem Zitat aus, dass sich um Realität und Bewusstsein dreht.”
Ein hohes Bewusstsein für Céad genauso wie für ihre Umgebung, das scheint Orlagh auszuzeichnen. Ihre für das Interview vorgeschriebenen Antworten hat sie jedoch letztendlich nur an wenigen Stellen gebraucht. „Es war besser als ich dachte. Ich habe ganz vergessen, dass ich dabei war ein Interview zu geben”, sagt sie am Ende des Gesprächs, mit merklicher Erleichterung.