Früher lernten viele die elektronische Musik über FM-Radiosender kennen. Robert Hood etwa erfuhr erst durch Radiohosts und DJs wie Electrifying Mojo, dass diese Art von Musik überhaupt existiert. Frühere Generationen von Groove-Leser*innen wurden durch die HR3-Clubnacht mit Sven Väth an Techno herangeführt. Die digitale Revolution des 21. Jahrhunderts hat eine neue Form von Radio hervorgebracht – das Web-Radio. Diese Wende hat eine neue, kollaborative Art der Kommunikation zwischen Radiomacher*innen und Community geschaffen. Das Internet ermöglicht es dem musikalischen Untergrund, sich über lokale und nationale Grenzen hinweg zu verbreiten und Gleichgesinnte zusammenzuführen.
Wie sieht die moderne Radiolandschaft im deutschsprachigen Raum aus? Welche Erfolgsmodelle und interessanten Formate haben sich bereits etabliert? Wie wirken die lokalen Musikszenen und Radios aufeinander und was entsteht daraus? Im Rahmen unserer Serie “Web-Wellen” haben wir diese Fragen sieben wichtigen Webradios aus dem deutschsprachigen Raum gestellt. Tune in!
Vor Köln, Düsseldorf, Frankfurt am Main, München und Bern ist die erste Station auf unserer Reise durch die deutschsprachige Webradiolandschaft – Berlin. Diese Stadt ist ein urbaner Magnet für Kreative aus aller Welt. Durch die Globalisierung entsteht hier ein Raum für lokale und internationale Communitys, für die Radio ein ideales Medium ist, um über die Grenzen ihrer Online- und Offline-Präsenz gemeinsame Plattformen zu erschaffen.
Auf der Suche nach attraktiveren Lebensperspektiven sind die Gründer von RBL Berlin, Valerio Timpanaro, Matteo Giordano und Tommaso Burdet, vor drei Jahren aus Turin nach Berlin gezogen. Zwar sind sie der politischen Entwicklung in Italien gegenüber kritisch eingestellt, dennoch wollten die Freunde die Verbindung zu ihrer Heimat nicht aufgeben. Einer der wichtigsten musikalischen Knotenpunkte war für sie Radio Banda Larga (kurz RBL), ein etabliertes Turiner Community-Radio mit großem kulturellen Einfluss. Als Radiomacher wollten die Freunde von Berlin aus über die lokale Szene der Stadt berichten, und zwar aus ihrer italienischen Nomadenperspektive. Am Anfang wollten die Freunde nur einen einzigen, wöchentlichen Wortbeitrag aus Berlin senden. Die große, italienische Community Berlins hatte aber schnell Lust daran, sich an ihrer Idee zu beteiligen. Durch die beruflichen und freundschaftlichen Kontakte entstand sofort ein Kernteam von DJs, Kulturaktivist*innen, Designer*innen und Maler*innen mit italienischen Wurzeln, die sich zusammen als Radio-Community etablieren wollten. So wurde im März 2017 RBL Berlin geboren.
Nach den ersten Wochenende-Streams über den Server des Turiner RBL aus der Bar-Galerie LaBetto Lab in Berlin-Neukölln merkte die junge Crew, dass Community des Berliner Ablegers von RBL überhaupt nicht italienisch war. „Es ergab keinen Sinn, ein italienisches Ghetto entstehen zu lassen“, erzählt Valerio, einer der RBL-Mitgründer. Die italienischen Netzwerke haben hauptsächlich bei der Gründung eine entscheidende Rolle gespielt, sobald das Radio in Betrieb war, gesellte sich die internationale Berliner Szene hinzu. RBL schuf sich seinen Ruf und seine Community vor allem durch erfolgreiche Veranstaltungen, wie zum Beispiel durch die regelmäßige Teilnahme am Karneval der Kulturen mit einem eigenen Party-Bus, sowie durch eine Residency im Weddinger Club Anita Berber bei der Alles Palletti-Party. Seinen festen Studiositz hat RBL nun in der Kreuzberger Künstlerresidenz GlogauAir.
Die logische Konsequenz aus dem zunehmenden Erfolg ihrer damals noch eher amateurhaften Radioproduktionen war die Initiierung eines Crowdfunding-Projekts. „Das war wirklich eine Notwendigkeit. Ab einem bestimmten Zeitpunkt hatten wir verstanden, dass wir mit unseren Mitteln und unserer Crew nur bis zu einem bestimmten Niveau kommen können. Was uns fehlte, war Equipment“, erzählt Valerio. Um über ihre Zukunft zu entscheiden, versammelte sich die Community von vielleicht 20 oder 30 Personen zum zweiten Geburtstag des Radios. Man stand vor der schwierigen Entscheidung: „Entweder suchen wir uns einen Sponsor und verraten unsere Mission als Non-Profit-Verein. Oder wir schaffen es durch unsere Community.“ Ein Crowdfunding schien die beste Lösung zu sein. Im März 2019 wurde die Kampagne mit folgenden Zielen gelauncht:
Innerhalb zweier Crowdfunding-Monate führte RBL eine Reihe von Veranstaltungen jeglicher Art durch: Workshops für DJs und Radiomacher*innen, Elektronik-Jams mit Malereibegleitung, Open-Mic-Sessions, ein Grill-Open Air am 1. Mai, eine Kollaboration mit dem East Side Radio, ein Musikprogramm fürs MetaDada-Festival oder „Alles Paletti“-Partys.
„Das wäre aber überhaupt nicht möglich gewesen, wenn wir zum damaligen Zeitpunkt nicht ausreichend Mitglieder in unserer Community gehabt hätten“, – erzählt Valerio. All das wurde zwar ehrenamtlich organisiert, aber auf überraschend professionellem Niveau durchgeführt. Das Crowdfunding-Ziel von 10.000 Euro wurde erreicht und ermöglichte es RBL Berlin den nächsten Schritt zu machen: Das sechsköpfige Redaktionsteam erwarb entsprechend der Crowdfunding-Ziele CDJs und Turntables, Transportkisten, Laptops und Videoequipment, um die Professionalisierung voranzutreiben.
„Während des Crowdfundings haben wir nicht nur das Geld für Equipment, sondern auch menschliches Ressourcen dazugewonnen“, erzählt uns Valerio. Deshalb musste das Radioprogramm auf der neuen Webseite komplett neu gestaltet werden. „Jetzt geht unsere Community zum ersten Mal über unseren Freundeskreis hinaus,” freut er sich.
Ab Juli produziert eine neue Generation von Radiomacher*innen ihren Pilot Shows. Da wäre zum Beispiel Simon Edwards von BBC Radio oder der ehemalige LCD Soundsystem Gitarrist Tyler Pope mit einem internationalen, elektronischen Musikprogramm. Da ist Wxmen, der weibliche und queeren Künstler*innen vorstellt. Die ersten Gäste bei den frisch eingeführten, regelmäßigen Samstags Videostreams waren Nikita Zabelin, Cheh, Introversion und Titonton. Auch bereits etablierte RBL-Shows wie „87.90“ von Giacomo Valles und Marko „Oh Boy!“ Esposito, „Easy on Palate“ von Frau Brown und Talkshows von Francesca Placa und Sezer Erkilinc finden in dem Programm Platz.
Nachdem RBL durch das Crowdfunding die erste finanzielle Hürde nahm, hat sich das Radio vorgenommen, die Ausbildung des Nachwuchses in die Agenda aufzunehmen. „RBL bleibt ein Radio für Amateure, für Leute, die den ersten Einstieg in die Radio- und Musikwelt suchen“, sagt Valerio stolz. Natürlich versuchen die erfahrenen Radiomacher*innen, dem Radio-Nachwuchs technisches Know-How und ein paar essentielle Radio-Skills mitzugeben. So schafft das Radio es, Professionalität aufzubauen, ohne seine DIY-Attitüde zu verlieren.
Als gemeinnütziger Verein wird RBL Berlin durch Mitgliedsbeiträge, Spenden und Veranstaltungen finanziert. Die nächste Crowdfunding-Kampagne ist schon in Planung. Dabei ist das Spendensammeln in Turin einfacher als in Berlin, erzählt Valerio. Als in Turin einmal das Equipment gestohlen wurde, hatte man schnell das Doppelte der erforderlichen Summe beisammen. Trotzdem findet er die Bereitschaft der Berliner Community, ehrenamtlich ihre Zeit und Kraft in das Radio zu stecken, im Vergleich etwas größer – und dass, obwohl alle Mitglieder einen Day Job haben und einige darüber hinaus auch Musikkarrieren meistern.
Auf die Frage, wie man eine solch feste Community von Mit- und Querdenkern schafft, blickt Valerio auf die Gründerzeit zurück. Er glaubt, dass das Erfolgsrezept RBLs darin besteht: „Immer offenen Strukturen zu bewahren, durch die alle Radioaktivist*innen sich als Teil von etwas Großem und Wichtigem fühlen können.“