Smartphone, Smarthome, neuartige Prothesen oder die Kampfroboter von Boston Dynamics: Unser Leben wird immer stärker von Maschinen durchdrungen. Der japanische Cyberpunk-Filmklassiker „Tetsuo – The Iron Man“, der vor 30 Jahren in die Kinos kam, hat das Obszöne und Transgressive des menschlichen Fortschrittsglaubens in sexuell aufgeladenem Body Horror dargestellt. Er spielt die Durchdringung des menschlichen Körpers durch Maschinen auf die denkbar drastischste Weise durch. Nils Schlechtriemen geht der Geschichte des bis heute weitgehend unbekannten Films nach und bettet ihn in den Cyberpunk- und Industrial-Zusammenhang ein. 

„In seinem täglichen Gebrauch von Technologie wird der Mensch physisch fortwährend von ihr verändert und findet im Gegenzug immer neue Wege, auch sie zu verändern. Wie die Biene in der Pflanzenwelt wird er sozusagen zu den Fortpflanzungsorganen der Maschinenwelt, die es ihr ermöglichen zu befruchten und immer neue Erscheinungsformen zu entwickeln.“ (Marshall McLuhan)

Sommer 1989. Durch den Ostblock weht der Duft des Umsturzes, aus dem ARPANET geht der erste kommerzielle Internet Service Provider The World hervor, und in Japan bringt die baburu keiki, die „bubble economy“, mit ihren Investitionsexzessen eine aus allen Nähten platzenden Technologienation an ihre volkswirtschaftlichen Grenzen. Vor dem Hintergrund dieser kulturellen und technologischen Verwerfungen ändert die Industrial Music im Westen wie im Osten ihr Gesicht und gibt den Zeitgeist medial wirksamer, zugleich aber auch brachialer wieder als je zuvor. „Pretty Hate Machine“ von den Nine Inch Nails und Ministrys „The Mind Is A Terrible Thing To Taste“ stehen als mehr oder minder exemplarische Angebote Richtung Mainstream auf der einen Seite. Die radikalen Absagen an ebenjenen von Coil, Godflesh, Muslimgauze oder Whitehouse auf der anderen. 

Für manche war die Ausdifferenzierung zwischen Kult und Kommerz der nächste Schritt in der musikalischen Entwicklung des Genres. Für andere ein Bärendienst, letztlich gleichzusetzen mit einer Verwässerung subversiver Standards in Sound und Ideologie, die dem Industrial-Begriff bis dahin zugeschrieben wurden. Den sell-out witterten dann vor allem Alteingesessene aus dem Vereinigten Königreich und Deutschland, die während der Achtziger das Genre zuerst definierten und sich als ikonoklastische Strömung verstanden.

Tokio: Von Staub, Dunst und Schwüle zehrender Moloch

Weit weg vom szeneinternen Gedränge um die Deutungshoheit des Industrial-Erbes inszeniert zeitgleich ein junger Tagelöhner und Theatergruppenleiter in Tokio seinen ersten schwarzweißen 16mm-Film, der am 1. Juli 1989 in Tokio Premiere feiert. Shinya Tsukamoto ist damals 29, sein Komponist und Metallschrottschlagzeuger Chu Ishikawa ganze sechs Jahre jünger. Tsukamoto kann mit den beiden Kurzfilmen „The Phantom Of Regular Size“ und „The Adventures Of Electric Rod Boy“ Erfahrungen als Regisseur und Cutter vorweisen, Ishikawa ist mit dem Projekt Zeitlich Vergelter schon eine Art Industrial-Pionier Japans.

Beide haben notwendigerweise Erfahrung in der DIY-Praxis und sind im Betondschungel Tokios aufgewachsen, einer der damals bereits größten Metropolregionen der Erde. Faszination ebenso wie Abscheu für diesen von Staub, Dunst und Schwüle zehrenden Moloch, hat zumindest Tsukamoto laut eigener Aussage von klein auf begleitet. In der expressionistischen Ästhetik seiner Bilder, aber auch in der febrilen, wuchtigen Intensität seiner Klänge, geriet „Tetsuo – The Iron Man“ so zu einem in vielerlei Hinsicht stilbildenden Moment der Cyberpunk-Kultur und Industrial Music, dem bis heute nur selten angemessen gehuldigt wird.

„Eisen, Fleisch und Schaltkreise werden zu komplementären Aspekten einer Evolutionsstufe, die von den Up-Wingers der Zukunftshungrigen im Silicon Valley schon lange herbei geträumt wird.“

In schwarzweiß und frenetischem Pacing hastet der Film durch seinen knapp 70-minütigen Plot, oft nicht viel mehr als eine obszöne, wahnwitzige Sequenz nach der anderen, begleitet von donnernden Metal-Percussion, Werkzeugen, modulierten Kreissägen, Stahltonnen und ominösen Synthmelodien aus dem Equipment Chu Ishikawas. Dialoge sind rar und bestehen oft nur aus wenigen wiederholten Äußerungen. Zwar zählt vor allem das direkte audiovisuelle Erleben. Dennoch birgt der Film in vielen Szenen eine Ästhetik, die sich diverser Ideen der frühen italienischen Futuristen, über die Kybernetiker bis zu den modernen Transhumanisten, bedient, ohne das alles über Gebühr zu intellektualisieren: die Schönheit der Geschwindigkeit, das Überkommen unserer sterblichen Hülle, mindestens aber ihre exzessive technologische Erweiterung zur „Wetware“. Nicht nur die Metamorphose des Protagonisten, der vom rastlosen Geist eines Metallfetischisten, einem Dämon aus Draht heimgesucht wird, tätowiert sich als Sinnbild für den Übergang zum nächsten Menschen ins Gedächtnis. 

Industrielle Albträume und halluzinogene Körperwelten

Besonders der Soundtrack, stellenweise so brutal und stringent wie das Hämmern eines CNC-Stanzers („DH“), dann aber auch oft merkwürdig melodisch und rituell („CL“), versinnbildlicht die Zusammenkunft von körperlicher und kybernetischer Deutung unseres Wesens, unserer Kreationen („MP“). Im Lebensraum Tokio ist kaum noch erkennbar, wer für wen erschaffen wurde. Eisen, Fleisch und Schaltkreise werden zu komplementären Aspekten einer Evolutionsstufe, die von den Up-Wingers der Zukunftshungrigen im Silicon Valley schon lange herbei geträumt wird. Durch virtuose Stop-Motion-Techniken, furiose Cuts und Close-Ups zeigt Tsukamoto, wie sich das willenlos Amorphe der Natur mit dem Obszönen und Transgressiven des menschlichen Fortschrittsglaubens in sexuell aufgeladenen Body-Horror-Sequenzen vermählt. Der Prototyp der neuen Mensch-Maschine wird zwar härter, schneller, stärker sein, aber auch seines Willens und seiner Empathie beraubt. „Together, we can turn this fucking world to rust“ lautet sein Credo gen Ende. Technik braucht den Menschen so sehr wie der Mensch die Technik – noch. Können sie sich diese Welt nur im Konzert untertan machen? Oder wird der eine vom anderen überholt?

„Tetsuo ähnelt einer Low-Budget-Fiebervision zweier Künstler, denen die Entwicklungen der letzten dreißig Jahre in dreißig Sekunden durchs Hirn rauschten und blankes Entsetzen auslösten.“ 

In „Assimilate: A Critical History Of Industrial Music“ schreibt der Musikhistoriker S. Alexander Reed: „Die Verwandtschaft von Cyberpunk und Industrial-Musik macht Sinn, angesichts der Wurzeln beider in der Science Fiction und, zu einem geringeren Anteil, im Ökoterrorismus – dieser radikalen Verteidigung der letzten Rudimente einer Welt bar jeder Ökonomie, Religion, Sprache und Vernunft, wie ein Traum aus der Feder von William S. Burroughs. Ein zentrales Narrativ von Cyberpunk und Industrial-Musik ist dabei das des abtrünnigen Technologienutzers, der das System mit seinen eigenen Tools aus den Angeln hebt.“ Während Tsukamotos hektischem Sequenz-Parforceritt entsteht dieser biotechnologische Antagonismus von innen, äußert sich erst in Details, übernimmt dann Körper und Wesen und verhindert letztlich die Selbstkontrolle des Individuums. Optisch zeigt sich „Tetsuo“ bei der Vermittlung dieser Zustände nicht nur deutlich vom Anime „Akira“ oder Sogo Ishiis „Burst City“ inspiriert, sondern auch von den industriellen Albträumen David Lynchs („Eraserhead“), den halluzinogenen Körperwelten David Cronenbergs („Rabid“; „Videodrome“) oder dem unkonventionellen Experimental-Horror in Nobuhiko Ōbayashis „Hausu“. Dass sämtliche Darsteller indes aus Tokios experimentellem Theatermilieu kommen, wird in vielen Szenen anhand überschwänglicher Performances in expressionistischer Lichtkomposition deutlich.

Tod nach unbekannter, längerer Krankheit 

Ein audiovisuelles Gemeinschaftswerk, erscheint „Tetsuo“ in der Rückschau wohl eher unbeabsichtigt als cineastischer Gegenentwurf zur naiven Euphorie der Tech-Community. Die hatte die Entwicklung von Computer, KI und Internet Anfang der 90er noch weitgehend als bedingungslos befreiendes Moment ohne Korruptionsmöglichkeiten gesehen. Technologischer Fortschritt hat jedoch naturgemäß immer seine Kehrseiten. Das machen in unseren Zeiten Unterhaltungsserien à la „Black Mirror“ und Filme wie „Ex Machina“ oder „Her“ auf leicht verdauliche Weise ebenso deutlich wie die ganz reale, sukzessive Agglomeration des Netzes, der Gentechnik und Robotik durch bekannte wie unbekannte Konzernplayer. „Tetsuo“ ähnelt dagegen einer Low-Budget-Fiebervision zweier Künstler, denen die Entwicklungen der letzten dreißig Jahre in dreißig Sekunden durchs Hirn rauschten und blankes Entsetzen auslösten. 

Gleichzeitig ist der Soundtrack Chu Ishikawas unter der Wirkung musikalischer Einflüsse von Lou Reed über 23 Skidoo bis Nitzer Ebb, von der „Stahlmusik“ Einstürzender Neubauten über frühe Prog-Electronics bis zum krachenden Werkzeug-Punk seiner eigenen Band Zeitlich Vergelter ein Zeugnis des Transits, den die Industrial-Musik ab 1989 durchlaufen sollte. Auf der einen Seite die definitive kommerzielle Öffnung des Genres während der 90er. Auf der anderen ein Überleben ihrer extremsten experimentellen Formen im Untergrund – auch in Japan. Als einer seiner fähigsten Vertreter starb Ishikawa 2017 nach unbekannter längerer Krankheit im Alter von 51 Jahren. Sein wegweisender Soundtrack für Shinya Tsukamotos Debütfilm wurde 2010 erstmals in vollständiger Original-Fassung bei Sony Music Japan International als 3CD-Box mit massig Bonusmaterial veröffentlicht. Beide feiern heute ihren 30. Geburtstag.

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