Foto: Kornelia Binicewicz (Alle Fotos: Daniel Jarosch)

Das CTM Festival und das Atonal in Berlin, das Unsound in Krakau oder Institutionen im eigenen Land wie Hyperreality in Wien, das Elevate in Graz und das Donaufestival in Krems: Es gibt viele Festivals, die ein ähnliches Konzept verfolgen wie das Heart of Noise – experimentelle und überwiegend elektronische Musik mit schrägem Pop und viel Leftfield-Dance-Material kommen zusammen und suchen Anschluss an andere Kunstrichtungen. Aber nicht allein die Alpenkulisse von Innsbruck machte das Festival in seiner mittlerweile neunten Ausgabe zu etwas Besonderem. Sondern auch eine Reihe von Konzerten, die im Ganzen so wundervoll heterogen wie für sich genommen überwältigend waren.

Wo andere Stadtfestivals sich häufig über mehrere Veranstaltungsorte aufteilen, war das Heart of Noise 2019 erstmals auf das Haus der Musik in der Innsbrucker Innenstadt beschränkt – und eroberte dennoch den öffentlichen Raum, so gut es nur ging. Und das ging sehr gut. An den drei Festivaltagen spielten eine Reihe von Live-Acts auf dem Vorplatz des imposanten Baus, der mit seiner slicken schwarzen Außenfassade einen starken Kontrast zur k.-und-k.-Architektur der Stadt und dem dahinterliegenden Panorama aufmacht. Am Freitag kämpfte der Schlagzeuger Andrea Belfi zwar noch sichtlich mit dem Föhn, der an diesem Tag über Innsbruck fegte. Doch schon am Samstag zeigte sich die Windlage entspannter – die Ambient-Produzentin Kara-Lis Coverdale und die Performance- und Klangkünstlerin Maja Osojnik spielten dennoch unter bewölktem Himmel.

Heart Of Noise 2019
Andrea Belfi im Para Noise Garden am Freitag. Foto: Daniel Jarosch

Erst am Sonntag zogen die Konzerte im sogenannten “Para Noise Garden” ein breiteres Publikum an. Nachdem Guido Möbius und Andi Stecher ihr Feedback-Post-Rock-Projekt G.A.M.S. zum ersten Mal live präsentiert hatten, mixte DJ Raph ethnographische Aufnahmen mit Beats, die sich zwischen entspanntem Downbeat und jackendem House einpendelten. Es war eine eklektische, politisierte Mischung von Sounds, die der Kenianer präsentierte – er selbst musste zur Recherche für sein Debütalbum Sacred Groves nach Bayreuth reisen, um dort im Archiv des Iwalewahauses der Universität an sein Ausgangsmaterial zu bekommen – die Sounds der Heimat, bewahrt in weiter Ferne. Eine zynischere Metapher für die Folgen des deutschen Kolonialismus ist eigentlich nicht vorstellbar. Getanzt wurde dennoch, und das nicht zu knapp: indische und chinesische Touri-Gruppen, junge und alte Innsbrucker Locals und das angenehm durchmischte Heart-Of-Noise-Publikum ließen sich in den dicht geschichteten Rhythmen treiben. Ein einmaliger Anblick, gerade in einer Stadt wie Innsbruck – hier in Tirol sieht alles wie geleckt aus, hier warten noch alle vorm Überqueren der Straße auf Grün und macht die Mehrheit in Tirol trotz grüner Hauptstadt ihre Kreuzchen bei ÖVP und FPÖ.

Umso kurioser als die spontane Zusammenkunft war noch wenige Stunden zuvor der “Tramatic Ride” ausgefallen. In einer Tram zuckelten rund hundert Festival-Gäste von der Innsbrucker Innenstadt aus durch die Berglandschaft, immer vorbei an einem Spalier von Kruzifixen und Anwohner*innen, die sich erst wunderten und dann amüsiert winkten. Der Sound dazu kam auf der Hinfahrt von Mika Motskobili, einer georgischen Klangkünstlerin. Unter dem Namen Vo Ezn füllte sie die Waggons mit einer Art High-Definition-Ambient-Noise, der an die ausdefinierten Klangwelten des japanischen Künstlers Aube ebenso erinnerte wie an die Sähkö-Ästhetik von Mika Vainio und anderen. Hier klang selbst die Stille zwischen den einzelnen Splitter-Sounds beeindruckend. Für die Rückfahrt übernahm das Ogris-Debris-Mitglied Zanshin die, na ja, Bühne, soll heißen einen Sitzplatz im Mittelteil der Tram. Atmosphärischer Techno, der sich langsam zu Acid verhärtete und schließlich bei der Einfahrt in die Innenstadt auf bristolischen Basssalven endete. Zwingend tanzbare Musik, trotz aller Gleichgewichtsschwierigkeiten im sich bewegenden Gefährt.

Gazelle Twin am Samstag. Foto: Daniel Jarosch
Gazelle Twin am Samstag. Foto: Daniel Jarosch

Überhaupt: Tanzen. “Don’t Stop the Dance” lautete das diesjährige Motto des Heart Of Noise, doch hin und wieder fand das Publikum kaum den Anfang. Nachdem Ben Vince auf dem Dach eines zentral gelegenen Hotels mit bester Aussicht aus Saxofon-Loops abstrakte Soundscapes bastelte und mit dem gelegentlichen Beat unterlegte, tat sich am Samstagnachmittag noch recht wenig. Auch dann nicht, als die polnische DJ und Labelbetreiberin Kornelia Binicewicz mit einer fantastischen Selektion von überwiegend unshazambaren türkischen und arabischen Funk-, Disco- und Pop-Hits aufwartete. Ein bisschen Warmwerdezeit musste immer gegeben sein, bevor Bewegung aufkam.

Tatsächlich setzte das Gros der Musiker*innen allerdings auf eigentlich untanzbare Musik. Maria W. Horn führte am Freitag ihren konzeptuell überfrachteten und leider recht blutleeren Noise-Sound vor, bevor mit Jeck / Grill / Lemieux drei Altmeister der narkoleptischen Drone-Musik ihr Publikum im besten Sinne des Wortes auf den Boden drückten. Eingerahmt indes wurden sie von einem Set Aja Irelands und des Kollektivs AkhtamarII, welches das diesjährige Auftragswerk des staatlich geförderten Festivals beisteuerte – eine recht krude, opernhafte Performance, bei der nie ganz ersichtlich wurde, wann sie anfing, endete oder wo überhaupt die Grenze zwischen Improvisation, Masterplan, Künstler*innen und Publikum verlief. Viele Kontraste in nur einer einzigen Show, deswegen aber eigentlich fast schon archetypisch für das Heart Of Noise.

Drew McDowall und Florence To. Foto: Daniel Jarosch

Es wurden über das gesamte Wochenende über zwar viele Zusammenhänge, Anknüpfungspunkte und Parallelen hörbar. Die drei Sets am Samstagabend beispielsweise gingen fließend ineinander über: Das überwältigende Konzert von Thomas Ankersmit, der seinem Publikum mithilfe eines Modularsystems otoakustische Emissionen in die Ohren drehte, wurde zwar von Phill Niblock abgelöst, der aber saß eigentlich nur versunken da und lauschte seiner eigenen Musik zu, während in körnigen Doku-Aufnahmen die Arbeit thailändischer Landwirt*innen in den Siebzigern über eine Leinwand flimmerte – es spielte zuerst Ankersmit ein gemeinsames Stück, dann setzte sich die Cellistin Lucy Railton auf die Bühne, um noch mehr Niblock zu spielen, bevor sie selbst alleine auf der Bühne zu hören war. Drew McDowall und Florence To, die das Album Time Machines von McDowalls Projekt Coil als A/V-Show neu interpretierten, schlossen da nahtlos an. Ein einziger Fluss von Sound und Licht zwischen schrillem Modular-Noise und elegischen Minimal-Drones.

Wichtiger aber noch waren die Widersprüche: Was hat der Performance-orientierte Industrial-Sound von Gazelle Twin mit dem nachkommenden Digital-Hardcore-Geballer von Christoph de Babalon zu tun? Wenig wohl. Aber das ist doch eigentlich umso schöner.

Dengue Dengue Dengue. Foto: Daniel Jarosch
Dengue Dengue Dengue. Foto: Daniel Jarosch

Wie sehr die das Festival prägenden Kontraste die Gesamterfahrung bereicherten, zeigte sich insbesondere am Sonntag. Nachdem DJ Raph sein Set draußen beendete, einem tanzenden Kind eine CD in die Hand drückte, und mit schüchternem Lächeln in Richtung Backstage schlurfte, eroberten im Haus der Musik ganz andere Klänge den Raum: Attila Csíhar – unter anderem durch seine Arbeit mit Sunn O))) bekannt – und Drummer Balázs Pándi brachten als Hiedelem geloopten Kehlkopfgesang mit Noise, Free-Jazz-Spirit mit metallischer Schwere zusammen. Intensiver Krach, böse Musik, eine radikale Ganzkörpererfahrung. Danach aber? Cumbia, oder zumindest eine Interpretation davon. Dengue Dengue Dengue brachten eine komplexe und doch mitreißende Synthese der Rhythmen ihrer peruanischen Heimat auf die Bühne, die durch futuristische Visuals ergänzt wurden, welche die afro-peruanische Diaspora in den grellsten Tönen präsentierte. Taumelte der Saal noch wenige Minuten zuvor in Trance auf der Stelle, wurde nun kollektiv ausgerastet. Selbst Csíhar, Frontmann der extremsten Metal-Bands der letzten 30 Jahre, wippte am Bühnenrand mit.

Die „The Hakke Show“ von Gabber Eleganza. Foto: Daniel Jarosch.
Die „The Hakke Show“ von Gabber Eleganza. Foto: Daniel Jarosch.

Das letztlich waren die Effekte, welche die diesjährige Ausgabe des Heart Of Noise zu einem intensiven ästhetischen Wechselbad machten. Noch bevor Peverelist – eingesprungen für das Nyege-Nyege-Mitglied Jay Mitta, dem von deutschen Behörden ein Schengen-Visum verweigert worden war – das Tempo mit zappeligem Jungle anhob und an die verbliebenen Nyege-Nyege-Mitglieder Bamba Pana und Makaveli übergab. Bevor das Festival von Gabber Eleganzas “The Hakke Show” in den frühen Morgenstunden am Montag auf sein Ende zugepeitscht wurde. Ja, bevor das Tempo mit aller Brachialität nach oben gepegelt und der Slogan “Don’t Stop the Dance” zum bissigen Imperativ wurde, ging es hin und her durch Klangwelten, die mal spärlich ausgestattet und mal überbordend waren. Die sich aneinander rieben, einander aber manchmal auch den Staffelstab übergaben. Die den öffentlichen Raum eroberten oder dazu einluden, sich möglichst abzuschotten. Die, kurz gesagt, das Heart Of Noise zu einem einzigartigen Festival machten. In seiner Größenordnung, in Österreich, in Europa und darüber hinaus: Es gibt nichts Vergleichbares. Don’t Stop the Noise!

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Kristoffer Cornils war zwischen Herbst 2015 und Ende 2018 Online-Redakteur der GROOVE. Er betreut den wöchentlichen GROOVE Podcast sowie den monatlichen GROOVE Resident Podcast und schreibt die Kolumne konkrit.