Foto: Marcello Giordani (links) und Alessandro Parlatore (rechts) sind Marvin & Guy. Foto: Presse.
Über den Namen Marvin & Guy stolperten viele erstmals 2012 in Zusammenhang mit Veröffentlichungen des japanischen Disco-Edit-Labels Let’s Get Lost. Ein Jahr später verließen Marcello Giordani und Alessandro Parlatore mit der Ecstasy-EP auf On The Prowl! die Deckung der Anonymität. Seitdem bewegt sich die Kurve ihrer Beliebtheitswerte nur in eine Richtung: steil bergauf. Als DJs gehen Marvin & Guy in weltweit maßgeblichen Clubinstitutionen wie der Panorama Bar, dem DC10 oder dem Glasgower Sub Club mittlerweile ein und aus.
„Marcello hat mich einfach eines Tages anrufen und vorgeschlagen, gemeinsam Partys zu veranstalten“, erinnert sich Alessandro Parlatore, wie es zum ersten Kontakt zwischen ihm und Marcello Giordani kam. Seit 2011 betreiben sie gemeinsam das Duo Marvin & Guy. Heute sind sie gern gesehene Gäste großer Events – gestern Acapulco, heute London, morgen Warschau, auch eine Boiler-Room-Show haben sie bereits absolviert, natürlich. Ihre Pressefotos zeigen vorzugsweise zwei Hipster mit Sonnenbrillen beim Besteigen flacher Sportwagen. Oder Entsteigen. Manchmal stehen sie auch einfach nur daneben.
Zu Beginn der Zehnerjahre waren beide im oberitalienischen Parma als DJs unterwegs – eine Tatsache, die in der knapp 200.000 Einwohner zählenden Stadt in der Po-Ebene weder dem einen noch dem anderen verborgen blieb. Ihre erste gemeinsame Aktivität sei eine Party namens „Sage Disco“ gewesen: „Ein Flop“, so Parlatore, der schlaksigere von beiden, – „ein Superflop!“ wirft Giordani ein – handelte es sich doch um die Gestaltung des Sonntagabends in einer regulären Diskothek. Doch wenige Monate später fand sich eine ideale Location für eine Partyreihe, der sie in Anlehnung an David Mancusos legendäre Loft-Partys den Titel „Apartment“ gaben. Statt wie befürchtet gleich bei der nächsten Gelegenheit Gegenstand polizeilicher Ermittlungsarbeit zu werden, entwickelte sich das Event über vier Jahre hinweg zu einem Fixpunkt im Nachtleben ihrer Heimatstadt.
Wie bei anderen Producern ihrer Generation, ItaloJohnson etwa oder Mr. Tophat & Art Alfie, stand der Edit am Beginn ihrer Soundgestalterlaufbahn. Zunächst lediglich für den Gebrauch in eigenen Sets entstanden, veröffentlichte Let’s Get Lost, ein Sublabel des japanischen Imprints Mule Musiq, 2012 mit einem Edit von Minako Yoshidas „Town“ das Debüt von Marvin & Guy. Aufgrund des inoffiziellen rechtlichen Status’ der Disco-Edit-Schmiede war der Namen des Duos da noch ein Kryptonym, ein echter Deckname zur Verschleierung ihrer Identitäten.
Nach einer Handvoll weiterer Edits für Let’s Get Lost, On The Prowl und einem selbstgegründeten, kurzlebigen Label namens Marvin & Guy Records war 2015 Schluss damit: Mit der Dance Abilities-EP für das in Los Angeles beheimatete Label Young Adults verließen sie den Schutzraum der Anonymität. Gleichzeitig verschmolzen Marvin & Guy darauf ihre Einflüsse aus Italo, Disco, Techno und Rock zu einer unanfechtbaren Verbindung, die noch immer die Basis ihrer Produktionen ausmacht: „Nicht ganz so rigide elektronisch, etwas natürlicher, etwas leichter“ charakterisiert Parlatore, als ich den 32-Jährigen „umgeben von Pflanzen und Katzen“ in seinem Haus in Parma erreiche, den Stil ihrer Dancefloor-Tracks. Der elf Jahre ältere Giordani, mittlerweile in Barcelona ansässig, bringt es auf die Formel „groovy Techno“. Letztlich gehe es ihnen sowohl mit ihren Produktionen als auch beim Auflegen darum, ihre Freude an der Sache zu transportieren: „Es gibt heutzutage fast nichts mehr, was komplett neu ist. Wir genießen es einfach, unsere Musik zu spielen und ich denke, wir sind ein positives Duo“, fasst der bekennende Michael-Jackson-Fan ihre Haltung zusammen. Noch weitere Kreise zog die Egoísta–EP für John Talabots Imprint Hivern Discs. Insbesondere „Canción (Para Tí)“ entwickelte sich, gespielt von DJs wie den Pachanga Boys (die einen maßgeblichen Anstoß zur Gründung von Marvin & Guy gegeben haben), Ivan Smagghe, Roman Flügel, DJ Tennis oder Jennifer Cardini zu einem veritablen Hit.
Auf Cardinis Correspondant-Label erschien 2016 die Race-EP, mit deren zwei epischen Tracks die selbsternannten „Space Cowboys from Paradise“ ihr Spektrum in Richtung Synth-Soundtracks für lange, nächtliche Fahrten auf verwaisten Betonpisten erweiterten. Mit Manfredi Romano alias DJ Tennis wiederum, auf dessen Imprint Life And Death mit der Superior Conjunction EP und Solar Warriors auch ihre jüngsten EPs erschienen sind, betreiben sie seit 2017 das Trio Life of Marvin – ein Joint Venture, der nicht zuletzt die Aufmerksamkeitswerte des dynamischen Duos auf ein neues Level gehoben haben dürfte.
Mit ihrer neusten, Ende Mai erscheinenden EP für Permanent Vacation knüpfen sie nun an Fire! Fire!, ihre erste, ebenfalls 2017 erschienene Maxi für die Münchner Qualitätsadresse an. Schienen darauf noch die Scores, die sich John Carpenter in den Siebzigern und frühen Achtzigern aus Budgetgründen glücklicherweise selbst für seine Filme hinzuwerfen genötigt sah, ein eher unterschwelliger, gleichwohl prägender Einfluss zu sein, gibt schon der Titel von „Hint of ’92“ unverhohlen Aufschluss über die aktuelle Ausrichtung: Die Staccato-Synth-Hookline des gleichnamigen Tracks triggert die euphorische Aufbruchsstimmung eines Raves in den Frühneunzigern, der die nonchalanten Vocals von Marika (Underspreche) ein unterkühles Wave-Moment entgegensetzen. Mit „Discoteque“ nehmen sie indes nochmals den funktionalisierten Italo-Disco-Sound ihrer ersten Produktionen ins Visier. Am weitesten entfernt davon ist das psychedelisch angehauchte „Colours“, das auch in einem Set der Idjut Boys nicht negativ auffallen würde. Dürfen wir Neo-Trance dazu sagen? „Sicher, warum nicht. Vor ungefähr zwei Jahren haben wir angefangen, viel italienischen Techno-Trance aus dieser Zeit zu hören“, erzählt Parlatore. „Wir fühlten uns ein wenig in unseren Routinen gefangen, in den Arpeggios und dem Cosmic-Vibe, deshalb habe wir versucht, nicht etwas Neues, aber doch zumindest etwas Anderes in unsere Produktionen hereinzuholen.“
„Zudem wollten wir hier auch all unsere elektronischen Einflüsse miteinander mischen“, ergänzt Giordani, der aus einer Gastronomenfamilie stammt. Auf Italo-Disco sei er erstmals durch einen Podcast von Metro Area gestoßen worden. Besonders in drei Tracks habe er sich sofort verliebt: Charlies „Spacer Woman”, „Take Me To The Top” von Advance und Electras „Feels Good”. 2008 startete Giordiani, der 1993 angefangen hat, House von Acts wie Masters at Work aufzulegen, den Blog Italo Deviance. Parlatore ist dagegen mit Rock und Grunge aufgewachsen, war Velvet-Underground-Fan, bevor er Boogie und Disco für sich entdeckte. Obwohl er einige Erfahrungen mit Bands und Instrumenten gemacht hat, verstehe er sich selbst nicht als Musiker, zumindest im handwerklichen Sinne: „Die Basis unserer Musik sind Ideen, weniger Instrumentenbeherrschung oder Spieltechnik – dazu sind wir einfach nicht nerdy genug.“ Trotzdem sieht es im Rückblick doch wie ein ziemlich langer (allerdings in Analogie zur nächtlichen Autostrada tatsächlich auch ziemlich gradliniger, zielstrebiger und ergebnisorientierter, kurzum: pragmatischer) Weg aus, den sie von den ersten, rohen Disco-Edits bis zu den aktuellen Rave-Granaten zurückgelegt haben. Ob sie lieber in einem kleinen Club oder in einer Bigroom-Disco auflegen? „Im kleinen Club!“, so die prompte Einhelligkeit in Parma und Barcelona.
Entstanden ihre Produktionen zu Beginn noch gemeinsam vor den Maschinen in Giordanis Studio in Parma, haben sie sich mittlerweile auf eine Arbeitsweise verlegt, bei der hauptsächlich Dateien ausgetauscht werden, die in ihren jeweils ähnlich aufgebauten Studios in Barcelona und Parma weiterbearbeitet werden. Die Liste ihrer Synthesizer ist lang, noch länger die Wunschliste. Einer ihrer Favoriten ist der Juno-106: Nahezu alle Basslines in ihren Produktionen stammen aus dem polyphonen Digital-Analog-Hybrid-Klangerzeuger, den Roland 1984 auf den Markt gebracht hat. Was sie ausmacht, ist der zwanglose Mix ihrer unterschiedlichen Anlagen und Vorlieben. Ein typischer Marvin-&-Guy-Mix eröffnet etwa mit trancigen Sounds, um irgendwann bei Billy Idol zu landen. Oder in den Worten von Parlatore: „Unser Spektrum reicht von Afro-Disco bis Detroit-Techno. Worauf es uns ankommt, ist die smoothe, organische Verbindung dazwischen.“ Akustischer, weniger Dancefloor-orientiert, etwas mehr in Richtung Livemusik – so könnte sich das Duo Marvin & Guy in der Zukunft anhören, so Giordani. „Selbst, wenn es dann eine Art von Reggae sein sollte“, fügt Parlatore hinzu. Perfektion sei ihnen kein Selbstzweck, sondern stelle eher eine Einschränkung dar. In dem Moment, wo man feststelle, dass man sich selbst kopiere und wiederhole, sei die Zeit reif für eine Veränderung. „Neue Horizonte“ kann sich Giordani auch für ihr Debütalbum vorstellen. Einen ersten, thematischen Baustein dazu habe man bereits im Kasten: Katzen. Für die unberechenbaren Vierbeiner können sich beide begeistern. In Parma schnurrt Dolly Parton auf der Couch, in Barcelona Larry Levan.
Hint of ’92 von Marvin & Guy ist am 24. Mai auf Permanent Vacation erschienen.