Foto: Anna von Hausswolff (Alle Fotos: Donaufestival)
Wie lebt man in Krems? Zusammen oder nebeneinanderher, kollektiv oder ausschließend? New Society heißt das Motto des diesjährigen Donaufestivals in der österreichischen Kleinstadt nahe Wien. Versucht man, über ein so komplexes und abstraktes Phänomen wie Gesellschaft nachzudenken, hilft zunächst der unvoreingenommene, kontemplative Blick in die Welt hinein – und so wird bereits nach wenigen Augenblicken deutlich: zwischen Steinernem Tor und Minoritenkirche werden an diesem Maiwochenende wunderbar vielseitige Spuren zum Rezipieren und Mitdenken gelegt. Nur selten verschmelzen Bookings so konsistent unter einem zentralen Motto, jeder Slot trägt auf seine Weise zum Gesamtkonzept bei; als wolle man die unterschiedlichen Ereignisse des Wochenendes in einen zentralen Denkapparat speisen, der die Besucher am Ende versierter über das künftige Zusammenleben nachdenken lässt.
Seine Energie erzeugt das Festival dabei immer wieder aus Kontrasten: bunte Neonröhren am Festivalvorplatz neben weißem Flutlicht am Amateurfußballplatz, verspulte Künstlertypen neben unaufgeregten Kleinstädtern, Berghain-Techno neben Blasmusik. Räumlich ganz nah beieinander – die Stadt ist im Süden durch Donau, im Norden durch die Weinberge der Wachau begrenzt – liegen maximal fünfzehn Gehminuten zwischen den Locations. Während sich die Festivalbesucher tagsüber auf Kino, Museum, Minoritenkirche oder die vielen Wirtsstuben („Heurigen“) der Stadt verteilen, pilgern sie in der Dämmerung über den Messevorplatz zu den musikalisch sehr abwechslungsreichen Abendkonzerten.
Für das erste große Highlight des Festivals sorgt am Freitagabend Anna von Hausswolff. Eine fünfköpfige Band unterstützt die schwedische Sängerin bei ihrem unheimlich immersiven Auftritt im Stadtsaal. Formiert wie eine Post-Rock-Kombo, erzeugen die Musiker filmische Klangstrukturen, die immer wieder das Zeitgefühl sprengen. In ihren musikalisch prägnanten Ausdrücken finden sich Anleihen aus nordischem Metal, Country und Ambient – die Synthese funktioniert jedoch exzellent und liegt weit von jedwedem Epigonentum entfernt. Mit ihrer markanten Sopranstimme erzählt von Hausswolff kraftvolle Geschichten von Weite, Einsamkeit, existenzieller Angst. Die Künstlerin gibt einen Eindruck von Welten, die den Menschen nicht brauchen, von einem Lebensvollzug ohne Gesellschaftsvertrag und versetzt den Hörer in besonders außerweltlichen Momenten direkt ins Roadhouse der letzten Twin Peaks-Staffel.
Kurz darauf ertönt lautstarke Blasmusik im Gebäudekomplex nebenan, ehe sich der Vorhang zu „Saal 1” öffnet und Giant Swan mit einem energetischen Live-Set lospoltern, das sich irgendwo zwischen The Prodigy und dem Hauptraum des Berghain einordnet. Stärker könnte der Kontrast kaum ausfallen: Von österreichischer Gemütlichkeit mit atemberaubender Geschwindigkeit direkt auf den nassen Beton Bristols. Nach den Konzerten gibt das DJ-Team SISTERS U.S.Q. in der „Zentrale” einen Einblick, wie genreübergreifende Party gegenwärtig aussehen kann. Die Brücke zwischen Kanye West, Omar Souleyman und intensivem Gabber ist schnell geschlagen. Die wenigen übrigen Besucher – der Großteil des Festivalpublikums befindet sich um diese Zeit wohl schon wieder in Wien – haben sichtlich Spaß, um 2 Uhr schließen die Türen aber: Das Donaufestival propagiert keineswegs den Exzess, vor allem versammeln sich hier Musikliebhaber, Künstler und Avantgardisten jeder Altersstufe und lauschen andächtig der Musik. Auch deswegen sorgen Giant Swan mit ihrem Auftritt für eine willkommene Abwechslung, ausnahmsweise stellt sich hier nämlich so etwas wie Rave-Atmosphäre ein. Apropos Rave-Atmosphäre: Diese dekonstruiert Bogomir Doringer mit seinem Projekt „I Dance Alone” auf denkbar unangenehme Weise: Über mehrere Bildschirme flimmern Clubnächte aus der Vogelperspektive und zeigen immer wieder verlorene Tänzer, die Anschluss zu suchen scheinen und den Mythos der Techno Family nachhaltig auf die Probe stellen.
Der Samstagabend beginnt zunächst mit einer gänzlich unerwarteten Überraschung: Im Keller unseres Hotels spielt Caterina Barbieri ein unangekündigtes Set, das auf dem Festival weitestgehend unbemerkt blieb: Nur ein paar Dutzend Zuschauer verirren sich vor die mehr oder weniger geheime Bühne, die dramatischen Arpeggio-Modulationen der Italienerin fesseln aber trotzdem. Auch Lafawndah überzeugt anschließend, indem sie druckvolles Tribal-Drumming mit zartem Gesang, traditionelle afrikanische Einflüsse mit gegenwärtigem Pop vermischt.
Für die meiste Resonanz sorgt am zweiten Zag aber definitiv Holly Herndon. Die studierte Komponistin schart vier Sänger*innen um sich und ihren Partner Mat Dryhurst. Die beiden koordinieren die anspruchsvollen mehrstimmigen Chöre mit ihren Laptops von der Mitte der Bühne aus, immer wieder greift auch Herndon selbst zum Mikrofon. Die gesamte Performance klingt ungemein gut, die Vokalist*innen perfekt aufeinander abgestimmt. Neben Anna von Hausswolff erntet Herndons sechsköpfiges Ensemble wohl auch den größten Applaus des durchweg empfänglichen Publikums, das Fehler gut gelaunt verzeiht und Glanzleistungen honoriert. Als Dryhurst einen Track um die 20 BPM zu schnell anspielt und sich die Chöre deswegen ausnahmsweise überschlagen und schließlich ganz aus dem Tritt kommen, ordnet Herdon einen Neustart an. Selbst dieser wird ausgiebig beklatscht, Künstler und Rezipienten scheinen in der Kremser Idylle besonders gelassen zu agieren.
Die Stimmung am Sonntag des ersten Donaufestival-Wochenendes wirkt erwartungsgemäß etwas verhaltener als an den beiden Vortagen. Nach zwei Sitzkonzerten in der örtlichen Minoritenkirche, einer Kunstperformance und holländischem Aktionstheater kommt der Ersatz-Slot Gudrun Guts um 21 Uhr da gerade recht. Vor anfangs kleinem Publikum betritt sie die Bühne und erklärt vorab, dass sie nur Stücke ihres neuen Albums spielen wird. Das Set funktioniert dann hervorragend, gerade weil die Show stets etwas improvisiert und fragil wirkt. Gut powert kein reines Ableton-Set am Laptop durch, sondern baut in ihrem Setup wie üblich auf Live-Vocals und diverse Maschinen, die sie nur einmal im Stich lassen, als die Stromversorgung zusammenbricht. Mit einem nonchalanten „Dumm gelaufen” gewinnt Gut anschließend das Publikum vollends für sich.
Das letzte Konzert geht dann im Stadtsaal über die Bühne und bildet einen würdigen Abschluss des Wochenendes – musikalisch wie programmatisch. Planningtorock bestreiten einmal mehr ihren Kampf gegen binäre und vereinfachende Repräsentationen menschlicher Individuen. Jam Rostron, die die Show auf einem Podest und vor einer riesigen Leinwand weitestgehend alleine absolviert, führt durch ihr komplettes Werk und lässt dabei keinen Hit aus: „The Breaks”, „Let’s Talk About Gender Baby” oder „Human Drama” in einer Akustik-Version, die ohne die ikonischen Synths auskommt, unterhalten durchweg.
Wie also lebt man in Krems? Das Donaufestival verfolgt zweifelsohne eine inklusive Strategie, versucht, seine Besucher mittels ausgeklügelter Schwerpunktsetzung in einen Dialog treten zu lassen. Ob das vollends gelingt, kann nicht abschließend beurteilt werden. Sicher ist aber, dass man dem Leitmotiv New Society in Gänze gerecht wird. Das liegt einerseits am progressiven Booking, das einige der derzeit spannendsten Pop-Künstler nach Krems holt, andererseits an der durchweg geförderten Koexistenz vermeintlicher Gegensätze. Lebt man womöglich also nicht in einer formvollendeten Gemeinschaft, so doch wenigstens friedlich nebeneinanderher.