Illustration: Super Quiet. Mehr Rückblicke findet ihr hier.
Früher gab’s nur einen Weg: Wollte man im Club den Namen eines Tracks herausfinden, musste man ans DJ-Pult. Mit etwas Glück erhaschte man dort einen Blick auf die gerade laufende Platte. Oder auch nicht. Zum Beispiel wenn der DJ das Label überklebt hatte, um sich von lästigen Trainspottern nicht in die Karten schauen zu lassen. Im digitalen Zeitalter ist das anders. Mit Apps wie Shazam kann man sich den Weg zum DJ meist sparen, der Songerkennungsdienst zeigt Titel und Interpret binnen weniger Sekunden am Display an. Für den Fall, dass die App versagt, gibt’s neuerdings Track-ID-Gruppen auf Facebook, die mit ihrer Schwarmintelligenz selbst die unbekanntesten Clubtracks erkennen.
Die bislang populärste heißt „The Identification of Music Group“. Im Mai 2015 von einer kleinen Gruppe britischer Clubmusik-Enthusiasten gegründet, umfasst die Gruppe heute über 73.000 Mitglieder, die Anzahl hat sich seit Anfang dieses Jahres mehr als verdoppelt. Das Prinzip ist einfach: Ein User postet ein Video, das er meist in der Vornacht mit dem Handy im Club aufgenommen hat – oft nur fünf Sekunden lang, mit übersteuertem Sound –, und binnen weniger Minuten hat ein anderes Gruppenmitglied den Track identifiziert. Gelegentlich sind es gar nur Angaben wie „schneller Housetrack, bei dem eine Frau im Refrain etwas wie ‚Oh, my love‘ singt“, ganz ohne Video, die genügen, um die ID ausfindig zu machen.
Pro Tag werden gut 30 Tracks gepostet, nach dem Wochenende oft mehr. Stilistisch stehen House und Techno im Vordergrund, die Videos stammen zumeist aus britischen und ibizenkischen Clubs, obwohl das Spektrum in den vergangenen Monaten immer breiter wird: mit Track-Anfragen zwischen HipHop und Disco, von Mitgliedern aus den USA und vom europäischen Festland.
Regeln gibt es in der „The Identification of Music Group“ nicht. Bis auf eine: Wer ein Stück in der Kommentarsektion scherzhaft als „Sandstorm“ von Darude identifiziert, fliegt raus. Wer ein Video des gerade omnipräsenten Ibiza-Sommerhits postet, kriegt von Kollegen eine Rüge. Und das ist genau der Punkt: Viele der Tracks, die in der Gruppe auftauchen, sind weitgehend unbekannt. Schätze, verlorene Disco-B-Seiten oder vergessene House-Perlen aus den Neunzigern, die von DJs geborgen und von Musikspezialisten für die anderen Gruppenmitglieder aufspürbar gemacht werden. In diesem Sinn führen solche Facebook-Groups die Funktion von Message-Boards und E-Mail-Gruppen fort. Als Quelle zum Entdecken von neuen Tracks. Für Musikfans, aber auch für DJs.
Diese unfreiwillige Offenlegung und im Netzwerk schier unbegrenzte Verbreitung der Tracktitel stößt bei den gefilmten DJs verständlicherweise nicht immer auf Begeisterung. Das House-Duo Bicep, von dessen Sets besonders oft Videos in der „The Identification of Music Group“ auftauchen, äußerte sich im Groove-Interview im Juli kritisch. „Du verbringst wochenlang in Plattenläden und findest diesen einen fantastischen Track. Dann legst du ihn auf, jemand macht ein Video – und plötzlich spielt ihn jeder“, sagte Matt McBriar. Ihre eigenen Edits von Disco-Raritäten teilen Bicep deshalb nicht mehr online – einfach, um die Einzigartigkeit ihrer Sets weiterhin zu gewährleisten. Jackmaster aus Glasgow sieht das ähnlich. In einem mittlerweile gelöschten Facebook-Eintrag im Mai richtete er den „faulen DJs“ in der Gruppe sinngemäß aus: „Warum will man als DJ die Tracks eines anderen DJs spielen? Ist nicht gerade das Diggen das Schöne an unserem Beruf? Vielleicht sollten manche DJs weniger Zeit im Fitnesscenter verbringen und dafür öfters in den Plattenladen gehen.“