Lucy, für dich war Techno nur das letzte Puzzlestück deiner musikalischen Identität. Seth, bei dir war es anders herum: Du wurdest als Techno-Produzent bekannt, aber Techno konnte deinen kreativen Prozess lange Zeit nicht ganz umfassen.
Seth: Anfang der 2000er passierte mir etwas interessantes. Nachdem ich für gerade einmal vier oder fünf Jahre Techno machte, fühlte ich einen starken Zug vom Techno weg und habe angefangen, mich abzuzweigen. Ich experimentierte viel, das war nötig. Rückblickend wirkt es allerdings so, als ob ich im Wald herumtappte und versuchte, meinen weg zu finden (lacht). Das kann zu interessanten Ergebnissen führen, aber an einem gewissen Punkt war ich etwas frustriert. Wenn ich jetzt zurück blicke, merke ich, dass es frustrierend ist, einem Künstler zu folgen, der sich in alle Richtungen orientiert. Als Zuhörer kommt man da nicht immer mit. Ich entfernte mich von Tanzmusik weg, aber es waren meine Wurzeln, daher entwickelte sich viel daraus. Ich verbrachte viel Zeit entfernt von der Clubkultur und hätte nicht unbedingt erwartet, mich dort wiederzufinden. Das passierte auf organische Weise. Ich könnte längere Geschichten darüber erzählen, aber im Grunde genommen entschied ich mich, meinen Stil zu verändern, als ich wieder die Inspiration fand, Techno zu machen. Ich wollte mich davon abhalten, im Wald umher zu irren. (lacht)
Ich wollte mich konzentrieren und mit gewissen Ideen, bestimmten ästhetischen Grenzen anfangen und mich dann wirklich auf das Feintuning fokussieren. In den letzten fünf Jahren hatte ich als Rrose einen sehr anderen Ansatz, bei dem ich versuchte, kohärent zu bleiben.

Wie definierst du deine Begrenzungen?
Seth: Es besteht die Gefahr, sich zu wiederholen. Ich denke aber, dass man sehr interessante Dinge geschehen lassen kann. Wenn man sich auf einen bestimmten Ansatz limitiert, ist man gezwungen, etwas Neues im Vertrauten zu finden. Mit den Werkzeugen, die ich habe, gibt es so viele Optionen, dass man jeden Tag etwas komplett Neues mit ganz neuen Mitteln machen könnte. Ich finde, dass es einen drastischen und faszinierenden Effekt haben kann, ein paar Regler in dem Plugin, das ich seit Jahren benutze, anders zu bewegen als sonst. Ich bin vorsichtig, neue Dinge in meine Musik einfließen zu lassen, aber ich versuche Neues in Vertrautem zu entdecken.


Stream: Lucy & RroseChloroform

Wie wurde Rrose dein größtes musikalisches Projekt?
Seth: Ich hätte nicht erwartet, in diesem Interview so tief in meine Geschichte einzutauchen. (Lucy lacht.) Ich habe angefangen, Musik zu machen, bevor ich wusste, was das Projekt oder die musikalische Identität sein würde. Es begann mit einer Kollaboration mit Bob Ostertag. Dieses Projekt entwickelte sich zu den Motormouth Variations. Ich traf Bob Ostertag in der Bay Area und wir freundeten uns an. Sein Standpunkt war ausgesprochen anti in Hinsicht auf elektronische Tanzmusik, kann man sagen. Weil wir mit einer digitalen Technologie aufgewachsen waren, hatte er diese kritische Idee, dass die neue Generation eine computergesteuerte, präzise Art von Musik erwartete. Er beklagte den Verlust einer menschlicheren Art, Musik zu machen. Auf einer Weise bin ich damit einverstanden, andererseits verspürte ich das Bedürfnis, elektronische Musik und Tanzmusik als etwas ebenso Menschliches zu verteidigen. Wir gerieten in Diskussionen und ich forderte ihn dazu auf, Musik mit Puls zu machen. Ich war war gespannt, ob er tanzbare Musik machen würde. Er fing an, mit einen Buchla Modular System Techno zu machen, nur um zu sehen, was geschieht. Er schickte mir seine Produktionen und fragte mich, ob es Techno sei. Würden die Leute dazu tanzen? Ich fand es sehr interessant und sagte: Nun ja, nicht wirklich. Aber ich könnte etwas damit machen, um es in Tanzmusik zu verwandeln. Also wurde es zu diesem Release. Als ich begann, an diesem Material zu arbeiten, entwickelte sich eine neue Richtung für mich. Ich brauchte einen neuen Namen und ein neues Projekt. Ich hatte auch vor, ein selbstbegrenztes Technoprojekt zu machen. All die Musik, die ich heute mache, entwickelte sich aus diesem Projekt. Das ist etwas, dass ich vermeiden möchte, aber es passierte einfach.

Wie bist auf das Konzept und die Kunstfigur Rrose gekommen?
Seth: Als ich auf den Namen kam, dachte ich nicht an eine Figur. Das entwickelte sich mit der Zeit. Es war zum Teil die Idee, dass ich die Identität bewahren wollte und das Projekt trennte sich als ein Aspekt meines Lebens vom Rest ab. Das war der Grund, warum ich eine abgeschlossene Figur entwickeln wollte. Mein Aussehen zu verändern, meine Identität zu benutzen, das Geschlecht zu verändern: all das begann auf eine verspielte Weise. Ich habe es mit der Zeit immer ernster genommen.

Auf euren aktuellen Alben bewegt ihr beide euch vergleichsweise Weit von euren Techno-Produktionen weg. Seth, du mit Rrose Plays James Tenney – Having Never Written A Note For Percussion und Lucy mit Mythology. Warum?
Seth: Having Never Written A Note For Percussion sind zwei Performances einer Komposition von James Tenney, einem amerikanischen Komponist, der sie 1971 auf einer Postkarte schrieb. Ich nahm die erste Performance des Stücks schon auf noch bevor ich die Figur Rrose entwickelt hatte. Erst ein paar Jahre später entschied ich mich, das als Rrose zu veröffentlichen. Als ich merkte, dass diese Rolle mein zentrales kreatives Ventil sein würde, machte ich eine Krise durch. Ähnliches wäre geschehen, wenn ich komplett in eine Schublade gesteckt werden würde. Ich müsste die ganze Zeit Techno machen und würde durchdrehen. (Lucy lacht) Ich veröffentlichte es als Rrose einerseits, weil ich es performen wollte, andererseits weil ich die Tür für das Projekt öffnen wollte, in andere Richtungen zu gehen. Wenn ich mich mit diesem Projekt von Techno entferne, möchte ich immer noch etwas Zusammenhängendes hinterlassen. Obwohl es ein radikal anderes Release ist, gibt es viele Parallelen zwischen dem, was darauf passiert und der Art, wie ich an Techno herangehe. Ich erlaube mir damit vorsichtig, Wege in andere Richtungen einzuschlagen. Ich bin im Moment an einem gewissen Punkt, an dem mir mit meiner Rolle Technoproduzent unwohl ist, weil ich über lange Zeitabschnitte überhaupt keine Lust habe Techno zu hören. Deswegen habe ich Angst, nicht mehr in der Lage zu sein, Techno zu machen. (lacht) Ich komme immer noch darauf zurück, und finde immer noch Inspiration darin, aber ich muss mir sicher sein, dass Wege in andere Richtungen immer noch offen sind. Es wird einen Punkt geben, an dem ich ganz damit aufhören werde. Es ist schwer zu sagen, es sind mittlerweile so viele Jahre, Techno zu machen ist in meinem Blut. Man weiß es nie.
Lucy: Ich kann das gut nachvollziehen. Mein letztes Album ist das beste Beispiel für Momente, an dem ich keine Lust mehr auf Techno hatte und mich davon weg bewegen musste. Aber ich wollte immer noch einen Sinn für Techno beibehalten, genau wie Seth davon sprach, sich Türen offen zu halten. Ich rede normalerweise über eine Art von Disziplin. Dabei meine ich, dass es mir wichtig ist, dass alle Projekte unter dem Namen Lucy eine gewisse Kohärenz besitzen. Du sagst, dass ich mich mit dem Album von Techno entferne, dennoch ist es immer noch eine Form von Techno. Einige der Tracks spiele ich trotzdem bei großen Momenten in Clubs, aber das erwarte ich nicht von jedem anderen DJ. Es ist diese Ping Pong-Bewegung zwischen einer Art Techno-Nostalgie und einem Gespür für Innovation. Das gesamte Album mit den Konzerten mit Live-Instrumenten und Vokalisten war eine willkommene Abwechslung. Jetzt, wo die Tour vorbei ist, sitze ich gerne in meinem Studio und produziere, was andere Leute als konventionellen Techno beschreiben würden. Wegen der Erfahrung mit dem Album fühle ich mich in den Sounds und dem Wissen sehr bereichert. Diese Art Ping Pong ist mir sehr wichtig. Ohne Abwechslung fühle ich mich komplett ausgetrocknet. In der Woche bist du im Studio, und am Wochenende bist du Techno ausgesetzt. Für mich darf es nicht zu selbstreferenziell werden. Die Arbeit mit Seth kam zu einem Zeitpunkt, als ich es wirklich gebrauchen konnte. Mit Seth im Studio zu sitzen, gab mir wirklich den Ring der in der Kette aus verschiedenen Dingen fehlte

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