Vorschaubild: Kraftwerk (Camille Blake)
Wenn man den Hauptraum des Berliner Kraftwerks zum ersten Mal betritt, fühlt man sich wie versunken in einer mystischen, dunklen, und doch entspannenden Atmosphäre. Vorsichtig schlängele ich mich durch die Massen an stehenden, liegenden und sitzenden Leuten. Die Location ist beeindruckend, mit endlos hohen Decken und Säulen aus rohem Beton hat das Kraftwerk für Fans brutalistischer Architektur Fetischcharakter. Der Hauptraum wird von weißen Stroboskoplichtern erhellt. Die riesige Projektionsfläche hinter der Hauptbühne zieht das Publikum in seinen Bann, es erinnert an den schwarzen Monolithen aus 2001: Odyssee im Weltraum. Ich setze mich auf den Boden und lausche den intensiven Ambientklängen.
Das Atonal Festival bedarf eigentlich keiner großen Vorstellung. Wir erinnern: 1982 gegründet, war das Atonal in den Achtziger Jahren die Avantgarde elektronischer und experimenteller Musik und entwickelte eine Strahlkraft weit über das eingegrenzte Westberlin hinaus. Mit Künstlern wie den Einstürzenden Neubauten oder Malaria! ergründete das Atonal neue musikalische und künstlerische Ausdrucksformen und zementierte den Ruf der Stadt als Vorreiter eines rohen, industriellen Sounds. Mit dem Fall der Mauer endete das Festival, als Gründer Dimitri Hegemann den Tresor eröffnete, einige Wiederbelebungsversuche waren nur mäßig erfolgreich. 23 Jahre nach der ersten Ausgabe kehrte es zurück und fand seinen Platz im selben Gebäudekomplex, welcher auch den Tresor beheimatet. Im kathedralenhaft gedrungenen Hauptraum findet das altgediente Industrialprojekt Orphx mit Justin Broaderick alias JK Flesh zusammen. Auf der Projektsfläche flimmert und flackert es, Broaderick schreit ins Mikrofon – die Atmosphäre wird immer intensiver.
Neben der monumentalen Main Stage begeistern auch die dunklen, eingeengten Orte. Dazu zählt außer dem Tresor auch das Kellergewölbe. Dort gibt es eine tolle Videoinstallation der New Yorker Künstlerin Rose Kallal zu sehen, bei der Filmprojektoren in variierendem Tempo abgespielt werden, um ein Gefühl der Verlorenheit im Raum zu vermitteln. Neben der Installation gibt es einen abgezäunten Bereich, den viele einfach übertreten. Es ist stockduster und viele versuchen sich mithilfe ihrer Smartphone-Lampen in der Dunkelheit zurecht zu finden. Die (Irr-)Lichter entwickeln ein Eigenleben, es fühlt sich wie eine unabsichtliche, gemeinsame Kunstperformance an. Bewusster herumspielen kann man im ehemaligen Kontrollraum des Kraftwerks. Der wurde zu einer Schaltzentrale der ganz anderen Art umfunktioniert: Neben ehemaligen Kontrollmodulen stehen Modulare Synthesizer, TB-303s und allerhand weitere Geräte bereit. Man überlässt hier aber lieber den technikaffinen Gästen das Feld.
Aus innenarchitektonischer Sicht ist auch das kleine Ohm eine Augenweide. Hervor sticht sofort die kubische Bar, die in roten Tönen gehalten die Hälfte des Raums einnimmt. Die andere Hälfte besteht aus einer Tanzfläche, auf der es eine ungewöhnliche Fusion zu hören gibt: Lag Os spielt Trap von Future (mit F und nicht mit Ph wohlgemerkt) nach einem Acid House Track. Die stilistische Diversität im Line-Up macht sich unter anderem daran bemerkbar, dass die Detroiter Legende Marcellus Pittman im Globus beschwingten House mit Groove auflegt, während zugleich im Tresor Headless Horseman, der 2014 bereits auf der Mainstage spielte, ein brutales Liveset hinlegt.
Die Düsternis von zwei Tagen Atonal endet für mich dann, als ich das Kraftwerk in Richtung Köpenicker Straße verlasse, und mir die spätsommerliche Morgensonne ins Gesicht scheint. Als erstmaliger Besucher bot mir das Atonal ein diverses Programm, eine grandiose Location und eine Atmosphäre, die man so kein zweites Mal findet. Begonnen mit sphärischen Klängen bis hin zu rohen den Sounds der Nacht war die Bandbreite des Lineups beachtlich. Den Veranstaltern gelang ein Spagat zwischen audiovisueller Kunst, experimentellen Auftritten, Momenten der Ruhe und Partyatmosphäre. Mit seiner Masse an Premieren und neuen Kollaborationen bleibt das Atonal weiterhin maßgebend.