Der 32-Jährige hat sich das alles gut überlegt: Seine unterschiedlichen Talente hat er sich wie „ganz viele Chips auf dem Tisch der Möglichkeiten“ zusammengeschoben. Reden kann er, Instrumente spielen und bauen, konzeptionell und visuell denken. Statt einem zerstreuten Atoll von Inselbegabungen habe alles nun die Form eines einzigen Kontinents angenommen, der sich als Live-Set einpacken und überall auf der Welt aufbauen lässt. Auch wenn man ihn eben im Vorfeld angesichts des zu betreibenden Aufwands vorab eben als „verrückt“ bezeichnet hat. Zumal er drumherum noch einen Filmsoundtrack und ein Album veröffentlicht und den „Piano Day“, ein globales Happening, ein Feiertag für das Klavier, ins Leben gerufen hat.

Doch Nils Frahm steht zu seiner Tektonik. Er spricht bilderreich und entschieden. Nicht überheblich, aber doch ganz anders als später auf der Bühne – von einem spitzen Tatort-Vergleich gegen das sitzende Publikum an diesem Sonntagabend mal abgesehen. Da gibt es Witze und Schmeicheleien, der Visionär und Macher wird hinten angestellt. Das alles geschehe aber noch weiterhin ungeplant und im Rahmen seiner Person. Frahm meint: „Dass die Leute mich heute so wahrnehmen, wie ich bin, ist ein großes Glück. Ich muss mir keinen Bademantel anziehen oder mich schminken, damit sie mich als Kiss erkennen. Ich bin immer fertig, immer bereit zum Spielen.“ Das Geständnis auf dieser Tour zum ersten Mal „so etwas wie einen Star-Status“ zu erhalten, gehe ihm trotzdem leicht von den Lippen. Und wie das so in der Natur der Sache liegt, gesellen sich Stars und Stars gerne: Auch Ólafur Arnalds ist gerade unterwegs. Er hat das Auto auf dem schottrigen Seitenstreifen geparkt. In den letzten Tagen war der Isländer vor allem mit der Eröffnung von Reykjaviks erstem Imbiss für belgische Fritten beschäftigt. „Die meisten Leute hier verstehen das nicht“, sagt er, „warum sollte man nur Pommes essen? Aber wir wollten sie unbedingt mit diesen wunderbaren Fritten vertraut machen. Die meisten waren ja noch nie in Belgien.“ Jetzt steht aber für den kulinarischen Botschafter erstmal eine am nächsten Tag beginnende US-Tour mit seinem Projekt Kiasmos an. Eben hat er noch ein paar Sachen aus dem Studio abgeholt. Nach dem Telefonat will er nochmals seine Eltern besuchen.

Heimliche Freiheit

Frahm gehört mittlerweile fast zu Arnalds’ Familie. Man kennt sich seit einer gemeinsamen Tour vor fünf Jahren. Der vier Jahre ältere Deutsche trat damals in seinem Vorprogramm auf. Arnalds hatte sich da schon mit seinen zwei ersten Alben auf dem Label Erased Tapes und dem Instant-Recording-Projekt „Found Songs“ zum blassen Posterboy eines Genres hoch gespielt, dessen Name mit zunehmender Zeit immer unpassender wirkt: Neo-Klassik. Ein Rückgriff auf Streicher, Piano & Co. nach den minimalistischen Formeln elektronischer Musik – nur eben ohne Loops und in Turnschuhen. Ganz und gar unbarock also. Nils Frahm konnte zu diesem Zeitpunkt bereits auf drei Studioalben zurückblicken, zählt aber eher – vorerst noch – eher zum erweiterten Kreis des neuen Hypes.

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Man freundete sich schnell miteinander an. „Ich erinnere mich noch, wie ich ihn genauer an unserem dritten Tourtag beobachtete“, ruft sich Arnalds die Annäherung ins Gedächtnis. „Er hat mich wirklich umgehauen. Dieser Typ machte es komplett anders als alle anderen.“ Für den mit einem BAFTA ausgezeichneten Soundtrack-Komponisten und Musiker war das eine persönliche Zäsur: „Ich fühlte, dass ich jemanden gefunden hatte, der sich in der selben Sphäre wie ich bewegte. Das war mir vorher mit niemandem passiert. Und es war sofort klar, dass nach der Tour nicht einfach Schluss sein würde.“ So kam es dann auch. Nachdem man sich einige Male in Berlin getroffen hatte, besuchte Frahm seinen Kollegen schließlich auf Island. Man kochte zusammen, ging wandern. „Unterwegs entstanden die ersten Ideen für gemeinsame Stücke und nach unserer Rückkehr gingen wir sofort ins Studio“, so Arnalds. Drei Lieder entstanden so innerhalb kürzester Zeit. In Frahms mit analogen Synthesizern und Klavieren vollgestopfter Berliner Wohnung, besser bekannt als Durton Studio, stieß noch die Cellistin Anne Müller dazu. Am Ende überreichte man vor drei Jahren die schlicht „a1“, „a2“ und „b1“ betitelten Ergebnisse als bereits fertige Testpressung Robert Raths. Der Gründer von Erased Tapes war mehr als überrascht: Seine beiden Künstler (Frahm veröffentlicht seit dem 2011er Album Felt ebenfalls auf dem Label) hatten ihre Kollaboration bis zur Übergabe komplett vor ihm geheim gehalten. Es sollte eine Art Ritual werden.

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