burger
burger

Meine Stadt: Jacek Sienkiewicz über Warschau

- Advertisement -
- Advertisement -

Foto: Konrad Ćwik
Erstmals erschienen in Groove 155 (Juli/August 2015).

„Ich wurde in Warschau geboren und bin auch dort aufgewachsen. Der auf der Westseite der Weichsel gelegene Teil des Stadtzentrums gilt als die offizielle Seite. Er wurde im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen zerstört. Alles wurde wieder aufgebaut und wirkt clean. Der Osten ist authentischer. Dort gibt es noch das alte Pflaster und die alten Laternen. Die Gegend stand immer im Ruf, ein wenig gefährlich zu sein. Man denkt an dunkle Kneipen, schwitzende Arbeiter und Alkoholdunst. Heute haben dort viele Künstler ihre Ateliers. Ich bin dort, im Osten, aufgewachsen, aber weit draußen am Stadtrand in einem Viertel namens Rembertów. Mein Vater hat an einer Militärakademie unterrichtet. Wir haben in einer tollen Villa aus den 1920er Jahren gelebt. Mein Elternhaus war ein musikalischer Ort: Mein Vater ist HiFi-Fan, er hörte Led Zeppelin und die Rolling Stones.

Aus meiner Kindheit erinnere ich mich ganz besonders an drei Orte: Der erste ist der Zoo von Warschau. Den haben ich und mein Bruder geliebt. Die Braunbären haben ein riesiges Freigehege, man konnte sie schon von der Straßenbahn aus sehen. Der zweite ist der Kulturpalast, ein gigantischer klassizistischer Turm, der die ganze Stadt überragt. In der Bevölkerung Warschaus war er immer umstritten, weil es ein Geschenk der Sowjets war. Mich hat das Gebäude aber fasziniert, ich habe dort die unterschiedlichsten Konzerte erlebt. Der eigentümliche, unheimliche Turm verfolgt mich bis heute: In den neunziger Jahren habe ich dort einen Club gemacht und am vergangenen Silvester auf einer Party gespielt. Der dritte Ort hat mit der Arbeit meines Vater zu tun: Manchmal nahm er uns mit auf einen Übungsplatz der Armee. Dort standen Ruinen von Häusern, die für Manöver benutzt wurden, und das Wrack ein Panzers. Das hat mich schwer beeindruckt.

 

„Nach dem Ende des Ostblocks 1989 haben ich und meine Freunde geglaubt, dass Warschau schnell aufholen wird. Tatsächlich hat das viel, viel länger gedauert.“

 

Ich wurde 1976 geboren und habe als Teenager begonnen aufzulegen. Ich spielte experimentellere elektronische Musik, oft in den Nebenräumen von großen Partys. Eine Nacht werde ich nie vergessen, in einem Club namens Trend in der Nähe des Flughafens. Ich spielte dort in einem kleinen Raum Acid, und alle – egal wie berauscht oder nüchtern – gingen total auf die Acid-Sounds ab. Das war ein Trip! Nach dem Ende des Ostblocks 1989 haben ich und meine Freunde geglaubt, dass Warschau schnell aufholen wird. Tatsächlich hat das viel, viel länger gedauert. So richtig ist es erst in den vergangenen Jahren passiert. Jetzt gibt es Cafés, Läden und Galerien wie in allen internationalen Großstädten. Einzig ein Club, in dem allein elektronische Musik läuft, fehlt noch. Aber das Feiern füllt mein Leben nicht mehr so aus wie früher, obwohl ich es immer noch liebe.

Warschau steht im Ruf, eine hässliche, graue Stadt zu sein. Das stimmt nur zum Teil. Es hat auch eine andere Seite, zumindest im Sommer: Es gibt nicht weniger als 76 Parks, sie ziehen sich wie ein Netz durch alle Stadtteile. Ich liebe es, mit dem Fahrrad vom berühmten Łazienki-Park durch das verschlafene Mariensztat-Viertel zur imposanten Zitadelle zu radeln, und von dort vielleicht noch in den Bielański-Wald, einem großen Naturschutzgebiet mit vermoderten Baumstämmen.

Manchmal liebe ich und manchmal hasse ich Warschau. Ich habe zwei Mal ein paar Monate in Berlin gelebt, und in Krakau. Letztlich bin ich doch wieder nach Warschau zurückgekehrt. Der Winter ist hart, der Verkehr martialisch und die Leute sind manchmal unfreundlich – es ist aber trotzdem meine Heimat. Es freut mich, dass nach zwanzig Jahren die elektronische Musik der frühen Neunziger zurückkommt – Aphex Twin und Acid. Ich habe ein kleines Ladenlokal gemietet, wo ich und einige meiner Freunde arbeiten. Wir hoffen, dass daraus ein Zentrum für experimentelle elektronische Musik in Warschau wird. Am vergangenen Wochenende habe ich dort ein Konzert vor zwanzig Leuten gegeben.“

 

Jacek Sienkiewiczs neues Album Drifting ist bei seinem eigenen Label Recognition erschienen.

Mehr Texte aus der Rubrik „Meine Stadt“ gibt es hier.

 

born in #warsaw #warszawa #praga by @konrad_cwik

Ein von Jacek Sienkiewicz (@jrecognition) gepostetes Foto am

In diesem Text

Weiterlesen

Features

28 Fragen: Cio D’Or

Groove+ Nach einer Krebserkrankung arbeitet Cio D'Or erneut an Musik und verrät uns neben dem irdischen Glück auch ihr Lebensmotto.

Fentanyl: „Eine sichere Dosierung ist kaum möglich”

Das Thema Fentanyl ist mit bislang ungekannter Dringlichkeit in der Clubkultur angekommen. Wir haben nach den Gefahren der Droge gefragt.

Oliver Hafenbauer und sein Label Die Orakel: „Viele mögliche Zukünfte” 

Groove+ Der einstige Robert-Johnson-Booker Oliver Hafenbauer hat sich als DJ, EOS-Mitgründer und Die-Orakel-Betreiber ein Profil erarbeitet.