Text: Sebastian Weiß, Fotos: Camille Blake
A wie Atonal Festival
Von „Mr. Tresor“ Dimitri Hegemann 1982 gegründet, präsentierte das Festival bis 1990 nicht nur eine Auswahl innovativer, progressiver und zumeist revolutionärer Musik, sondern galt mit frühen Performances von 808 State, Einstürzende Neubauten und Jeff Mills als Vorreiter bei der Korrespondenz von industriell-geprägter Noise-Musik und Clubkultur. 2013 feierte das Atonal im Kraftwerk in Berlin-Mitte mit Auftritten von Juan Atkins, Voices From The Lake und Jon Hassell seine gelungene Wiedergeburt.
B wie Berliner Publikum
Zum Atonal kamen auch in diesem Jahr zahlreiche internationale Gäste, was aber beim multi-kulturellen Schmelztiegel, den Berlin hin und wieder ausmacht, aber kaum verwundert. Auffällig war jedoch sowohl die Bandbreite der Gäste – jung und alt, Szene und Neulinge, von Raver über Punks bis hin zum hippen Gesindel – als auch der hoch respektvolle Umgang miteinander und mit den durchaus herausfordernden Künstlern. Gerade beim Eröffnungskonzert war es mucksmäuschenstill – für Berliner Verhältnisse beinahe schon ein Novum.
C wie Cabaret Voltaire
Was für Berlin gilt, trifft natürlich auch auf so gut wie jedes Festival zu: Man kann nicht immer bei allem dabei sein. So erkläre ich jedenfalls mal mein Fernbleiben. Trotzdem wurde der Auftritt von Cabaret Voltaire, oder sagen wir lieber Richard H. Kirk, ist er doch das einzig verbliebene Bandmitglied, natürlich mit großer Vorfreude erwartet. Könnte man auch Headliner schimpfen, wenn man will. Wie es nun war? Glaubt man den subjektiven Feedbacks von Dortgewesenen, so schwankt die Response von herber Enttäuschung über „klang nach Moby“ bis hin zu nostalgischer Schwärmerei. Anyone?
D wie Donato Dozzy
Gibt es natürlich nicht, aber der Italiener entwickelt sich möglicherweise zu einem inoffiziellen Atonal-Resident. Nachdem Donato Scaramuzzi bereits im letzten Jahr mit seinem Partner Neel als Voices From The Lake für einen Höhepunkt sorgte, war die Live-Weltpremiere von Aquaplano Sessions, dem gemeinsamen Album mit Nuel, am Freitagabend ein atmosphärischer Monolith. Irgendwo zwischen Dub und Ambient entwickelte ihr Set eine sakrale Aura mit Schamanen-ähnlicher Rhythmik, die mit all ihren Details immer noch nachhallt. (Bild v. links: Nuel, Donato Dozzy)
E wie Eröffnung
Das Eröffnungskonzert war der insgeheime Coup des Festivals. Bereits in den 60er- und 70er-Jahren ein Pionier, finden auch die Veranstalter, dass Steve Reich als Vorreiter der Minimal Music so etwas wie der Papa der Clubkultur ist. Nach dem Setup von vier Bongo-Paaren, auf denen vier Musiker den ersten Teil von Reichs “Drumming” wiedergaben, führte das Frankfurter Ensemble Modern „Music For 18 Musicals“ auf. Mit Violinen, Klarinetten, Pianos, Marimbas, Cello sowie vier Frauenstimmen entfaltete das Meisterwerk alsbald seine hypnotische Wirkung. Loops, Patterns, Phasing – alles nicht nur ohne Elektronik, sondern als Quelle für das gesamte Festival.
F wie Französisches Quintett
Gemeint ist das Pariser Kollektiv DSCRD (sprich: Discordance), das bereits mit Releases auf Stroboscopic Artefacts und dem spannenden Label Dement3d mit ihrer ganz eigenen Art von Techno für Aufsehen sorgte. Ihre letzte EP greift nicht nur das Gedankengut von Michel Foucault auf, die fünf Herren bevorzugen einen offenen, freigeistigen Prozess – sowohl live als auch auf ihren Produktionen. Ihr Set war eine Überraschung in Sachen Abstraktion, wo zwar in den Zwischenräumen Andeutung von Industrial, Techno, Dub und Drone zu finden waren, doch gerade als Einheit waren die 60 Minuten zutiefst einnehmend.
G wie Geblitztdings
Alle haben Strobo, ist ja klar. Wäre demnach natürlich Quatsch davon zu sprechen, dass der Tresor für die Lichtblitze bekannt ist. Dennoch wird man im hier noch immer irgendwie am krassesten geblitztdingst.
H wie Heizkraftwerk
Das stillgelegte Heizkraftwerk ist nicht nur Teil vom Tresor, sondern in seiner Erscheinung einzigartig. Fette Beton-Säulen, meterhohe Decken und dieses industrielle Flair versprühen eine düstre, sakrale Mächtigkeit. Man kommt sich vor wie im Museum, andauernd starrt man nach oben, versucht die Größe einzufangen. Ein großes Kompliment dafür, dass die Betreiber diesen Ort nicht mit allzu viel Events ausschlachten. Trotzdem ist die Location beim Atonal irgendwie der geheime Star.
I wie Ice Bucket Challenge
Ohne Frage ist die Spenden-Kampagne zur Nervenkrankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) aktuell der virale Hit im Netz. Während des Festivals war zumindest mein Facebook-Stream voll mit A- bis Z-Promis, die sich einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf gossen. Alles für den guten Zweck natürlich. Auf dem Atonal wurde dieser noblen Form der Wasserverschwendung jedoch nicht gefrönt.
J wie Junk Food
Die gängige Handbrotzeit fehlte beim Atonal genauso wie zahlreiche „Festival-Klassiker“. Dafür wusste das Streetfood mit japanischen Pancakes, Ice Cream Sandwiches, einer kulinarischen Auswahl an Kuchen und Bananenbrot andere Akzente zu setzen. Muss also nicht immer Fritten und Pizza sein – und die Preise waren ebenfalls fair.
K wie Konsum
Irgendwie schon ein schreckliches Wort, denkt man doch gleich an Adorno und seinen Aufsatz „Kulturindustrie – Aufklärung als Massenbetrug“. Sei es drum, das Atonal bietet jedenfalls keine allzu leichte musikalische Kost an. Die Intention ist es, sowohl audiovisuelle Experimente mit elektronischer Klangkunst zwischen Techno, Ambient, Industrial und Noise zu präsentieren, die sich eben besser in einem alten Kraftwerk als auf der gemütlichen Couch zu Hause macht.
L wie Live
Ob mit Laptop, analogem Arsenal oder eine Mischung aus beiden Welten – so eindeutig fassen kann man den Begriff „live“ in all den Ausprägungen elektronischer Musik immer noch eher schwerlich. Großartig waren jedoch die Sets von Stanislav Tolkachev und LADA (Dash Rush & Lars Hemmerling). Persönlich zwar nicht erlebt, aber sowohl Vessel (Bild) als auch das Duo Ninos Du Brasil mit ihrer brasilianischen Percussion und der Melange aus Samba, House und Hardcore haben Eindruck hinterlassen. Eher schwach war hingegen das Set der New Yorker Legende Adam X als ADMX-71.
M wie Murcof
Die große Enttäuschung des Festivals. Während Insider noch heute von seiner audiovisuellen Show im letzten Jahr schwärmen, war das Raumklangsystem 4DSOUND ein etwas unspektakuläres Unterfangen. Der gebürtige Mexikaner ließ ein minimales Stück vom Laptop abspielen, während sich der Sound zwischen 16 Säulen bewegte und plastisch wahrnehmbar sein sollte. Vor einer drückenden Funktion One zu stehen, verursacht mehr Gänsehaut.
N wie Nächstes Jahr
Macht natürlich wenig Sinn bereits in das kommende Jahr zu schauen, doch hinter den Kulissen werden sicherlich schon erste Überlegungen getroffen. Das Atonal sollte weiterhin auf die ganz großen Namen verzichten, da dieses Festival mit seinem Nischen-Potpourri genau die richtige Mischung der aktuellen Sound/Noise-Entwicklungen abbildet. Naja, zwei Wünsche von meiner Seite gibt es dann doch für 2015: Video-Künstler Chris Cunningham und Aphex Twin.
O wie OHM
Das ehemalige Shift mimte beim Atonal Festival eine Art zweiten Floor, gerade während im Tresor nach den Performances im Kraftwerk die After-Partys stiegen, bot das OHM mit unter anderem dem Sendai Soundsystem (Bild) oder Marcellis eine interessante Abwechslung.
P wie Parsec
Eine der eindrucksvollsten Installationen war „Parsec“ von Joris Strijbos und Daan Johan. Auf der zweiten Ebene des Kraftwerks bewegten sich in einem tiefen Raum 16 identisch rotierende Stahl-Arme, an denen jeweils Lichter befestigt waren. Durch die Rotation der Konstruktion wurde nicht nur ein Schwarm-evozierender, maschineller Sound produziert, die Lichter sorgten bei längerer Betrachtung für eine hypnotische Erfahrung, die einen regelrecht in Trance versetzen konnte.
Q wie Querverweise
Assoziationen sind natürlich unendlich, hier eine Auswahl: Berghain, wegen der massiven Treppe als Eingang zum „Floor“. Warehouse-Spirit, wegen des übermächtigen Komplexes. Post-Punk, wegen der zahlreichen Verweise unter anderem von Ike Yard. Avantgarde, wegen Steve Reich und dem Nischen-Programm.
R wie Rave
Wenn überhaupt, dann wurde lediglich auf den Aftershows das Tanzbein geschwungen. Da jedoch auf dem Tresor-Floor (immer noch und schon wieder) ganz ungeniert Fotos und Videos gedreht wurden, entstand nicht wirklich ein Wir-Kreisen-Jetzt-Mal-Alle-Gemeinsam-Aus-Feeling. Freitagnacht wusste vor allen Dingen Mischa, Klammer auf Hardwax Klammer zu, mit einem schön treibenden und stampfenden Set zu überzeugen.
S wie SHXCXCHCXSH
Ihr wisst schon, dieses Duos, dessen Name jeder nur copy-und-pasted. Mit ihrem intensiven Gothic-Techno haben sie dem Label Avian nicht nur eines der kohärentesten Alben des letzten Jahres geschenkt, sondern natürlich die Frage aufkommen lassen, ob das auch live funktioniert. Ja, funktioniert. Selbst wenn ihre Noise-getränkte Härte nicht den gängigen Floor-Regeln entspricht, lässt sich zu den morbiden Sounds trotzdem tanzen. Dass die beiden Schweden in für Boxer bekannten Umhängen aufgetreten sind, gehört wohl zur Show. Underground Resistance everywhere.
T wie Tim Hecker
Mit etwas Verspätung, dafür aber mit einer erschreckend stimmigen Performance darf das Quasi-Abschlusskonzert des Kanadiers durchaus als Highlight durchgehen. Ambient ist das in meinen Augen nicht, dafür drückten sich die Sub-Bässe zu heftig in die Magengrube. Heckers Musik bestand aus sich aufschaukelnden Chords, die sich in Kombination mit der Größe des Kraftwerks tatsächlich als Kathedralen-Elektronik entpuppte. Dass während der 60 Minuten sowohl Visuals als auch Scheinwerfer aus blieben, war eine gute Entscheidung.
U wie UF
Samuel Kerridge und eine Hälfte von Oake spielten am letzten Festivaltag ihre gemeinsame Weltpremiere als UF. Hämmernde Rhythmen, schwarz-weiße Visuals, die sich morphend miteinander in einen Dialog begaben und furztrockener Noise, der sich mit ordentlich Bass als Distortion-Urgewalt demaskierte – ein Sounddesign der rabiaten, doch schlichtweg mitreißenden Art.
V wie Visuals
Über der Bühne im Kraftwerk hing eine riesige Leinwand, auf der zu beinahe jedem Set Visuals liefen. Warum die Wand ein wenig zu weit links hing, darf als penible Korinthen-Kackerei-Frage abgeheftet werden. Zumeist blieben die Darbietungen jedoch unter den Maßstäbe setzenden Visualisierungen vom letzten Jahr zurück. Große Ausnahme soll das apokalyptische Endzeit-Szenario von Milton Bradleys „End Of All Existence“ gewesen sein.
W wie Workshops
Neben dem musikalischen Portfolio bot das Festival mit Workshops, Seminaren und Vorfrührungen von Dokumentationen (wie etwa „I Dream Of Wires“ über die Geschichte modularer Synthesizer) ein wenn auch kleines, doch feines Nebenprogramm. Neben der Ableton-Session mit Jesse Abayomi über die Arbeitsweise mit Field Recordings aus dem Kraftwerk, wäre die Podiumsdiskussion „Das Berlin-Detroit Experiment“ mit Dimitri Hegemann, Alec Empire und Max Dax sicherlich ein Besuch wert gewesen.
X wie Xylophon
Das Holz-Instrument und mehr oder minder einzige X-Wort, das mir zum Atonal Festival eingefallen ist, kam beim Eröffnungskonzert von „Music for 18 Musicians“ zum Einsatz. Yeah!
Y wie Yoga
Brachial war vielleicht die eine oder andere Performance, die Besucher hingegen haben es sich im beton-kalten Kraftwerk regelrecht gemütlich gemacht. Mitgebrachte Sitzkissen, Decken und sogar Hängematten wurde genutzt, um trotz fehlendem Chillout-Bereich ein bisschen Entspannung in das noisige Treiben zu bringen. Keine schlechte Idee für das kommende Jahr.
Z wie Zuletzt
Die Quintessenz vom Atonal 2014 fällt positiv aus. Gerade mit den zahlreichen Weltpremieren konnten die vier Tage einige Überraschungen präsentieren, die jenseits von der Clubkultur ablaufen. Trotz einiger Enttäuschungen konnte das Festival nicht nur ein überaus konsistenten Line-up präsentieren, sondern konnte im Gegensatz zum CTM Festival auch ohne übergeordnetes Thema zahlreiche Denkanstöße bieten. Wir freuen uns auf 2015.