Martyn ist ein musikalisches Chamäleon. Die äußere Hülle ändert sich stetig, doch die Grundsubstanz bleibt dieselbe. Seine eigenständige Soundästhetik konnte man schon bei seinen frühen Drum’n’Bass-Stücken heraushören, und mit dem 2009 erschienenen Debütalbum G r e a t L e n g t h s verfestigte sich dieses Charakteristikum. Nicht wenige haben deswegen das neue Album G h o s t P e o p l e sehnsüchtig erwartet, und wie schon sein erstes ist auch dieses wieder sowohl zum Anhören als auch zum Auflegen geeignet. Doch was ist neu? Neu ist eigentlich das Alte: Zu Martyns Ästhetik gesellen sich nun immer öfter altbekannte Sounds von 808, 909 & Co. In der dem Album beigelegten Presseerklärung heißt es dazu, dass Martyn sich assoziativ alten Produktionsmentalitäten nähern und doch etwas Eigenständiges schaffen wollte – in etwa so, wie Ron Hardy aus einem Soulstück einen Housegroove herausgefeilt hätte oder wie Goldie Breakbeats weit in die Zukunft katapultierte.
„Love And Machines“ ist die richtungsweisende Eröffnung des Albums: Spaceape rezitiert zu kosmischen Synthesizerklängen ein Gedicht über die Mensch-Maschine-Beziehung, es könnte ebenso gut ein Monolog des Replikanten Roy Batty aus B l a d e R u n n e r sein. Mit der bereits ausgekoppelten Single „Viper“ erweckt Martyn dann ein Sinfonieorchester aus Industrierobotern zum Leben, die Sehnsüchte nach der einsetzenden Bassdrum werden dabei nicht erfüllt. Die schlägt dann umso mächtiger bei „Horror Vacui“ zu, Ron Trent persönlich scheint ihm die Beatprogrammierung eingeflüstert zu haben – diesem Stück ist es vorbestimmt, auf prall gefüllte Tanzflächen losgelassen zu werden. Bei „Distortions“ lehnt sich Martyn dann vorsichtig an die komplexen Keyboardarchitekturen eines Carl Craig an und lässt leise Strings über einem Polyrhythmus kreisen. Mit „Bauplan“ reist er noch weiter zurück in der Zeit, es ist eine großartige Reminiszenz und Verbeugung vor Kraftwerk.
Doch obwohl sich in allen elf Titeln Eigenheiten und verspielte Feinheiten finden lassen, ist Ghost People ein einheitliches Album: Während G r e a t L e n g t h s von Melancholie und bittersüßem Kummer geprägt war, scheint Martyn sich nun die bereits überholte musikalische Zukunft Stück für Stück einverleibt zu haben. Jedoch immer in Verbindung mit seiner – man kann jetzt schon sagen: patentierten Soundästhetik. Das abschließende „We Are You In The Future“ bringt das nochmals schön auf den Punkt und zeigt, dass das Album ein gelungener Spagat zwischen historischen Referenzen und avantgardistischer Tanzmusik ist. Das Warten hat sich gelohnt!
Stream: Martyn – Popgun