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Electronica

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Schoßmusik ist im Gegensatz zu Mutterleibsmusik – wir erinnern uns an die Vergleiche: Bunker oder Tresor, kein Tageslicht, immense innere Wärme, Entgrenzungserlebnisse – weniger totalitär. Oder sollte ich lieber sagen: weniger ganzheitlich? Sich im Schoße der Buddies suhlen, darum geht es in dieser frühherbstlichen Ausgabe von Electronica. Azeda Booth aus Calgary zum Beispiel klingen wie Erdbeer-Softeis auf der Freundesveranda. Polyrhythmische Perkussionen und styroporene Synthesizer strukturieren die Landschaften, durch die Sänger Jordon Hossack seine Falsettstimme schickt. Auf der Debüt-LP In Flesh Tones (BB*Island/Cargo) weicht das Sextett mit diesen Mitteln alle stabilen Vorstellungen auf, die man von popM, Shoegazing und Schmachtfetzen so haben kann. Jordon Hossack ist die würdige Fortsetzung von Kate Bush und Tori Amos mit anderen Mitteln.
Hey Hey Galaxy dagegen bezeichnet sich selbst als „Soft Boy“. Sein selbstbetitletes erstes Album erscheint als Download auf dem Hamburger Label Ratio Records und geht mit Songtitlen wie „Mescaline“ und „Echo Drinks“ auf kosmische Reisen, angetrieben von uralten Keyboards, primitiven Rhythmusmaschinen und ziemlich analogen Effektgeräten. Hier bricht der Berliner René Gleitsmann das ästhetische popeal der Erhabenheit mit dem Selbstentwurf des Freaks. Und wenn der Freak so richtig ausrasten möchte, dann veranstaltet er ein Bacchanal wie zum Beispiel auch die elitären Studenten in Donna Tarts Entwicklungsroman Die Geheime Geschichte. In einer Nacht verwandelt sich eine der Figuren im Drogenrausch in ein Reh, und diese Geschichte fällt mir in den Schoß, wenn ich Dragging A Dead Deer Up A Hill (Type/A-Musik) von Grouper höre. Dahinter verbirgt sich Liz Harris aus Portland, Oregon. Rein formal betrachtet singt sie impressionistische Folksongs, doch die Art der Aufnahme und Weiterprozessierung gleicht eher dem Vorgehen von Ambient. Akustische Instrumente bohren sich gefräßig durch weit verzweigte Tunnelsysteme, sodass die Lieder von Grouper immer wie eine Erinnerung an Musik wirken. Überhaupt ist ja seit zwei Jahren ungefähr das Prinzip des Wiegenlieds en vogue, modernisiert durch hyperrealistische Ästhetiken wie etwa die des Manga. In Japan zum Beispiel erscheinen derzeit Parade (Plop/MDM) von Sängerin Miko sowie die selbstbetitlete LP von Tenniscoats & Secai (Noble/Import). Hier wird die Seele natürlich nicht im Schoße Abrahams gerockt. Hier blicken großrunde Augen in Welten mit einem nie zuvor gesehenen Farbenüberschuss. Auch The Music Makes Me Sick von It’s A Musical (Morr Music/Indigo) hat sich seine Kindlichkeit bewahrt. Was klingt wie eine komplette Band, haben die auch als Bobby Baby geschätzte Ella Bixt und ihr Partner Robert Kretzschmar komplett zu zweit eingespielt. Und zwar mit dem Mut zum voreingestellten Pianosound und zum Softpop-Schlagzeug-Break. Die Unbeschwertheit im Umgang mit Klang lässt auch die neue, zweite Compilation von Karaoke Kalk nicht vermissen: Auf Kalk Seeds 2 (Karaoke Kalk/Indigo) versammeln sich mit Hausmeister, Donna Regina, Pluramon oder Wechsel Garland alle Schätze dieser Welt.
Wobei: Fehlen noch zwei. Zunächst gibt es nach jahrelangen Verschiebungen (das Bizniz!) endlich die neue von Iso 68. Auf Space Frames (Pingipung/Kompakt/A-Musik/Morr Music) erspielen sich Florian Zimmer und Thomas Leboeg dichte Atmos aus Zischel-Hihats, abschmierenden Tonhöhen, Glöckchen und einem Sun-Ra-Tribut. Nach dem gefeierten Kammer-Indietronica-Album Here/There aus dem Jahr 2003 ein überraschend vielseitiges, weniger hermetisches Electronica-Werk. Während Thomas Leboeg ansonsten Tasten und Knöpfe in der Hamburger Popband Kante spielt, ist Florian Zimmer bei Saroos und auch bei Jersey aktiv. Letztgenannter Gruppe gelingt mit Itinerary (Pony/Indigo) der große Mischmasch aus Dub-Haltung, elektronischer Sensibilität und Pop-Bewusstsein. Schoßigste Schoßmusik.

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