War 2013 noch das Jahr, in dem das Musikvideo-Genre eine kreative Wiedergeburt feierte und endlich auch seine interaktiven Möglichkeiten überzeugend genutzt wurden (Stichworte: „Happy“, „Like A Rolling Stone“), so lautete 2014 die wichtigste Frage: Wer zerbricht das Internet (und wie)? Nach den Experimenten mit Interaktivität und viralen Strategien im Jahr zuvor setzten Labels und Künstler dabei auf klassische Er- und Aufregungseffekte. Über die Darstellung des weiblichen Hinterns – am prominentesten unter anderem von Nicki Minaj eingesetzt – wurden ganze und durchaus schlaue Essays geschrieben. Das Thema spielte auch in der elektronischen Musik eine große Rolle, wie unsere Auswahl von zwölf der wichtigsten Clips des Jahres im Groove-Universum zeigt. Natürlich gab es aber auch 2014 wieder großartige visuelle Experimente und mitreißend erzählte Kurzfilme – kein bahnbrechender, aber ein guter Jahrgang.
Januar: Holly Herndon – Chorus
Das akustische Ausgangsmaterial für „Chorus“ bildeten Samples, die Holly Herndon bei alltäglichen Streifzügen im Internet aufnahm. Dieses Konzept führte Regisseur Akihiko Taniguchi mit Hilfe von Screenshots, gesammeltem Fotomaterial und einem selbgeschriebenen 3D-Rendering-Script eindrucksvoll fort.
Februar: Julio Bashmore – Peppermint (feat. Jessie Ware)
Regisseur Noah Harris zeigt mit diesem Video, welche bizarren und verblüffenden Visionen dank 3D-Drucker, Stop-Motion-Technik und Computeranimation 2014 realisierbar waren.
März: DJ Snake & Lil Jon – Turn Down For What
Ist das nun prä-pubertärer Twerking-Quatsch oder eine großartige Parodie auf die Hypersexualisierung von Pop und Clubmusik? Das Regie-Duo The Daniels warf die Ästhetik von großen Vorbildern wie Jonas Åkerlund und Chris Cunningham und den Humor von American Pie in einen Topf und brachte damit sogar das US-Comedyzentralorgan Saturday Night Live auf den Plan. Dessen blutige Meta-Parodie des Stück und des EDM-Wahnsinns im Allgemeinen, „When Will The Bass Drop?“ (ebenfalls mit Beteiligung von Lil Jon) wurde auf YouTube millionenfach angeklickt.
April: Nozinja – Tsekeleke
Quietschbunt und psychedelisch: Der südafrikanische Meister des Shangaan Electro ließ seine Tänzer zu minimalistischen Hochgeschwindigkeits-Beats wieder die Hüften (und falschen Bäuche) kreisen. Gewinnt den Technicolor-Sonderpreis des Jahres. (Regie: Chris Saunders)
Mai: Marcel Dettmann feat. Emika – Seduction
Regisseur Parker Ellerman nahm Marcel Dettmanns Stück als Inspiration für einen neunminütigen Film Noir, der in beeindruckenden, von Fritz Lang inspirierten Schwarzweiß-Bildern eine Geschichte von Liebe, Tod und Begehren in einem wie aus der Zeit gefallenen Berlin erzählt. Dafür heimste er bei verschiedenen Festivals zurecht Preise ein und hätte den Goldenen Groove-Bären redlich verdient.
Juni: DyE feat. Egyptian Lover – She’s Bad
Eine umwerfende Mischung aus Realfilm und Animation hat sich das kanadisch-französische Regie-Kollektiv Dent de Cuir für diesen Clip ausgedacht. Vorsicht: Die von Egyptian Lover besungene Femme Fatale ist wirklich baaaad!
Juli: To Rococo Rot – Classify feat. Arto Lindsay
Ähnlich wie die Musik entfaltet dieser entschleunigte Clip des Geschwister-Paares Orson und Pola Sieverding seine Wirkung erst nach und nach auf subtile Weise.
August: Basement Jaxx – Never Say Never
Kim? Nicki? Nix da, den besten Hintern 2014 hatte der Twerkbot 1.0! Davon waren nicht nur japanische Wissenschaftler, sondern auch die Basement Jaxx und der Regisseur Saman Kesh überzeugt. Prädikat: Besonders – ähem – bootyfull.
September: Arca – Thievery
In einem Musikvideo-Rückblick auf dieses Jahr darf Arca auf keinen Fall fehlen. Gemeinsam mit dem kanadischen Filmemacher Jesse Kanda setzte sich der venezolanische Björk-Kollaborateur in einer Reihe von Clips und Live-Visuals mit Körperpolitik und sexueller Identität auseinander – mit surrealistischen und manchmal auch irritierenden Ergebnissen.
Oktober: Flying Lotus – Never Catch Me feat. Kendrick Lamar
Ganz auf klassisches Storytelling und eine kunstvolle Choreografie setzte Hiro Murai in diesem kleinen Meisterwerk, das natürlich das Leitthema des Flying Lotus-Albums You’re Dead! variierte. Was für eine Totenfeier und welch ein Soundtrack!
November: Head High – Hex Factor
Popping & Locking, echte Breckdance-Helden und die Pfadfinderei: Mehr Zutaten brauchte es nicht, um diesen Clip zu einem der gelungensten Tanzvideos des Jahres zu machen.
Dezember: Future Brown – Vernáculo feat. Maluca
Als „kapitalistischen Surrealismus“ bezeichnete die Cyber-R&B-Supergroup Future Brown diesen Clip, der die Bildsprache der Werbung für Beauty-Produkte aufgreift und verfemdet. Dass das Video vom Pérez Art Museum in Miami in Auftrag gegeben wurde und ausgerechnet bei der größten US-Kunstverkaufsschau, der Art Basel Miami Beach, seine Premiere feierte, lässt dennoch etwas stutzen. Doch die großartige Elektronik-Konzeptkünstlerin Fatima al Qadiri ist involviert – schon alleine deshalb sollte man das Projekt im Auge behalten!