Text: Heiko Hoffmann, Foto: Peter Iain Campbell
Erstmals erschienen in Groove 97 (November/Dezember 2005)
Über kaum eine Band, die so erfolgreich ist, ist so wenig bekannt, wie über Boards Of Canada. In einem seltenen Interview melden sich die beiden Schotten Mike Sandison und Marucs Eoin anlässlich ihres Albums The Campfire Headphase nach fast vier Jahren zurück und sprechen über ihre missverstandene letzte Platte, die Schwierigkeit, sich unter Erwartungsdruck weiterzuentwickeln und ihre Nostalgie-getränkte Electronica. Und überraschen gleich zu Beginn mit einem Outing.
Mike Sandison guckt leicht irritiert. Er redet, aber scheint an etwas anderes zu denken. Er guckt Marcus Eoin an. Zögert. Dann bittet er, das Aufnahmegerät für einen Moment auszuschalten und fragt Marcus, ob es ok sei darüber zu sprechen. Das Interview läuft erst seit wenigen Minuten. Es ist das erste Gespräch das Boards Of Canada mit einem deutschen Journalisten führen, seit sie vor sieben Jahren ihr Debütalbum Music Has The Right To Children veröffentlicht haben. Und eigentlich läuft die Sache überraschend entspannt an. In der Cafeteria des Royal Museum in Edinburgh sitzen einem keine verstockten elektronischen Erdnuckel gegenüber wie man es befürchtet hatte – im Gegenteil. Mike Sandison und Marucs Eoin wirken sehr offen symphatisch und artikuliert. Doch dann wird man plötzlich gebeten, das Interview zu unterbrechen, nur weil man nochmal bei der Standardfrage nachhakt, wann sich die beiden überhaupt kennengelernt haben. Mike, der farblich passend zum hellblauen Kaputzenpulli nicht nur ein Basecap, sondern auch ein hellblaues Pflaster an der rechten Hand trägt, entschuldigt sich und erklärt: „Wir haben bisher nie darüber gesprochen, aber Marcus und ich sind Brüder!“
„Wir haben bisher nie darüber gesprochen, aber Marcus und ich sind Brüder!“ (Mike Sandison)
Bisher hatten Mike und Marcus Sandison („Eoin“, der Nachname, den Marucs immer angeben hat, ist eigentlich sein zweiter Vorname) immer erzählt, sie hätten sich als Kinder angefreundet, weil ihr Eltern im gleichen Dorf an der Nordküste Schottlands wohnten. Nun also Brüder. Ihre Verwandtschaft haben sie bislang verborgen, so die beiden, weil sie zu Beginn ihrer Karriere Vergleiche zu dem Brüder-Duo Orbital vermeiden wollten. Und überhaupt hätte diese Information nur von dem eigentlich wichtigen abgelenkt: ihrer Musik. „Es ist keine große Sache für uns“, behauptet Mike, der mit 34 um zwei Jahre ältere der beiden Brüder. „Aber weil uns niemand danach gefragt hat, sahen wir uns bisher auch nicht veranlasst, das richtigzustellen.“
Der ersten Überraschung folgt das Schulterzucken. Während Bands wie White Stripes oder Ween in der Vergangenheit vorspielten, Geschwister zu sein und damit gesteigerte Aufmerksamkeit auf sich zogen, ist es bei Boards Of Canada das Gegenteil. Doch die Überraschung hält sich in Grenzen, weil in der Öffentlichkeit die beiden Mitglieder stets nur als Einheit wahrgenommen wurden ohne als Individuen zu existieren. Da beide ausschließlich als Mitglieder von Boards Of Canada in Erscheinung treten und sie in ihrer Musik keine eindeutig unterscheidbaren Rollen ausüben (anders als das zum Beispiel bei anderen Geschwister-Bands wie den Sparks, Oasis oder gar den Jackson 5 der Fall ist), ist es kaum von Bedeutung in welchem Verhältnis die beiden zueinander stehen.
Mike Sandison: Wir waren so etwa sechs oder sieben Jahre alt, als wir anfingen Instrumente zu lernen und zusammen zu musizieren. Mit zehn haben wir dann begonnen, unsere Musik aufzunehmen. Wenn deine Eltern einen Kassettenrekorder und ein Klavier herumstehen haben, fängst du halt irgendwann an, damit herumzuspielen. Natürlich hatten wir damals kein Mehrspuraufnahmegerät, aber wir hatten zwei Kassettenrekorder. Also nahmen wir mit dem einem Rekoder Musik auf, die wir zum Beispiel auf dem Klavier spielten. Dann steckten wir die Aufnahme in den anderen Rekorder, spielten sie ab und begleiteten sie auf einer Gitarre oder dem Schlagzeug, während wir alles zusammen erneut auf dem anderen Rekorder aufnahmen, der fünfzig Zentimeter entfernt stand. Diesen Prozess wiederholten wir solange, bis die Aufnahmen so verzerrt klangen, dass man kaum mehr die einzelnen Instrumente wahrnehmen konnte und das Band schon völlig zerschlissen war. Es war eine extrem einfache Art des Multitrack-Recordings, aber für uns war es eine gute Möglichkeit zu lernen unsere eigenen Sachen zu komponieren.
Marcus: Später, als wir auf die High School gingen, waren wir dann eine zeitlang in unterschiedlichen Bands.
Mike: Aber wir nahmen zuhause weiterhin gemeinsam Musik auf. Mitte der Achtziger war Marcus in einer schrecklichen Heavy Metal-Band, deren Musik ich überhaupt nicht leiden konnte. Also fragte ich ihn eines Tages, ob er nicht Lust hätte, in meiner Band mitzuspielen. Das war das erste Mal, dass wir anfingen mit Synthesizern zu arbeiten, während alle anderen Bands auf unserer Schule reine Gitarrenbands waren.
Beeinflusst von EBM- und Industrial-Gruppen wie Nitzer Ebb, Front 242 und Test Department, von Folk-Musikern wie der ebenfalls aus Schottland stammenden Incredible String Band oder Joni Mitchell, sowie den ätherisch klingenden Rock-Gruppen Cocteau Twins und My Bloody Valentine machen die Brüder Sandison seit 1989, in verschiedenen Line-Ups, als Boards Of Canada Musik. Namensgebend waren die öffentlich-rechtlichen Erziehungs- und Natur-TV-Filme des National Film Board Of Canada, die im Kindesalter einen bleibenden Eindruck auf die Beiden hinterließen.
Um die Sandisons herum entstand das lose Künstlerkollektiv Hexagon Sun, das neben Musik auch Filme machte und Vollmondparties in Burgruinen und Wäldern veranstaltete. 1996 verschickten sie Demotapes, die noch als Trio (das dritte Mitglied sollte unter dem Namen Christ Jahre später auf dem Edinburgher Label Benbecula Platten veröffentlichen) entstanden, an die Labels Warp, Rephlex und Skam. Das von Autechre betriebene Skam-Label meldete sich als einziges zurück und veröffentlichte in Kleinstauflage und zum Teil in Zusammenarbeit mit dem Funkstörung-Label Musik Aus Strom in Kleinstauflage eine Reihe von vielbeachteten Singles, sowie das Minialbum „Hi Scores“, das gerade zeitgleich mit dem Erscheinen des neuen Albums wieder aufgelegt wurde. Rückblickend erscheint diese Zeit als die einzige, in der man Boards Of Canada einer bestimmten Szene zurechnen konnte. Boards Of Canada spielten als Vorgruppe von Seefeel und Autechre, arbeiteten mit Funkstörungs Michael Fakesch zusammen und wurden schließlich konsequenter Weise doch noch bei Warp unter Vertrag genommen.
Music Has The Right To Children, das 1998 veröffentlichte Debütalbum, markierte mit seiner sorgfältig zusammengefügten Nostalgie-Electronica nicht nur einen Meilenstein der elektronischen Musik, sondern wurde selbst von Rockmagazinen wie dem englischen Mojo, zu einem der wichtigsten Alben der 90er erklärt. Für Warp bedeutete es zudem den größten Überraschungserfolg der Labelgeschichte: Aus den ursprünglich 5.000 hergestellten Platten wurden mittlerweile mehr als 200.000 verkaufte Alben – was Boards Of Canada vermutlich zur erfolgreichsten Gruppe macht, die weder Singles oder Videos veröffentlicht, noch auf Tour geht. In den Folgejahren konnte man ihre charakteristsiche Mischung aus Kinderstimmen-Samples, Mono-Synthesizern und HipHop-Beats nicht nur auf unzähligen Electronica-Produktionen wieder finden, sondern ihr Sound hatte auch Einfluss auf die Musik von Air oder Radioheads Kid A-Album.
Campfire Headphase
Bereits als vor dreieinhalb Jahren das letzte Album Geogaddi erschien, kündigten Boards Of Canada an, dass die Nachfolge-Platte schon halb fertig sei. Doch erst jetzt erscheint mit The Campfire Headphase das neue Album. Dreieinhalb Jahre sind auch für die meisten anderen Musiker eine überdurchschnittlich lange Zeit für eine neue Platte, aber bei Mike und Marcus Sandison wird dieser Umstand verstärkt durch ihren übrigen Mangel an Output. Sieht man von drei Remixen für Boom Bip, Clouddead und zuletzt Beck einmal ab, ist in der Zwischenzeit kein einziger neuer Ton von Boards Of Canada erschienen und auch auf Konzerte verzichteten sie in der Zwischenzeit. Wie sonst vielleicht nur bei Kraftwerk fragt man sich, was Boards Of Canada den ganzen Tag über so machen. „Es gab einige Veränderungen in unseren Leben“, erklärt Mike. „Zuerst sind wir beide umgezogen und haben uns neue Studios eingerichtet, was fast ein Jahr in Anspruch genommen hat. Dann habe ich ein Kind bekommen und die ersten neun Monate war da an Musik ebenfalls nicht zu denken.“ Beide Brüder wohnen nun in der Nähe von Edinburgh auf alten Bauernhöfen. Marcus in East Lothian an der Ostküste Schottlands, Mike in den Boarders an der Grenze zu England. Etwas mehr als ein Jahr haben beide tatsächlich mit der Fertigstellung der neuen Platte verbracht haben. Bis Juni haben sie täglich 12 bis 15 Stunden in einem ihrer beiden Heimstudios gearbeitet.
Video: Boards of Canada – Dayvan Cowboy
The Campfire Headphase ist wieder eine unverkennbare Boards Of Canada-Platte, jedoch mit einigen wesentlichen Neuerungen: Auf den bislang typischen Einsatz von Vocal-Samples wird diesmal verzichtet und die Stücke klingen klarer, einfacher und auch optimistischer als zuletzt auf Geogaddi. Auffallend ist auch die Verwendung von Streichern, Schlagzeug und vor allem leicht verstimmt klingende Gitarren, die mitunter an My Bloody Valentines „Loveless“ erinnern. Exemplarisch für diese Neuausrichtung ist der Track „Dayvan Cowboy“, der vorab auf Bleep.com veröffentlicht wurde. Nach einem langen, atmosphärischen Intro, während dem nicht viel zu passieren scheint, steigert sich das Stück zu einem für Boards Of Canada-Verhältnisse wilden Track voll Percussion, Streichern und Tremolo-Gitarren, der DJ Shadow und Sigur Ros gleichermaßen begeistern dürfte.
Mike: Wir wollten auf der neuen Platte ein paar Schritte zurückgehen und einfach nur eine Band sein. Wir wollten eine Platte machen, so wie sie auch eine Garage Rock Band machen würde. Wir stellten uns dafür einen Trip vor, während dessen jemand mitten in der Nacht irgendwo auf dem Land sein Auto parkt, ein Lagerfeuer anzündet und sich dann den Rest seiner Reise zusammen träumt. Wir wollten Sounds generieren, die an alte 70er Jahre Folk-Platten von John Denver oder Joni Mitchell erinnern. Das Problem mit uns ist, das wir diese schizophrene Herangehensweise an Musik haben, die uns auch jetzt noch verfolgt. Als wir mit der Arbeit an der neuen Platte anfingen hatten wir eine Art Kampf. Auf der einen Seite wollten wir eine sehr stark elektronische Platte machen, auf der anderen Seite eine sehr von Gitarren bestimmte Platte. Das Problem ist, wie wir diese beiden Extreme zusammenführen können. Wir waren nie große Freunde von Laptop-Musik und es war uns auf dieser Platte wichtiger als zuvor, Musik zu schaffen, die nicht ausschließlich aus elektronischen Kisten stammt.
Marcus: Einige der Stücke, an denen wir gearbeitet haben, sind so extrem in einer Richtung, dass wir sie einfach nicht benutzen können. Sie passen einfach überhaupt nicht in das BOC-Ding. Die ersten Reaktionen auf unsere neue Platte zeigen schon, das es zwar einige Leute gibt, die sehr glücklich mit dem Ergebnis sind, aber es gibt auch welche, die ein Problem mit den Gitarren-Sachen haben. Wenn wir also ganz diese Richtung eingeschlagen hätten, würde niemand glauben, dass es sich noch um die gleiche Gruppe handelt. Es würde niemand darauf kommen, dass wir das sind.
Mike: Die neue Platte ist wahrscheinlich die langsamste, die wir je gemacht haben. Wir haben die Gitarren bewusst benutzt, weil wir uns weiterbewegen mussten. Uns hat es gestört, dass man in die großen Plattenläden geht und unsere Musik in der Dance-Abteilung findet. Wir haben in unserer ganzen Karriere keine einzige Dance Platte gemacht, aber unsere Platten werden trotzdem dort einsortiert. Mit dieser Platte wollen wir raus aus der Dance-Ecke und rein in die Hauptabteilung neben Bands wie Abba und A-ha (lacht). Wir sind einfach eine Band und zwar weder eine IDM-Band, noch eine Dance-Band.
Der Teufel im Detail
Boards Of Canada leben mit dem Widerspruch, dass sie einerseits ziemlich zurückgezogene und öffentlichkeitsscheue Künstler sind, denen sämtliche Aktivitäten, die über ihre Produktionen hinausgehen, suspekt erscheinen, aber andererseits sehr – vielleicht zu sehr – auf die Außenwahrnehmung ihrer Veröffentlichungen bedacht sind. Ein wichtiger Grund, warum sich Mike und Marcus Sandison jetzt öffnen, ist sicher Geogaddi und die unerwarteten Folgen.
Auf ihrem zweiten Album schufen Boards Of Canada 2002 eine düstere Traumwelt, auf der es nicht nur musikalisch viel zu entdecken gab. Die Platte ist voll von, zum Teil versteckten, Anspielungen auf mathematische Gleichungen, heidnische Kunst und Okkultismus. Schon wenn man die CD einlegt, zeigt der Player eine Gesamtlaufzeit von 66 Minuten und 6 Sekunden an. Auf dem Track „The Devil Is In The Details“ etwa ist eine verlangsamte Frauenstimme zu hören, die sich in Selbsthynose spricht, dazu erklingt, was zunächst nach Gesangsfetzen klingt, sich dann aber als ein verzweifelt schreiendes Kind herausstellt. Desweiteren befindet sich in dem Stück ein Riff, dem Fibonaccis Goldener Schnitt als Kompositionsgrundlage dient. Auf „You Could Feel The Sky“ ist nach zwei Minuten und 13 Sekunden, während eine Kirchenglocke erklingt, im Hintergrund eine Stimme zu hören. Spielt man sie rückwärts ab sagt sie: „A God With Horns… A God With Hooves“ – womit niemand anders als der Teufel gemeint sein kann. Und all das, nachdem bereits die zuvor veröffentlichte EP „A Beautiful Place In The Country“, die auf den ersten Blick ein idyllisches Landleben preist, sich als Platte über die Sekte der Branch Davidianer herausstellt, die 1993 im amerikanischen Waco in einem Blutbad unterging.
In Internetforen und Newsgroups entwickelten Fans ein zum Teil obsessives Interesse an der Platte. Immer neue – tatsächliche wie mutmaßliche – versteckte Details der Platte wurden entdeckt. Die Gerüchteküche brodelte. Fortan gelten Boards Of Canada bei nicht Wenigen als Okkultisten. Wer weiß, vielleicht führten sie gar ihre eigene satanistische Sekte in der Abgeschiedenheit der Hügel von Schottland?
Mike: Als wir Geogaddi gemacht haben, waren wir an lauter obskuren Sachen wie Numerologie und Formeln, Architektur…
Marcus: … heidnische Kunst…
Mike: … religiöser Kunst überhaupt und solche Sachen interessiert. Wir haben versucht diese Sachen anzudeuten, aber es ist nicht so, dass sich das Album nur damit beschäftigt. Es ist kein Konzeptalbum. Aber diese Themen haben sich im Artwork, den Titeln und zum Teil auch den Tracks selbst wiedergefunden. In soweit ist unser neues Album eine direkte Reaktion auf Geogaddi. Die ganze Stimmung der Platte ist erhebender und fröhlicher. Wir gelangten an einen Punkt, an dem wir die ganzen Geheimnisse und die Magie und den ganzen Nonsens, der sich um die letzte Platte aufgebaut hat nur noch lächerlich fanden. Leute fanden plötzlich Dinge in unserer Musik, die gar nicht dort waren und behauptet, dass alle Stücke einen teuflischen Unterton hätten. Dabei sind wir überhaupt nicht so. Es war eines der Themen denen wir auf Geogaddi nachgehen wollten, aber die Leute schlossen daraus, dass wir immer und überall geheime, düstere und satanische Sachen in unsere Musik tun. Und all das wurde auf einmal wichtiger als die Musik selbst. Mit der neuen Platte wollten wir das Ganze wieder einfacher machen und uns auf die Musik konzentrieren.
Marcus: Wir stellten fest, dass manche Leute, die unsere Platten hörten, anstatt der Musik zuzuhören, sofort erstmal anfingen nach versteckten Sachen zu suchen.
Mike: Die Leute fangen auch jetzt schon wieder an, danach zu suchen, obwohl es gar keine versteckten Nachrichten auf der neuen Platte gibt. Geogaddi war ein Experiment, das zu erfolgreich war. Wir dachten, dass wir mit diesen geheimen Dingen, eine interessante Sache machen würden, über die ein oder zwei Leute stolpern würden, wenn sie sich mit der Platte beschäftigen. Uns war nicht klar, dass es diesen Kult schaffen würde.
Mike: Ich denke, wenn es das Internet nicht gegeben hätte, wäre es ok gewesen. Aber durch das Internet wurden diese Sachen sehr schnell verbreitet und sind ausgeufert. Für uns war das zum Teil nichts weiter als ein Witz zwischen uns beiden. Einige dieser düsteren Sachen, aber wir nur aus Spaß gemacht, oder um den Stücken mehr Textur zu geben. Sachen wie Stimmen, die man verstehen kann, wenn man sie rückwärts abspielt, sind ein Verweis an all die Bands, die so etwas in den 70ern gemacht haben.
„[Warp-Boss] Steve Beckett [schlug] vor, die Platte insgesamt 66 Minuten und 6 Sekungen lang zu machen, weil dann jeder denken würde, der Teufel hätte die Platte gemacht.“ (Marcus Eoin Sandison)
Marcus: Die Entscheidung, die Platte 66,06 Minuten lang zu machen wurde zum Beispiel im letzten Moment getroffen. Uns hat gestört, dass Leute oft ihre CD-Player auf Wiederholung stellen und dann die Platte ohne Pause sofort wieder von vorne losgeht. Wir mochten den letzten Track auf Geogaddi sehr und wollten das vermeiden. Also wollten wir dem letzten Stück etwas Stille hinzufügen, so dass es eine Pause geben würde, bevor das Album wieder von vorne losgeht. Als wir uns überlegte wie lange die Stille dauern sollten, schlug Steve Beckett (Warp-Boss) vor, die Platte insgesamt 66 Minuten und 6 Sekungen lang zu machen, weil dann jeder denken würde, der Teufel hätte die Platte gemacht. Und wir haben nur gelacht.
Mike: Leute haben dann Sachen gefunden, die gar nicht existieren. Es wurde über Palindrome, also Wörter die vorwärts genau wie rückwärts klingen, geschrieben. Es gibt tatsächlich ein Palindrom, aber Leute behaupten, dass da noch viel mehr sind. Andere sagten: wenn du diesen Song an dieser Stelle verlangsamt hörst du einen Klang, der wie ein Becken klingt, aber wenn du ihn rückwärts spielst, hört man ein Kind das schreit. Dabei ist es einfach nur ein Becken!
Analog zu Digital
Alle drei Boards Of Canada-Alben zeichnen sich durch ihren sorgfältigen und mitunter besessenen Umgang mit ihrer Klangbeschaffenheit aus. Typisch ist dabei das künstliche Ältermachen der Stücke. Mit zahlreichen Effekten versuchen Mike und Marc Sandison ihren Tracks eine fiktive Geschichte zu geben und sie soundästhetisch nach Aufnahmen aus einer bestimmten Zeit klingen zu lassen. Auf ihrem Debüt-Album dienten als klangliches Vorbild etwa die Dokumentar- und animierten Kurzfilme des National Film Boards Of Canada, die Ende der 70er und Anfang regelmäßig Oscars gewannen und auch in Deutschland gesendet wurden. Nicht zuletzt durch diese Bearbeitung wirkt ihre Musik oft sentimental und ruft Erinnerungen hervor, die sich verflüchtigen noch bevor man sie konkret benennen kann. Das hat nichts mit Retro zu tun. Boards Of Canada machen Musik wie sie nur heute entstehen kann, aber versehen sie in der Nachbearbeitung mit einem Klang, der auf die Zeit ihrer Kindheit verweist. „Für uns ist das eine sehr persönliche Angelegenheit, mit der wir auch unsere Traurigkeit über den Verlust der Wahrnehmungsfähigkeit, den man als Kind besitzt, zum Ausdruck bringen wollen“, erklärt Mike Sandison.
Video: Boards of Canada – 84 Pontiac Dream
Boards Of Canada gehören zu einer Generation, die der Wandel von analogen zu digitalen Speichermedien wesentlich geprägt hat – von Super 8-Filmen über VHS zu DVD, von Schallplatten über Kassetten zu CDs – was auch zu einer Nostalgie für die analogen Artifakte ihrer Kindheit führt. Von vergilbten Polaroid-Familienbildern, die sie auf ihren Covern zeigen, bis zu Vinylknistern und leiernden Tonbändern. „Manchmal denke ich, dass unsere Musik stark an diese Generation gebunden. Kids, die heute aufwachsen werden wohl einmal nostalgisch an die perfekten Digitalfotos und Crazy Frog-Klingeltöne ihrer Kindheit denken. Das ist für mich nicht mehr nachvollziehbar. Das ist unweigerlich eine andere Zeit.“
Mike: Es gab eine kurze Zeit nach Music Has The Right To Children, als wir viel mit Computern und Sequenzern wie Logic Audio experimentiert haben. Aber nach etwa einem Jahr hatten wir damit jede Menge Probleme. Das Problem für uns war, dass du anfängst durchzudrehen, wenn du unendliche viele Audiotracks zur Verfügung und keine Restriktionen hast. Wenn man ein einfaches Setup wie einen Mono-Synthesizer und eine Drummachine hat, sind die Sachen, die du damit machen kannst, begrenzt, aber das macht dich auch kreativer im Umgang damit.
Marcus: Es ist einfach direkter. Man kann sofort zum Punkt kommen.
Mike: Die Wahrscheinlichkeit, dass du mit wenigen Sachen interessantere Musik machst, ist größer, weil man einfallsreicher sein muss. Mit einer unbeschränkten Zahl an Audiotracks kannst du alles haben: einen großen Chor, Streicher und gallopierende Pferde… Aber je mehr du benutzt, desto unbestimmter wird deine Musik. Ich denke bis zu einem gewissenn Grad bestimmen die Beschränkungen denen du ausgesetzt bist deinen Sound und machen ihn erst unterscheidbar.
Marcus: Nimm etwa die White Stripes: die Grenzen, die sie sich setzen, machen ihren Sound so besonders. Es ist nur eine Gitarre, seine Stimme und das Schlagzeug. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Band, die mit einem Computer anfängt, auf solche Musik kommen würde.
Mike: Es gibt einfach die Versuchung, immer mehr Tracks zu benutzen, einfach weil sie zur Verfügung stehen.
Marcus: Mittlerweile benutzen wir Logic Audio mehr oder weniger wie einen Kassettenrekorder. Wir haben viele Instrumente live eingespielt und dann den Computer etwa so benutzt, wie wir die Kassettenrekorder benutzt haben, als wir Kinder waren.
Mike: Oft nehmen wir Zeug auf und basteln dann daran herum und editieren es.
Marcus: Tatsächlich ist es der schwierigste Teil für uns, einen Song zu Ende zu bringen.
Mike: An den meisten Tracks haben wir so peinlich genau gearbeitet, dass es Monate gebraucht hat, bis sie fertig waren. Den Track „84 Pontiac Dream“ haben wir zum Beispiel ursprünglich vor dreieinhalb Jahren gemacht und seitdem hat er uns in verschiedenen Erscheinungsformen beschäftigt. Wir hatten ihn schon ungefähr acht Mal fertiggestellt. Man kann also davon ausgehen, dass es für jeden Song auf dem Album etwa ein dutzend Versionen gibt, die es nicht geschafft haben. Wir arbeiten nie auf eine lineare Weise, sondern an vielen, vielen Stücken parallel.
Marcus: Anstatt mit einem Song anzufangen und an ihm zu arbeiten, bis er fertig ist, sitzen wir zeitgleich an hunderten von Stücken. Und abhängig von unserer Stimmung nehmen wir uns dann verschiedene vor. Wir haben beide ziemlich kurze Aufmerksamkeitsspannen.
Mike: Wir haben immer genug Material für mehrere andere Alben aber während unser Material da sitzt und auf uns wartet, haben wir irgendwann genug davon und beschäftigen uns mit etwas anderem. Es gibt also jede Menge Musik, die vermutlich niemals veröffentlicht wird.
Marcus: Das ist eine weitere Manifestation dieses schizophrenen Problems, das wir haben. Wir versuchen einfach zu viele Dinge aufeinmal anzupacken.
Mike: Vor Jahren haben wir auch eine akustische Version von Music Has The Right To Children gemacht, die immer noch existiert.
Marcus: Der Grund warum wir so etwas bislang nicht veröffentlicht haben ist, dass es den Eindruck entstehen könnte, als wenn wir uns ständig mit Sachen beschäftigen würde, die wir bereits gemacht haben.
Das Interview ist vorbei. Durch den verregneten schottischen Herbstnachmittag geht es noch ein paar Ecken weiter zu einer Pizzeria. Mike und Marcus Sandison plaudern über ihre Pläne nach dem Studiomarathon der letzten Monate. Gerade erst mussten sie aus Termingründen das Remixangebot einer „sehr bekannten Synthie-Pop-Gruppe, die bald ein neues Album herausbringt“ ablehnen. Jetzt freuen sie sich darauf, Zeit mit den Familien zu verbringen, auf Snowboarden, Venedigbesuche, und darauf sich endlich mal ein Album von Four Tet anzuhören. Oder vielleicht doch auf Tour gehen? Pläne für eine Vierer-Band mit dem Bassisten von Ian Brown und aufwändigen Videoprojektionen gibt es zumindest. Und ein Angebot auf Zusammenarbeit ihrer alten Helden Cocteau Twins. Und sogar Solopläne.
Mike: Unser nächstes Projekt wird radikal anders sein, als das was wir bisher gemacht haben, aber wir möchten darüber momentan noch nicht sprechen. Wir wollten mit Music Has The Right To Children, Geogaddi und Campfire Headphase eine Serie von Alben machen, auf die man zurückblicken und einen roten Faden erkennen kann. Ich denke, wenn man diese drei Alben zusammen betrachtet, kann man verstehen, dass sie einen kompletten Satz bilden.