Abenteuerlustige Elektronik, die sich nicht der leidlich ausgespielten Ausdrucksformen bedient, die vor zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren noch ganz vorne waren, ist zu einer sehr raren Spezies geworden. Insbesondere, wenn sie sich nicht in klanglichem Extremismus und radikaler Pose gefällt, wie IDM, Glitch, Breakcore, Digital Hardcore und wie sie noch alle heißen mögen. Aber es geht, es geht sogar in ganz Neu, das freie Aufspielen ohne offensichtliche Referenzen. Besonders gut in der Kombination von multimedial arbeitender bildender Künstlerin und multiinstrumentalem Musiker und Produzenten in Person der beiden Pariser Jeanne Briand & Romain Azzaro. Dass deren Arbeiten gleichermaßen in Sound-Art-Galerien wie auf den Laufstegen französischer High-End-Fashion heimisch geworden sind, ist ein Zeichen für die Qualität dieser Sounds, die auf ihrem Albumdebüt Gear(s) (Fluxus Temporis, 24. Mai) weitab jeder Beliebigkeit ganz spezifisch weit offene Räume bespielen. Die Freiräume, die sich jenseits von Club und Akademie befinden.
Abenteuerlust ist definitiv eine Gefühlslage (und ein Aktionspotenzial), die auf die selten seltsame Popmusik der New Yorker Synthesizer-Experimentalistin Fin Simonetti zutrifft. Als FIN hat sie dem an Perlen des Abseitigen definitiv nicht armen Label Hausu Mountain eine weitere frische und nochmal anders andere Geschmacksrichtung zufügen können. Ihr zweites Album Cleats (Hausu Mountain, 31. Mai) wagt sich noch ein Stück weiter in die weißen Stellen auf der globalen Karte von Pop und Post-Tribal. Wie das durchaus heftige Video zeigt, sind Irritationen nicht ausgeschlossen, aber niemals böse gemeint oder verletzend gemacht. Es bietet sich hier das Bild vom einsamen Genie an, nur dass nichts an der Arbeit von Simonetti einsam oder selbstgenügsam wäre. Im Gegenteil, es ist eine intensive Feier von Urbanität und Welt.
Die sehnsüchtigste, traumschönste, emo-verschwenderischste, weltabgewandteste und doch naheliegendste Musik, sie kann aus tiefem Schmerz und dem Gefühl der Isolation und Nichtzugehörigkeit entstehen, aber genauso aus dem Gegenteil, aus dem Gefühl des Eins-Seins mit der Lebenswelt. Das aus ozeanischen Gefühlswelten zehrende und doch mehr als konkrete Conceive the Sea (Flau, 15. Mai) der japanischen Produzentin und Sängerin marucoporoporo macht die Verbindung von Ambient und Folk zur natürlichsten wie naheliegendsten überhaupt. In der Zartheit liegt die Kraft, eine immense Macht, das Zentrum der Welt.
Dass sehr freie Musik und sehr streng kompositorisch strukturierte Musik dazu tendieren, sich eventuell von den extremen Positionen zu entfernen, mag eine Binse mit endlosen Gegenbeispielen sein, für House of Gold war es wohl eine organische Entwicklung, wenn nicht sogar die Ausgangsannahme. Drei profilierte Musiker:innen und ein ebenso notorischer Komponist und Schlagwerker aus der Improv- und Neue-Musik-Szene Kanadas und der USA finden auf einem norwegischen Avant-Jazz-Label zusammen und machen – ja, genau – eben keinen freien Avantgarde-Noise, sondern archaisch-akustischen Kammer-Folk und jazzige, postrockende Elektronik mit glockenklarer Vokalharmonik. Ihrem gleichnamigen Debüt House Of Gold (SOFA Records, 10. Mai) gelingt dies in fantastischer Traumlogik selbstverständlich und leicht.