Wie klingt die Musik der Zukunft, und warum experimentieren eigentlich so wenige Musiker mit den unendlichen technischen Möglichkeiten, die heute zur Verfügung stehen? Adam Harper, Musikwissenschaftler in Oxford, Querdenker und Blogger, liefert in seinem Buch Infinite Music Antworten, die alte Denkstrukturen entstauben und die Sicht frei machen für eine realistische Utopie von Musik. Er greift die Kulturpessimisten beim Schopf und erinnert sie daran, dass Musik mehr bedeutet als organisierter Klang, der sich auf Retro-Phänomene reduzieren lässt. Inspiriert von John Cage, der Anfang der sechziger Jahre alle uns umgebenden Klänge als Musik bezeichnete, arbeitet sich der Autor durch das Dickicht der oft selbst verschuldeten Beschränkungen und Ideologien, die auch heute noch den Weg zu neuer Musik versperren. Das klassische Notensystem etwa ist längst überholt, gerade wenn man bedenkt, dass in der aktuellen Musik weniger die Melodie als beispielsweise der komplexe Klang eines Techno-Tracks im Vordergrund steht. Deshalb leiht sich Harper den Begriff der „Variablen“ aus der Mathematik aus und öffnet somit den Blick auf die unendlich scheinenden Elemente, aus denen Musik besteht. Solche Variablen können bestimmte Klänge wie zum Beispiel ein Gitarreneffekt oder ein 808-Clap sein.
Auch der Kontexte, den „nicht-musikalischen Variablen“, sollte man sich in Zukunft bewusst sein, um sie verändern zu können: Das stille, hustenunterdrückende Sitzen beim Symphonie-Konzert oder das Tanzen im Club muss nicht selbstverständlich sein. Da neue Musik auch ein neues Hören braucht, ist dabei ein behutsames Heranführen nötig. Harper bezeichnet solche künstlerischen Kompromisse als „synthesis“, die Verbindung zwischen dem Bekannten und Unbekannten. Ein aktuelles Beispiel sei Burial, der „archetypische Komponist des 21. Jahrhunderts“ schlechthin, welcher die Verwendung unquantisierter, also nicht genau im Takt stehender Beats perfektioniert hat. Die quirlige britische Dance-Szene sei ohnehin eine Quasi-Avantgarde, die immer wieder neue unpopuläre Variablen zutage bringt. Harpers Ansatz ist durchaus auch politisch zu verstehen. Er kritisiert vor allem die spätkapitalistische Vorstellung des musikalischen Genies und verweist darauf, dass Musik weder sozial, kulturell noch ideologisch beschränkt sein darf. Die Musik der Zukunft liegt in unseren Händen.
Infinite Music: Imagining The Next Millennium Of Human Music Making ist bei Zero Books erschienen.