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CTM: Ein starkes Unwohlsein, das beinahe in Panik umschlägt

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Infernalisch grinsende Gesichter, Oktopus-Masken, orakelhafte Totems, Hardcore-Gabber – seit 25 Jahren steht das CTM für ein breites Spektrum mehr oder weniger diskursschwangerer künstlerischer Experimente an den Rändern der Clubkultur.

In diesem Jahr wurde das Festival zwischen der Realpolitik der Antisemitismusklausel des Berliner Senats und der Strike-Germany-Kampagne aufgerieben, 23 Künstler:innen sagten kurzfristig ihre Teilnahme ab. Das wirkte ungerecht, denn das CTM bot politisch ausgerichteten Acts aus dem globalen Süden seit Jahrzehnten ein einzigartiges Forum. Diese Diskussion ist allerdings nicht das Thema unserer Autorin Celeste Dittberner. Sie hat versucht, sich aufs verbleibende Programm so unmittelbar wie möglich einzulassen.

Und siehe da: Das CTM-Gefühl, das Besuchende nun schon seit Jahrzehnten kennen, stellte sich alsbald ein. Dittberner beschreibt es als Erfahrung, die das einschneidende Gefühl hinterlässt, sich im Rahmen des Festivals ein Stück weit selbst gesucht und gefunden zu haben.

Dafür bot CTM auch 2024 Raum, denn das Boykott-Brimborium war vor Ort kaum zu spüren. Zwar waren einige Veranstaltungen, die Eröffnungsnacht im Berghain etwa, spärlicher besucht als sonst, die Konzerte und Performances hingegen teilweise komplett ausgebucht. Von Gabber-Clubnächten im OXI über Kali Malones Orgelkonzert bis hin zu Marco Donnarummas Reise, in der er sich mit dem Verlust seines Gehörsinns beschäftigte, bot das Festival eine Bühne für eine glücklicherweise nur vorübergehende Auflösung der eigenen Identität in akustischen und visuellen Ereignissen, die unsere Autorin als veränderten Menschen zurückließen.

OXI: Gabbercore und Reggaeton?

Samstagnacht am Eröffnungswochenende des CTM: Beim OXI angekommen macht sich direkt ein befreiendes Gefühl breit: Puh, keine lange Warteschlange! Leer ist es im Club allerdings nicht, ganz im Gegenteil. Aus dem Inneren pustet mir direkt brachialer Gabber-Krach entgegen – das Live-Set von Julia Louise KnifeFist. KnifeFist nennt sich passenderweise auch Dublin Demon, denn sein Set ist nicht nur extrem laut und extrem schnell, sondern auch extrem brutal und extrem düster.

Julia Louise Knifefist OXI CTM Festival 2024 Udo Siegfriedt
Julia Louise Knifefist (Foto: Udo Siegfriedt)

Da hat man gerade den Dreh raus, sich – na, ja, wenigstens einigermaßen – rhythmisch zu den verzerrten Hardcore-Gabber-Beats zu bewegen, da ist das Set nach einer Stunde schon wieder vorbei. Auf dem anderen Floor ist die Mischung aus heftigem Gabber und Reggaeton doch ein bisschen zu sprunghaft, um sich darauf einzulassen. Also wieder zurück zur Tanzfläche Nr. 1, wo nun Hyperdub-Künstlerin aya ihr Set spielt.

Zeigte Humor: aya (Foto: Udo Siegfriedt)

aya spricht unverständliche Worte ins Mikrofon, dazu erklingen zerfaserte Beat-De(kon)struktionen, vorantreibende Club-Hits und kurze, abrupt endende Breaks. Ein unvermutet zugängliches und humorvolles Set, auch für Personen, die normalerweise nicht zu Gabber und Hardcore tanzen gehen.

silent green: Bewegende Setar-Klänge

HJirok (Foto: Udo Siegfriedt)

HJiroks pulsierender Trommelsound durchdringt plötzlich die Betonhalle des silent green und erfasst die Menge innerhalb weniger Sekunden, die sich kollektiv rhythmisch zu bewegen beginnt. Mit ihrem Alias HJirok verarbeiten die Künstler:innen Hani Mojtahedy und Andi Toma von Mouse on Mars politische Krisen im Iran. HJirok stellt dabei eine Art Wassergeist dar, der den drastischen Wassermangel verkörpert – für viele Menschen im Iran eine allgegenwärtige Bedrohung.

HJirok (Foto: Camille Blake)
HJirok (Foto: Camille Blake)

Hani Mojtahedy beherrscht ihre Stimme virtuos, mühelos wechselt sie zwischen einem kristallklaren Sopran und einem tiefen, verschnörkelten Vibrato. Sie singt ebenso auf Persisch wie auf Kurdisch und thematisiert damit ihre Herkunft aus dem Kurdengebiet zwischen Iran und Irak. Sichtlich ergriffen von den melodischen Setar-Klängen, den emotionalen Vocals und der zeitgenössischen Elektronik verfallen manche in ekstatische Bewegungen – egal, ob allein oder gemeinsam getanzt wird.

Radialsystem: Ein Abend, eine Performance

Mit einigen Minuten Verspätung wird das Publikum in die große Halle des Radialsystems geführt. Die Besucher:innen nehmen mit einer fast überraschenden Selbstverständlichkeit sofort auf dem Boden Platz und versammeln sich mit Blick auf ein orakelhaftes Totem.

Heith and DECLINO present „Inverted Vertigo” (Foto: Camille Blake)

Heith und das in Berlin ansässige Visual-Artist-Duo DECLINO präsentieren hier am Dienstagabend mit „Inverted Vertigo” eine audiovisuelle Show, die die rituellen Aspekte von Live-Musik erkundet und das Publikum sowohl als Zuschauende als auch als aktive Teilnehmende in die Show integriert. Das Totem, stellt sich schnell heraus, ist eine visuelle Installation von DECLINO in Form eines Monitor-Ringes.

Die Performance beginnt mit ruhigen Vocals, weichen Streichern und sanften Synth-Melodien. Zu Beginn in einem friedlichen Grünton gehalten, ändert sich im Verlauf die Stimmung der visuellen Installation: mal strahlt der leuchtende Ring durch zurückhaltende Farbtöne Ruhe aus, dann unvermutetes Chaos durch hämisch grinsende Gesichter, die auf den Ring projiziert werden.

Von sanft klimpernden Folk-Gitarren über minimalistische Texturen bis hin zu Drone-Passagen mit verzerrtem Saxophon-Solo und intensiv dröhnenden Bassfrequenzen bietet die multiinstrumentale Audio-Performance ein beeindruckendes Klangspektrum. Nach etwa zwei Dritteln der Show wird das Publikum auf äußerst aggressive Weise aus seinem tranceähnlichen Zustand gerissen und in eine infernalische Realität geschleudert. Ein ohrenbetäubendes Schlagzeuggewitter, das in undefinierbaren Hardcore-Lärm übergeht, löst ein derart starkes Unwohlsein aus, das beinahe in Panik umschlägt.

Foto: Frankie Casillo

Diese Wall of Sound verstärkt eine unaufhaltsame Stroboskop-Lichtshow, die dem Titel „Inverted Vertigo” mehr als gerecht wird und ein extremes Schwindelgefühl erzeugt. Es ist, als würde man die Kontrolle über seinen eigenen Körper und die Umgebung verlieren. Zugleich fasziniert das Ereignis derart, dass man alles Kommende bis ins kleinste Detail aufnehmen will.

Die Gedächtniskirche: Traurigkeit und Großstadtlärm 

Die Atmosphäre im Schiff der Gedächtniskirche ist kühl, vermutlich aufgrund des Lichts, das durch die bläulichen Mosaikfenster fällt. Alles wirkt ruhig und besonnen. Zunächst irritiert über die Anordnung der Sitzplätze, die in blockartigen Formationen in verschiedene Richtungen weisen, finden die meisten Besucher:innen dennoch schnell einen passenden Platz. Trotzdem stellt sich die Frage, ob das Konzert je nach Sitzplatz anders klingt.

Die ausverkaufte Gedächtniskirche beim Konzert von Kali Malone (Foto: Camille Blake)

Kali Malone gelingt es mit ihren minimalistisch-affektiven Orgelkompositionen, die tiefsten und ehrlichsten Nuancen von Traurigkeit, die in jedem Menschen existieren, zu offenbaren. Dabei handelt es sich nicht um eine bedrückende, sondern eine befreiende Traurigkeit – eine, die lehrt, Melancholie zuzulassen, und ermöglicht, Gefühle auf die reinste Art und Weise anzunehmen, eine, die unerlässlich ist, um überhaupt andere Gefühlszustände empfinden zu können. Dementsprechend hoch ist die Erwartung an ihr Konzert am Donnerstagabend, das bis auf den letzten Platz ausverkauft ist. Aufgrund der enormen Nachfrage wurde spontan sogar ein weiteres, außerordentliches Konzert angekündigt.

Sobald der erste Ton von „Spectacle of Ritual” erklingt, überrascht die recht zurückhaltende Lautstärke der Orgel. Bei den vierhändigen Stücken wird Kali Malone von Stephen O’Malley, dem Gitarristen und Komponisten hinter SUNN O))), begleitet. Die langgehaltenen Töne und das packende Wechselspiel aus Harmonie und Drone, aus Dur und Moll evozieren ein Gefühl von Verfremdung und Nähe sowie Hoffnung und Zuversicht. Es bleibt aber eine Herausforderung, sich dem Klang hinzugeben. Zahlreiche Hintergrundgeräusche machen einen Strich durch die Rechnung: das donnernde Rumpeln und Rattern der U-Bahn, die sich direkt unter der Kirche durch die Tunnel schlängelt, das ächzende Husten aus dem Publikum und jedes Knarren eines sich bewegenden Stuhls.

Kali Malone und Stephen O’Malley (Foto: Camille Blake)

Auch die Erwartung, die Intensität der Orgel im Körper zu spüren, erfüllt sich nicht. Doch die Stücke sind auch live von einer unglaublich emotionalen, dynamischen und affektiven Tiefe geprägt, und die Virtuosität der Musiker:innen ist schlichtweg unübertrefflich. Und wer weiß: vielleicht wäre es tatsächlich ein ganz anderes Klangerlebnis, würde man im Publikumsblock direkt vor der Orgel sitzen.

Radialsystem: Sound physisch erfahren

Das Publikum sitzt kreisförmig auf dem Boden, die Blicke gehen ins Zentrum des Saals. Der Beginn der Performance kündigt sich an: Schlagartig wird es dunkel, jede Lichtquelle erlischt. Wenig später gehen drei Scheinwerfer an und tauchen einen Podest-artigen Block auf der einen Seite des Raums in ein rötlich-schimmerndes Licht, auf dem Marco Donnarumma liegt, gekrümmt in Fötus-Pose. Wie ein Mensch so gelenkig sein kann, um auf diesem schmalen Podest so ausharren zu können, bleibt ein Rätsel. Ohnehin ist in diesem Moment sein Körper noch kaum zu erkennen. Erst als er das Podest verlässt und sich mit kantigen, ruckartigen Bewegungen in die Mitte des Raumes trägt, sieht man die Tattoos in Form eines Skeletts, die seinen ganzen Körper bedecken. Er trägt nur eine eng anliegende Unterhose in der Farbe seiner Haut. Sein Gesicht bedeckt eine einem Geschwulst ähnelnde Maske, die an einen Oktopus erinnert.

Marco Donnarumma (Foto: Stefanie Kulisch)
Marco Donnarumma (Foto: Stefanie Kulisch)

Donnarummas abgehackten Bewegungen folgt ein intensives, dumpfes Dröhnen, das sich mit ihnen abstimmt. Er erzeugt über Berührungen Klänge, indem er zunächst sich selbst und im Verlauf der Performance Personen aus dem Publikum anfasst. Mit der Bewegung seiner Gliedmaßen, mit der bloßen Macht seines Körpergefühls steuert er diesen zuvor erzeugten Ton.

Das funktioniert in etwa so: Hörprothesen, KI-Höralgorithmen und Verstärker wurden zweckentfremdet, um sogenannte Transducer zu schaffen, die am Torso von Donnarumma befestigt sind. Diese Transducer übertragen Geräusche aus Donnarummas Muskulatur, seinem Herzschlag und seinem Blutfluss. Sie leiten Vibrationen durch die Körper aller Anwesenden und schaffen dadurch einerseits eine Verbindung zwischen Mensch und Maschine und andererseits zwischen Donnarumma und den Menschen in der Halle.

Wie genau sich das anhört? Nach langgezogenen, repetitiven und zunächst noch sehr leisen Bassfrequenzen. Besonders spannend gestaltet sich seine Interaktion mit dem Publikum. Die Menschen sitzen im Kreis um ihn herum, recken sich ihm gebannt zu, himmeln ihn beinahe an. Die Berührungen erfolgen bedacht und einfühlsam, es scheint, als fühlten sich alle wohl damit, viele wirken wie paralysiert. Die Kabel, die Donnarumma hinter sich herzieht, erzeugen klappernde und schleifende Geräusche. So auch die verfremdeten Hörprothesen, sobald er sie an die Transducer an seiner Brust anlegt. Nachdem er das Publikum durchkämmt hat, erreicht er eine Bühne auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Dort angekommen ändert sich die Performance, sie wird lauter und aggressiver, vielleicht bedingt durch den Hörverlust. So auch die Bassfrequenz, die unmittelbar in die Körper eindringt, sodass das Gefühl entsteht, man könne all seine Organe spüren. Simultan keimt ein unkontrollierbares Angstempfinden auf: Was macht das mit meinem Körper? Als der Bass von einer Sekunde auf die andere stoppt, fühlt sich das an, als würde sich das Innere des eigenen Körpers zusammenziehen. Die Glieder kribbeln und vibrieren noch minutenlang. Zu erklären, wie sich das anhört, ist wahrscheinlich gar nicht möglich. Es gilt zu fragen, wie sich das anfühlt.

Marco Donnarumma im vollbesetzten Radialsystem (Foto: Stefanie Kulisch)

Wie es der Titel schon vorwegnahm, befasst sich die Performance mit der Umkehrung des Nicht-mehr-hören-Könnens in Sound-fühlen-Können. Denn taub zu werden, bedeutet keineswegs, nicht mehr wahrnehmen zu können. Die Performance eröffnet einen neuen Blickwinkel auf das Thema Gehörlosigkeit und verdeutlicht, dass Menschen, die noch hören können, andere Aspekte ihrer Umgebung oft nicht wahrnehmen, obwohl sie eigentlich dazu in der Lage wären. Sie lehrt, die Geräusche unseres eigenen Körpers, wie unseren Herzschlag, intensiver zu erkennen. Der Impuls dahinter liegt nicht darin, einen Verlust auszugleichen, sondern eine vielfältige Klanglandschaft zu verstärken, die bereits existiert.

Diese und die anderen Erfahrungen des CTM lassen mich bis heute, eine knappe Woche nach dem Festival, nicht los. In meinem Körper und meiner Psyche spüre ich die wahnsinnige Kraft, die audiovisuelle Klangkunst ausüben kann.

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