Die Biennale von Venedig ist neben der documenta die größte Kunstausstellung der Welt. Sie findet im geraden Jahr statt, im ungeraden Jahr wird sie von der Architekturbiennale ergänzt. Ein weiteres, ungleich kleineres Supplement ist die Biennale Musica unter der Leitung von Lucia Ronchetti, die über zwei Wochen in der zweiten Oktoberhälfte abgehalten wurde. Deren Programm konzentriert sich meist auf Moderne Klassik. In diesem Jahr ist es aber ungewöhnlich elektronisch ausgefallen – und daher Thema für die GROOVE.
Ein Höhepunkt in der Mitte des Programms ist die Premiere der Orchesterfassung von Brian Enos Album The Ship, das 2016 auf Warp erschienen ist. In den vergangenen Monaten hat er mit dem Baltic Sea Philharmonic eine Orchesterfassung erarbeitet, die im historischen Opernhaus La Fenice in der mittelalterlichen Altstadt Venedigs uraufgeführt wird.
Die symphonische Steifheit, die man mit klassischen Orchestern im Allgemeinen und mit Orchesterbearbeitungen elektronischer Musik im Besonderen verbindet, vermeiden die jungen Musiker:innen um Dirigent Kristjan Järvi schon alleine dadurch, dass sie nicht im Sitzen auftreten. Ihre Instrumente spielend betreten sie die Bühne und erinnern dabei eher an eine Band.
Die Besuchenden werden in den nächsten Raum eingelassen, eine große Halle mit Sitzkissen. Die Menschen verteilen sich wie Figuren auf einem Schachbrett.
Das Titelstück besteht aus einer atmenden Klangfigur, die sich über die Dauer der Komposition wiederholt. Anders als auf dem Album gleicht jetzt kein Loop dem anderen, die vielen Instrumente des Orchesters schaffen Raum für zahllose Variationen, die durch ihre Lebendigkeit fesseln. Das Atmen nimmt mal den Charakter von Tierstimmen an, klingt wie das Zirpen von Grillen oder wie Hufscharren. Dabei wird es nie aggressiv oder anstachelnd, bewahrt immer einen meditativen Ton. Die Souveränität dieses Auftritts liegt darin, dass Eno und das Orchester kein spirituelles Pathos aufrufen, sondern eher von einer neugierigen Gelassenheit getrieben werden.
Wer oder was den Puls gibt, bleibt eine Frage. Enos Bariton ist kein Taktgeber, sondern ein Erzähler aus dem Off, der dem Geschehen eine weitere Ebene hinzufügt. Der Master of Ceremony ist Baltic-Sea-Philharmonic-Dirigent Kristjan Järvi. Ebenso wie die Musiker:innen auf ihre Stühle verzichten müssen, verfügt er über kein Dirigentenpult, das Distanz schafft und Autorität verleiht. Er wirkt wie ein Dompteur, der die Bewegungen seiner Musiker:innen-Meute zu formen versucht. Diese erinnert dabei eher an eine Naturgewalt, an die Meeresbrandung etwa oder an eine Wolkenformation. Brian Enos Bariton schwebt als Erzählstimme aus dem Off darüber, entrückt und kraftvoll zugleich.
Nicht mehr und nicht weniger als Artefakte unserer digitalen Welt
Nonchalant stellt Eno in der Mitte des Konzerts die Musiker:innen vor und beginnt zu erzählen, dass er mit Symphonieorchestern immer Probleme hatte. Dann sei er auf das Baltic Sea Philharmonic gestoßen. Nach der ruhigen Eröffnung folgt schon der Höhepunkt des Konzerts. Wie aus dem Nichts baut ein Loop eine unwahrscheinliche Spannung auf, um in einer Carl-Orff-artigen Figur zu eskalieren. Es folgt ein von der Harfe begleitetes Rezitativ von Sängerin Melanie Pappenheim, um die Eno das Orchester gemeinsam mit seinen langjährigen Mitstreitern Leo Abrahams und Peter Chilvers ergänzt hat. Am Ende des Konzerts stehen die Besucher:innen auf, das Orchester kommt zurück auf die Bühne, um ein weiteres Stück zu spielen, „Ambient”, wie Järvi lächelnd kommentiert.
Am nächsten Tag bringt uns die Biennale an einen ganz anderen Ort. Das Arsenal, das 15 Gehminuten vom Markusplatz entfernt ist, einst Werft, Zeughaus und Flottenbasis der Republik Venedig. Im Tesa, einer Halle aus großen Steinblöcken mit einem Dach aus rohen Holzbohlen, versammelt Komponistin Brigitta Muntendorf die Besucher:innen um einen Lichtstrahl, der auf den Steinboden fällt. Aus dem Off ertönt die Stimme von Christina Lamb. Die britische Kriegsberichterstatterin spricht über Rolle von Vergewaltigungen in Kriegshandlungen.
Vergewaltigungen durch Soldaten seien nicht nur eine grauenhafte Begleiterscheinung von Kriegen, sondern eine mit Kalkül eingesetzte Waffe, um der gegnerischen Gesellschaft irreparable Schäden zuzufügen. Nach diesem Vortrag werden die Besuchenden in den nächsten Raum eingelassen, eine große Halle mit Sitzkissen. Die Menschen verteilen sich wie Figuren auf einem Schachbrett. Der Raum wird verdunkelt, weißes Licht blitzt auf, drastische digitale Klänge tönen aus 60 an den Seitenwänden verteilten Lautsprechern, die Stimmen der betroffenen Frauen aus Christina Lambs Vortrag erklingen digital verfremdet zwischen elektronischen Klängen, die hart, unmenschlich und digital wirken.
Das klingt in seiner Komplexität genialisch, in seinem Irrwitz trippy und in seiner Unberechenbarkeit humorvoll und lustig.
Fremdartig und ein wenig verstörend fühlt sich diese Inszenierung an, sie konfrontiert mit der Realität digitaler Reizproduktion in unverstellter Direktheit und Brutalität. Die Worte aus dem journalistischen Beitrag setzen einen dominanten Rahmen, doch wollen sie nicht mit den digitalen Reizen kommunizieren, die nicht mehr und nicht weniger sind als Artefakte unserer digitalen Welt. Nicht hässlich und pragmatisch wie eine Shop-Seite, nicht menschelnd und kitschig wie ein Netflix-Inhalt, sondern hart und unversöhnlich, aber auch schick, ästhetisch auf der Höhe der Zeit, produziert von einer Gruppe von Profis.
Entwickelt wurde dieses imposante Gesamtkunstwerk von Brigitta Muntendorfs Konzeptionspartner Moritz Lobeck, dramaturgisch betreut von Mehdi Moradpour, programmiert von Lukas Nowok. Das Lichtdesign stammt von Begoña Garcia Navas, die Stimmen der Betroffenen wurden von Lisa Aithnard, Arjopa Limburg und Nikka Mae-Lopez neu eingesprochen und mit der Voice-Clone-Software Respeecher verfremdet. Die vorzüglichen Lautsprecher stammen von d&b audiotechnik.
Irgendwie soll dieser so produzierte Schock des Digitalen die Verstörung der von Vergewaltigung betroffenen Frauen erlebbar machen oder zumindest eine Beziehung dazu herstellen und vielleicht auch eine Distanz zum Trauma sexueller Gewalt ermöglichen. So beeindruckend dieses digitale Muskelspiel ist, erklärt sich nicht, was es mit dem Bericht von Christina Lamb zu tun hat – und den Stimmen der Betroffenen. So stehen digitales Handwerk und überwältigender menschlicher Schmerz bloß nebeneinander.
Lebendiger geht es beim nächsten Abend im benachbarten Teatro Piccolo Arsenale zu, einer konventionellen Bühne mit Bestuhlung, die ebenfalls auf dem Arsenal-Gelände beheimatet ist. Das Ictus Ensemble führt die Komposition 1979 von Joanna Bailie auf. Hier bewegen wir uns wieder im Modus direkter Klangerfahrung, die von keinem Textstück gerahmt wird. Die Musiker:innen sitzen nebeneinander, hinter ihnen wird ein Film projiziert. Ein Ton erklingt, und wir hören, wie er verklingt. Dann folgt das An- und Abschwellen einer weiteren Klangfolge. Diese meditative Anordnung wirkt wie eine reduzierte, puristische Version von Enos Aufführung in La Fenice.
Hier geht es nicht darum, die Komposition durch die Vielstimmigkeit des Orchesters zu verkomplizieren, sondern um eine Reihe singulärer Momente, die in ihrer Einzigartigkeit erlebbar, aber nicht erinnerbar sind. Auf der Leinwand erscheinen verschwommene Videobilder, die vermuten lassen, dass mit dem Titel der Arbeit die Jahreszahl 1979 gemeint ist. Sie erinnern an Gerhard Richters verschwommenen Fotorealismus in dessen RAF-Zyklus. Aber eher als um Macht und Widerstand geht es hier darum, dem Rauschen des analogen Mediums nachzuspüren, ab und zu sind die Silhouetten von Häusern erkennbar. Wo Muntendorf die Unmenschlichkeit des Digitalen interessiert, wirken die analogen Bilder versöhnlich, wie der sanfte Nachhall fast vergessener Erinnerungen.
Danach ist Fausto Romitelli an der Reihe, einer der Stars der Neuen Musik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seine Komposition – wen überrascht es – schlägt einen ganz anderen Ton an als 1979. Das Ictus Ensemble hat sein Opus Magnum Professor Bad Trip bereits vor mehr als 20 Jahren aufgenommen. Es heißt, in dieser Arbeit habe Romitelli die Dynamik der Rockmusik mit den Instrumenten der klassischen Musik zu reproduzieren versucht.
Nachhall biologischen Lebens und das Knirschen von Parkett
Genialerweise reproduziert Romitelli nicht die Formen des Rock, sondern den psychedelischen Impuls, Raum und Zeit mithilfe von Klängen aus den Angeln zu heben. Immer wieder setzt das Ensemble zu irrwitzig komplexen Klanggebilden an, die blitzschnell auf unerwartete Weise eskalieren, sofort implodieren und sich sofort zu einer neuen Eskalation aufraffen. Das klingt in seiner Komplexität genialisch, in seinem Irrwitz trippy und in seiner Unberechenbarkeit humorvoll und lustig. Dass dem Ictus Ensemble diese Aufführung noch mehr Vergnügen zu bereiten scheint als die Aufnahme der Komposition vor 20 Jahren, unterstreicht den unerschöpflichen Reichtum, der in ihr steckt.
Zu Marcus Schmicklers Arbeit Glockenbuch IV (Spectre Santa Maria dei Carmini) finden wir uns wieder im Tesa im Arsenal ein, es geht wie bei Muntendorf sehr digital zu. Die Komposition zieht aber ihre Dynamik aus einem analogen Klangerzeuger: aus den Glocken der Santa Maria dei Carmini, einer venezianischen Kirche. Die Glockenklänge sind aber nur im ersten Moment zu erkennen, ein Algorithmus lässt sie nach und nach abstrakter klingen, Takt für Takt verhaken sich die Schläge unerbittlicher ineinander. Diese Dynamik wird von den weißen Scheinwerferkegeln unterstrichen, die wie Glocken durch den Raum schwenken, deren Bewegungen sich immer komplexer ineinanderschrauben. Als Schmickler seinen Laptop nach einer knappen Stunde zuklappt, ist ihm etwas gelungen, was keine:r der Kolleg:innen hier bisher vermochte, was vielleicht aber auch nicht so ausschlaggebend ist: eine Komposition mit Anfang und Ende zu abzuliefern.
Am vorletzten Abend kehren die Biennale-Musica-Besucher:innen in die Altstadt zurück, in den Ca’ Giustinian, einen Palast am Canale Grande. Mit Music for Surrogate Performer verneigen sich Guy Ben-Ary, Nathan Thompson, Darren Moore und Andrew Fitch vor Alvin Luciers, indem sie seine Arbeit Music for Solo Performer von 1965 aufgreifen. In dieser Arbeit nutzte der jüngst verstorbene US-amerikanische Vordenker der Musik-Avantgarde des 20. Jahrhunderts seine Gehirnwellen, um Perkussionsinstrumente zum Klingen zu bringen. Noch zu Lebzeiten stellte Lucier Ben-Ary, Thompson, Moore und Fitch eine Probe seines Bluts zur Verfügung, damit diese am Faden einer aus seinem Nervensystem betriebenen Musik weiterarbeiten konnten.
Luciers Jünger betreiben mithilfe des Blutes ihres Meisters ein neuronales Netzwerk, um im Sale della Colonna verteilte Trommeln zu steuern. Unerwartet schlägt eine an, dann eine andere. Kein Ruf aus dem Jenseits, sondern ein Nachhall biologischen Lebens. Ben-Ary, Thompson, Moore und Fitch wirken ergriffen von der Präsenz ihres Meisters, die mal hier, mal dort als Trommelwirbel erlebbar wird. Durchgängig zu hören ist das Knirschen des Parkettbodens, über den die Besucher:innen der Veranstaltung durch den Raum wandern.
Brian Eno hat das Festival eröffnet, das Finale liefern Autechre. Mehr Gegenpol zum meditativen, nonchalanten Beginn des Festivals ist kaum möglich. Das fängt schon bei der Präsentation an. Wo bei Eno die Musiker:innen über die Bühne spazieren, sind vor Autechres Pult vier Monitorboxen aufgebaut, die es verdecken. Auch die Fotograf:innen der Biennale dürfen keine Fotos machen. Für einen kurzen Moment sind Rob Brown und Sean Booth zu sehen, dann wird der Raum für die komplette Dauer des Konzerts verdunkelt. Wenig später ertönt eine schnelle Bassdrum, die einem aktuellen Clubtrack entstammen könnte, nach etwa 30 Sekunden löst sie sich in einem Breakbeat auf, der mit jedem Takt weiter mutiert.
Dieser Ansatz strukturiert das gesamte Set, das stärker auf die Clubmusik bezogen ist als andere Live-Sets des Duos aus den vergangenen Jahren. Jeder Track lehnt sich mehr oder weniger an einen Club-Standard an, geht von einem 1994er Jungle-Track aus oder einer Dub-Techno-Nummer. Die nüchterne, spröde, „klonkige” Klangästhetik von Autechre ist noch die aus den Neunzigern, gleichzeitig wiederholt sich in den Musik aber nichts. Brown und Booth verlangen der Crowd absolute Konzentration ab. Wer für einen Takt nicht zuhört, hat schon etwas verpasst. Aus einem einzigen Track würden andere Künstler:innen ganze Diskografien entwickeln. Nach einer Stunde totaler Aufmerksamkeit entlassen Brown und Booth uns in die venezianische Nacht. Vor dem Tesa spiegeln sich einige wenige, einsame Lichter in der schwarzen Wasserfläche des Arsenals.