Jayda G machte sich mit ihrem spontanen Auflegestil und ihrer zur Schau gestellten Musikbegeisterung ab 2016 schneller einen Namen als die meisten anderen Newcomer:innen im House-Bereich. In Europa wurde sie nach ihrem Umzug nach Berlin bekannt. Dort veranstaltete sie Partys mit DJ Fett Burger und gründete mit ihm das Label Freakout Cult, auf dem sie ihre ersten Platten veröffentlichte. Überregionale Aufmerksamkeit erlangte sie mit einem Boiler-Room-Set im Jahr 2017. Zu einer festen Größe in der Club- und Festivalszene wurde sie mit ihrem Debütalbum auf Ninja Tune, Significant Changes. Für ihren Hit „Both Of Us”, Platz 1 in den GROOVE-Leser:innencharts von 2020, erhielt Jayda G 2021 eine Grammy-Nominierung in der Kategorie Best Dance Recording.
2022 war ein ereignisreiches Jahr für Jayda Guy, wie die Künstlerin mit bürgerlichem Namen heißt. Neben der Arbeit an ihrem zweiten Album war sie Teil des Dokumentarfilms Blue Carbon. Darin erzählt die studierte Meeresbiologin, warum es wichtig ist, auf Natur und Wissenschaft zu hören, um die Klimakatastrophe abzuwenden. Zudem heiratete die 34-jährige Kanadierin ihre Highschool-Liebe. Auf der Hochzeit spielte sie selbstverständlich ein DJ-Set – im Hochzeitskleid.
Auf ihrem neuem Album Guy offenbart Jayda G ihr Talent als Songwriterin. Auf 13 Tracks verarbeitet Guy Geschichten, die ihr Vater vor seinem Tod auf Videoaufnahmen hinterlassen hat. Guy basiert zwar auf ihren House-, Disco-, R’n’B- und Soul-Wurzeln, klingt aber auch anders, poppiger und EDM-affiner, als ihre bisherigen Aufnahmen. Johannes Hartmann traf sich mit Guy im Berliner Ninja-Tune-Büro für ein Interview, in dem sie von ihrer Kindheit erzählte und verriet warum sie wegen ihres Vaters immer nach Besserem strebt.
GROOVE: In „Circle Back Around”, der ersten Single des Albums, geht es um eine Geschichte deines Vaters, in der er erzählt, wie er als kleines Kind bei einem Diebstahl von der Polizei erwischt worden sei. Letztlich sei er an dieser Erfahrung gewachsen und ein besserer Menschen geworden, schreibst du auf Facebook. Welche schwierigen Momente in deinem Leben haben dich stärker gemacht und dazu gebracht, dich besser kennenzulernen?
Jayda G: Mein Vater ist als Schwarzer in den Fünfzigern in Kansas City in den USA aufgewachsen. Die Zeit war geprägt von Armut, sein Leben schwer und ganz anders als die Kindheit, die ich erleben durfte. Ich bin in einer Familie groß geworden, die sehr verbunden war – an einem Ort, an dem wir Teil einer starken Community waren. Das ist, was ich und mein Vater gemein haben: den Sinn für Gemeinschaft. Leider ist er früh gestorben, meine Mutter musste mich alleine großziehen. Die Herausforderungen, die dadurch entstehen, versteht man erst, wenn man älter wird. Als Kind bekommst du das zwar irgendwie mit, aber siehst nur die Unterschiede – wie zum Beispiel andere Kinder mit ihren Eltern interagieren.
Guy denkt länger nach, es herrscht kurz Stille.
Du bringst mich zum Nachdenken, merke ich gerade. Viele Dinge verdrängt man ja aus dem eigenen Kopf.
Das hört sich nach traumatischen Erfahrungen an.
In meiner Kindheit gab es Momente, in denen ich mich nicht gesehen habe. Grand Forks [im kanadischen Bundesstaat British Columbia, Anm. d.Red.] die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, war ein 4000-Seelendorf. Ich war neben einem anderen Kind die einzige POC in meinem Jahrgang. Auch später, während meines Bachelorstudiums, war es schwierig. An der Universität studierten überwiegend Weiße. Rückblickend merke ich, dass ich mich viel mehr damit beschäftigt habe, als mir damals klar war. Bis zu dem Punkt, an dem ich entschieden habe, nach London zu ziehen. Das war 2019. Ich wollte einfach an einem Ort leben, an dem ich mit Leuten zu tun habe, die so aussehen wie ich. Damit ich mich nicht so allein fühle.
Verständlich.
Dieses Alleinsein hat dazu beigetragen, wie ich in meinem Leben Entscheidungen treffe. Ich habe das lange nicht verstanden. Ich wollte einfach unter Leuten sein, die aussehen und ähnliche Ansichten haben wie ich.
Du bist 2019 nach London gezogen. Warum so spät?
Ich nehme mir Zeit. Und ich glaube, jeder tut das. Ob man darüber nachdenkt oder nicht. Wenn ich zum Beispiel vor einem Problem stehe, habe ich die Kontrolle darüber, wie ich damit umgehe. Deshalb versuche ich, Dinge für mich selbst zu ändern. Egal, ob ich wütend oder traurig bin, ich kann entscheiden, was mich beeinflusst. Es ist okay, sich so zu fühlen. Aber man kann entscheiden, wie sich diese Gefühle äußern und wie man sie nach außen trägt.
Ein nie endender Prozess des eigenen Kennenlernens.
Das ist das Schöne am Leben. Ich war schon immer eine Person, die nach Besserem strebt. Das heißt nicht, dass ich unzufrieden mit der jetzigen Situation bin. Aber warum nicht weiter versuchen, es besser zu machen? Es gibt so viel Raum, zu wachsen, und so viele Möglichkeiten im Leben.
Es war sicher eine intensive Zeit, dieses Album zu produzieren und dich mit deiner Vergangenheit zu beschäftigen. Kannst du diesen Prozess beschreiben?
Ich wusste schon vor der Pandemie, dass ich dieses Album machen will. Ich hatte die Videoaufnahmen meines Vaters und wollte sehen, was ich damit musikalisch machen kann, wusste aber nicht, wie. Im April 2020, zu Beginn der Pandemie, dachte ich: „Okay, jetzt habe ich die Chance, das herauszufinden.” Mein wissenschaftlicher Hintergrund hat mir beim Recherchieren geholfen. Auch meine Geschwister haben sich Gedanken darüber gemacht, wie man diese Aufnahmen nutzen kann. Plötzlich hatten wir alle ähnliche Ideen dazu. Mein Bruder hat die Videos digitalisiert und transkribiert, um sie für eine Doku zu verwenden. Meine Schwester hat die Transkripte kategorisiert – das war natürlich hilfreich für meine Arbeit.
Das klingt wirklich nach einem wissenschaftlichen Arbeitsprozess wie an der Uni.
Genau so war es. (lacht) Als ich die Transkripte gelesen habe, die ersten zu elf Stunden Videoaufnahmen, habe ich Stellen markiert, die herausgestochen sind, und Notizen dazu gemacht. Ich wollte Songtexte dazu schreiben, es gab aber nie Strophe, Prechorus und Refrain. Ich wollte etwas Neues ausprobieren. Außerdem hatte ich die Chance, mit vielen wunderbaren Songwriter:innen zusammenzuarbeiten, die genau verstanden, was ich vorhatte. Ich erzählte ihnen meine Geschichten und sie erzählten mir ihre. Am Ende war es ein wunderschöner Prozess, bei dem wir uns alle auf diese „Storytime” gefreut haben, um aus den Erzählungen einen gemeinsamen Song zu basteln. Alle Menschen, die Teil dieses Albums waren, sind Leute, bei denen ich mich sicher fühle und die bereit waren, mit mir diese Reise zu machen.
Das heißt: Du hast Musik nicht nur mit anderen Menschen produziert, sondern auch die Texte mit ihnen geschrieben?
Das war etwas, was ich nicht wirklich verstehen konnte, bis ich es getan habe. Einige meiner Songwriter-Freund:innen erzählten mir, dass es seltsam sein könnte, Texte zu schreiben, in denen man fremden Leuten sein Herz ausschüttet. Das ist tatsächlich seltsam, wie eine Therapiesitzung. (lacht)
Was war das Beste und Schlimmste, das dir in diesem Schreibprozess passiert ist?
Ich bin schon länger in Therapie, brauchte aber jemanden, der mir zuhört, nachdem ich angefangen hatte, die Transkripte zu lesen. Es gab viele Dinge im Leben meines Vaters, die mich wirklich traurig gemacht haben. Sich in ihn hineinzuversetzen und zu verstehen, was er alles durchmachen musste, beeindruckte mich. Trotz aller negativen Erfahrungen hat er sich dazu entschieden, aus seinen Erfahrungen zu lernen, um Liebe und eine positive Energie zu finden. Mein Vater war nicht immer optimistisch, aber er hat immer versucht, das Beste in den Menschen zu sehen. Das bewundere ich an ihm. Sorry, was war nochmal die Frage?
Tatsächlich führt mich das schon zur nächsten Frage. Du hast erzählt, dass du aufgrund des Todes deines Vaters von deiner Mutter großgezogen wurdest. Der letzte Song des Albums, „15 Foot”, basiert auf etwas, was deine Mutter geschrieben hat. Hat das Trauern um deinen Vater deine Beziehung zu deiner Mutter verändert? Oder den Umgang mit Trauer an sich?
Ich habe gelernt, dass Trauer niemals endet. Es ist ein seltsamer psychologischer Prozess, der sich mal schwächer, mal stärker auswirkt, aber immer da ist. Irgendjemand hat mal gesagt: „Trauer ist Liebe, die nirgendwo hin kann.” So ist es. Schließlich hört man nicht auf, eine Person zu lieben, bloß weil sie nicht mehr da ist. Ich werde meinen Vater immer lieben. Diese Liebe trage ich in mir, auch weil er all diese Erinnerungen hinterlassen hat, die meine Geschwister und ich nun in uns tragen.
Jayda beginnt zu lachen.
Verzeihung, dass ich lache, aber meine Mutter sagt immer: „Ach, dein Vater ist der lebendigste tote Mann aller Zeiten.” Nicht umsonst erkennen mich die Menschen in meiner Heimat noch immer als die Tochter meines Vaters. Das ist wirklich cool. Trauer muss nicht dieses grässliche, schwere Ding sein. Es ist okay, traurig zu sein, aber die Musik zu haben und die Energie und die Gefühle zu verarbeiten, ist wunderbar und macht mich glücklich.
Der Song „When She Dances” handelt nicht von deinem Vater, sondern von deiner Großmutter. Wie hat sie dich beeinflusst und inspiriert?
Es gibt eine Stelle in den Aufnahmen, in der mein Vater von seiner Mutter erzählt. Sie war ebenfalls eine alleinerziehende Mutter. Das war selten. Mein Vater war ihr einziges Kind. Also waren sie nur zu zweit. Ich hatte zwar vier Geschwister, aber sie waren alle älter und selten zu Hause – es gibt also Parallelen zu mir und meiner Mutter. Mein Vater hatte viel Respekt für seine Mutter. Sie hatte mehrere Jobs und versuchte, Essen auf den Tisch zu bringen, wie man so schön sagt. Sie hat aber auch das Leben genossen. Mein Vater sagte, sie habe es geliebt, zu tanzen. Als ich das gelesen habe, dachte ich: „Oh mein Gott, das bin ich!” Ich liebe es, zu tanzen. Jeder weiß das! Ich finde diese Geschichte aber so cool, weil es sicherlich vielen Leuten so geht, die sich ihre Eltern und deren Leben anschauen. Wir sind alle ein Produkt von etwas, das bereits passiert ist. Ich bin kein Original! (lacht) Dieser Song ist deshalb eine Ode an meine Großmutter. Und auch eine Ode an ihre Kraft und die aller Frauen. Sie hat gezeigt, wie man trotz Widrigkeiten das Leben genießen kann. Das erzählt dieser Song: die Work-Hard-Attitude, um das Leben zu genießen.
Die verarbeitest persönlichen Geschichten in housigen Dancetracks. Du tanzt dabei nicht nur, sondern singst auch – wie auf dem ganzen Album. Planst du, zukünftig auch live zu singen?
Ich denke darüber nach, aber es dauert noch. 2022 war eine wilde Reise. Ich habe das Album gemacht und bei einem Dokumentarfilm mitgewirkt. Ich will 2023 einfach all das veröffentlichen, was ich 2022 geschaffen habe. Ansonsten ist das Jahr mit DJ-Sets und der Promotion des Albums und des Films schon gut gefüllt.
Im Film, von dem du sprichst, stehen die Gefahren der Klimakatastrophe dem Hedonismus der Clubmusik gegenüber. Wie passt das zusammen?
Wenn Dinge nicht gut sind, erlaubt dir das, in vielerlei Hinsicht kreativ zu werden. Das ist die Essenz von House-Musik. Sie ist in schwarzen und queeren Communitys entstanden – aus der Idee heraus, einen Raum zu schaffen, in dem schwarze und schwule Menschen sicher sind. Die haben auch nicht gedacht: „Wow, das Leben ist scheiße, ich werde keine Musik machen.” Der Schmerz steigert den Drang, kreativ zu sein.