Gilb’R – On Danse Comme Des Fous (Versatile)
Versatile Records veröffentlichen seit 1995 Musik und haben Künstlern wie I:Cube, Argy, Joakim oder The Maghreban eine Plattform geboten. Und natürlich hat auch Labelboss Gilbert Cohen alias Gilb’R seit den 90ern Etliches zum Katalog beigetragen. Das wissen echte Auskenner*innen natürlich, aber auf die Frage, wann Cohens zweites Album erschienen ist und wie es heißt, geraten sie ins Stocken – weil es dieses zweite noch gar nicht gibt, denn On Danse Comme Des Fous ist sein Longplayer-Debüt – kaum zu glauben!
Cohen taucht darauf auf phänomenale Weise in alle möglichen Stile der elektronischen Musik ein und kommt mit seiner ganz persönlichen Aneignung davon an die Oberfläche zurück.
Cohen taucht darauf auf phänomenale Weise in alle möglichen Stile der elektronischen Musik ein und kommt mit seiner ganz persönlichen Aneignung davon an die Oberfläche zurück. Dabei entsteht aber kein wahlloses Durcheinander-Rühren von 40 Jahren elektronischer Clubmusik, sondern eine speziell-unaufgeregte, aber umso eindringlichere individuelle Aneignung. Ähnliches hatte Gilb’R auf seinen EPs Chàm und Lord Of The Basics“bereits vorweggenommen, aber auf On Danse Comme Des Fous kommt diese Formel konsequent verdichtet daher. Letztlich ist es eine Art von Dekonstruktion, die Cohen betreibt, ein Auseinanderpflücken, Selektieren und Neu-Zusammensetzen der Konsens-Parameter bestimmter Genres – absolut kein neues Verfahren natürlich, Johanna Knutsson, Lindstrøm oder Brigitte Barbu sind auf ähnlichen Forschungspfaden unterwegs –, aber von ihm mit einer speziellen Note versehen, die das Dekonstruieren und Abstrahieren nicht fragmentarisch, kühl oder fragil klingen lässt, sondern, nein, auch nicht in erster Linie organisch und rund, sondern zuvorderst vollkommen selbstverständlich und souverän.
Der Opener „Plantlife” etwa erinnert mit seinem verspielten Solosynthesizer an die frühen Elektronikpioniertaten Mort Garsons, ist dabei aber keineswegs retro oder augenzwinkernd. Im dritten Stück „Triangle Days” mischen sich obskure, Filmscore-artige Voodoo-Messen-Sounds und ein magischer Can-Beat gegen Ende mit einer Acid-Sequenz und schlagen so nonchalant den Bogen zu Gilb’Rs Techno-House-Background. „Reaching” groovt dann auf Jungle-Tempo und deutet hier und da auch den typischen Beat an, erfüllt aber genauso wenig wie die anderen Stücke Genre-Muster. Das folgende „Super Spreader”, zusammen mit I:Cube produziert, nimmt zwar im Titel eindeutig Bezug auf die Covid-19-Pandemie, setzt diesen aber musikalisch keineswegs düster oder – Achtung, Modewort – dystopisch um, sondern gießt seine und unsere Erfahrungen mit dem Super-Spreader-Phänomen und den oft diskreditierenden Konnotationen damit in einen positiven, überwiegend in Dur gehaltenen Ambient-Track, der strahlt und besänftigt, aber gleichzeitig auch die hetzerischen und hysterischen Kräfte auf den verschiedensten Gesellschaftsebenen sanft, aber souverän auflaufen lässt.
„Я не хочу знать” könnte wiederum als Lost-Track aus den Eno-Byrne-Sessions zu deren Album My Life In The Bush Of Ghosts durchgehen, aber auch dieses Stück transportiert etwas über diese Erst-Assoziation Hinausgehendes, Persönliches. Den David-Byrne-Part übernimmt hier übrigens der französische Musiker und Versatile-Homie Cosmic Neman alias Zombie Zombie. Die folgenden Stücke auf der B-Seite des Albums knüpfen dann energetisch – oder auch, in ihrer Verweigerungshaltung, dem Albumtitel gerecht zu werden – ans ambiente „Super Spreader” an. „Mr. Knockbottom” konterkariert die wieder sehr tröstlichen Sounds und Harmonien aber mit einem ständig morphenden IDM-artigen Breakbeat und Scary-Vocals, und auch die beiden finalen Tracks tragen diese Ambivalenz in sich, eine vordergründige Harmlosigkeit, durch die aber ein heimtückisches Grauen immer wieder kurz nach vorne drängt und den (Wohlstands-) Alltag verunsichert. Mathias Schaffhäuser