Auch in Zeiten des Coronavirus erscheinen Alben am laufenden Band. Da die Übersicht behalten zu wollen und die passenden Langspieler für die Isolation zu küren, wird zum Fulltime-Job. Ein Glück, dass unser Fulltime-Job die Musik ist. Zum Ende jedes Monats stellt die Groove-Redaktion Alben der vergangenen vier Wochen vor, die unserer Meinung nach relevant waren. Im ersten Teil des Mai-Rückblicks mit Atom™, Booka Shade, Cinthie und vier weiteren Künstler*innen – wie immer in alphabetischer Reihenfolge.
420 – 420 (Self-released)
Könnte bitte mal jemand „Untitled 12” hören und mir sagen, ob der Power-Break darin wirklich von Modern Talking ist? Danke. Fällt schön raus in der so uneitlen, lässigen und gerade daher sowohl superfunktionalen als auch weit über das Funktionale hinausgehenden Beat-Musik von 420. Der vor allem als Galcher Lustwerk bekannte Produzent aus New York macht mit 420 Schein-Konzeptkunst. Album ist gleich Künstlername, alle Titel sind schlicht durchnummeriert und 4:20 Minuten lang. Doch die Tracks taugen zur Party und sind das wohl Lichtdurchflutetste, was Lustwerk bislang veröffentlicht hat. Die nackten Anfänge und wie gekrakelt wirkenden Beats erinnern an große Idiosynkraten wie Omar-S oder Moodymann, die mit vollem Enthusiasmus betriebene Schluffigkeit in der Bearbeitung dann wieder an die Attitüde der Kiffer-Aristokratie. Hauptsache, es funzt; Hauptsache es funkt; auf diese deepen Downbeat-House-Tracks lässt es sich eher singen als rappen. Werden nicht schon wieder die ersten Parties gefeiert? Christoph Braun
A-Delta – Port de l’Arsenal (Hôtel Costes)
Das Pariser Luxushotel Hôtel Costes des französischen Performance-Künstlers und Regisseurs Jean-Louis Costes ist seit den1990er Jahren ein musikaffiner Ort. An der ersten Hôtel-Costes-Compilation des DJs und Musikproduzenten Stéphane Pompougnac kam man Ende der 1990er Jahre schwer vorbei. Zumindest wenn man Kontakte zur Moderedakteur*innen-Welt pflegte. In deren flotten kleinen Karren (Ente/Mini) lag immer irgendwo diese soft angejazzte Downtempo-CD zwischen allerlei Mode-Krimskrams herum. Das Compilation-Projekt, das mit insgesamt 15 DJ-Mixes bis ins Jahr 2011 auf dem französischen House-Label Pschent überlebte, hatte einen leicht mainstreamig-pseudo-elitären Beigeschmack. Als wäre es der Pariser Versuch gewesen, die Downtempo-Experimente à la Kruder & Dorfmeister für die internationale Fashion-It-Crowd auszubeuten. Im Jahr 1997, fast zeitgleich zur ersten Compilation, startete der Fernsehsender Fashion TV. Der verwurstete dann den Costes-Lounge-Sound als Blueprint-Vorlage mit Laufsteg-Gestakse in den fancy Vorläufern der heutigen Boutique Hotels. Seit letztem Jahr gibt es im Hôtel Costes als Hommage an das glorreiche Lounge-Zeitalter ein Tonstudio und Label. Monatlich sind bisher neun Ambient/Modern-Classic-Veröffentlichungen erschienen. Vier der neun Platten wurden von Masomenos, dem Künstlerpaar Adrien de Maublanc und Joan Costes produziert. Der neue Act A-Delta steuert diese jahrzehntelang geübte work-life-balance-marketing-attitude entspannt ins Jahr 2020. Auf jedem Track liegt eine Gitarre mit endlosem Feel-Good-Reverb. Einmal klingt das nach MPB (Musik Popular Brazil) im Bossa-Stil („L’Autre Soir”). Und Port De L’Arsenal interpretiert die 1970er Jahre Library Music des Labels De Wolfe Music. Während aber De Wolfe Filmszenen mit Verfolgungsjagden funkig untermalte, reicht es bei A-Delta nur bis zur spannenden Fahrstuhlszene. Das passt auch génial zur Spotify-Concentration/Work-Playlist, ist aber trotzdem ganz schick. Mirko Hecktor
Atom™ – <3 (Raster)
Der einzige Unterschied zwischen eins und keins ist k. So fasst Uwe Schmidt alias Atom™ sein jüngstes Album <3 zusammen. Wobei Schmidt auf nicht menschliche Hilfe zurückgegriffen hat, wenn man so möchte: X1N heißt sein Partner, mit dem er diesmal „interagiert“, ein Gebilde, das menschliche Stimmen und Inhalte natürlicher Sprachen erzeugt. Inwieweit Schmidt bei den Inhalten selbst nachgeholfen hat, bleibt vermutlich Sache der beiden. Mit <3 (sprich „kleiner als drei“) präsentiert Atom™ zugleich ein neues Genre, Hard Code Pop – gut 20 Jahre nach seinem Hard Disk Rock. Die eigenen Instrumente und ihre musikalischen Produktionsbedingungen spielerisch zu reflektieren, gehört bei Schmidt seit Alters her zum Selbstverständnis. Hier ist die Musik bemerkenswert schnörkellos rau, wie in gedeckten Farben gehalten, mitunter erstaunlich metallisch. Eine Botschaft für die Gegenwart, aus der Vergangenheit recycelt, hat er auch dabei: „The revolution will not be online”. Am lustigsten sind allerdings die Momente, in denen der vollsynthetische Pop dieser Tage mitsamt Computerstimmen ironisch modifiziert wird, etwa in „Time 2 Kill”. Das hat seine ganz eigene catchiness. Melancholische Melodien wie in „Almost a Unit” dürfen auch sein. Die Stimme ist in diesem Fall „talking alphanumerals”. Ein sprödes Pop-Album von Herrn Schmidt mit expliziten mathematischen Spielereien – und gerade darin ziemlich toll. Tim Caspar Boehme
Booka Shade – Dear Future Self (Blaufield Music)
Als Booka Shade Mitte der Nullerjahre mit den Alben Memento und Movements die zweite Stufe ihrer Karriere zündeten – der Launch einer Laufbahn als Progressive-House-Act mit zwei EPs auf dem niederländischen Touché-Label lag da bereits eine Dekade zurück –, traf ihre Definition einer melodiösen Interpretation von Minimal Techno, manifestiert in Hits wie dem gemeinsam mit M.A.N.D.Y. produzierten „Body Language”, punktgenau den Nerv des Dancefloors. Seitdem genießt das Duo von Walter Merziger und Arno Kammermeier wie auch das von ihnen mitbegründete Imprint Get Physical internationale Aufmerksamkeit. Seit 2013 veröffentlichen Booka Shade nahezu ausschließlich auf ihrem eigenen Label Blaufield Music, dort erscheint mit Dear Future Self nun auch ihr mittlerweile neunter Studio-Longplayer. Im Vergleich mit dem etwas disparaten Eindruck, den der Vorgänger Cut The Strings hinterlassen hat, wirkt ihr aktuelles Album deutlich kohärenter; Merziger und Kammermeier legen Wert auf die Feststellung, dass sich darin die Performance ihrer Live-Auftritte spiegelt, die sie als viel gebuchten Tech-House-Act rund um den Globus führen, und meinen, es sei „definitiv das Clubmusik-lastigste” ihres Repertoires. Kaum verwunderlich, sind doch acht der 13 Tracks bereits in Form von Singles erschienen und hier, teils allerdings in neuen Mixen, nochmals enthalten. Aber auch jenseits dieser direkten Redundanzen bietet Dear Future Self im Wesentlichen viel Bewährtes und wenig Überraschendes – nur dass die bei Booka Shade immer schon latent vorhandene Trance-Affinität gegenwärtigen Erwartungen generell wieder besser entspricht als noch vor fünf Jahren. Am gelungensten in dieser Hinsicht der Ausklang „Atlantic Beam”. Und mit der Vocal-Nummer „Perfect In A Way” – der isländische Sänger Kaktus Einarsson ist hier einer der vier Gast-Vokalisten und gleich an zwei Stücken beteiligt – knüpfen Merziger und Kammermeier mit ein wenig „West End Girls”-Flair auch an ihre Zeit vor Booka Shade als Synthiepop-Band Planet Claire an. Harry Schmidt
Bushwacka! – Listen Up! Vol. 01 (1995-2005) (Above Board Projects)
Zur denkbar Comeback-ungünstigsten Zeit will Matthew Benjamin es wieder wissen. Der DJ, Produzent und Betreiber des Labels Plank gehörte seinerzeit zu den Frühzündern der britischen Rave-Geschichte und ist seit dem Anbruch des Second Summer of Love aktiv, insbesondere wurde er als eine Hälfte des Duos Layo & Bushwacka! bekannt. Unter dem Titel Listen Up Vol. 01 (1995-2005) versammelt der Londoner nun acht Tracks, die sich über seine Anfangszeiten als Produzent hin bis zur Mitte der Nullerjahre erstrecken und unter verschiedenen Pseudonymen beziehungsweise im Verbund mit anderen veröffentlicht wurden. Dementsprechend bunt ist die Mischung, reicht das stilistische Spektrum von schwelgerischen Breakbeats („Harps”) über hart zupackenden Acid („Untitled” unter dem Pseudonym Plus), entspanntem und detailliert ausstaffiertem Downbeat („Smashed”), Bassline-betontem House („Nightstalking” von The Usual Suspects, einem weiteren Projekt von Layo Paskin und Benjamin) hin zu lysergischem IDM („The Vision”). Obwohl nicht wenigen dieser Tracks ihre Entstehungszeit anzuhören ist, dürften vor allem Tracks wie „Harps” professionellen Rave-Nostalgikern wie Bicep doch glatt die Show stehlen: Hier meldet sich schließlich jemand zurück, der die Sache überhaupt erst (mit-)erfunden hat. Die Zeiten für ein Comeback mögen ungünstig sein, Matthew Benjamin hat aber zum Glück aber ein paar zeitlose Tracks ans Publikum zu bringen. Der zweite Teil von Listen Up soll in Kürze erscheinen. Kristoffer Cornils
Cinthie – Skylines Citylights (Aus Music)
Ach, beseelt klingt diese Musik. Cinthie ist schon lange aktiv als Produzentin, als DJ, als Plattenladen-Mitbetreiberin, von Berlin aus macht sie das. „Calling” ist altmodischer Orgel-House mit Vocal-Shouts, und doch ist die Aufnahmelautstärke ein bisschen zu weit aufgerissen, als dass der Track wirklich alt sein könnte. „Mornings in Melbourne” highlighted ein Endlos-Piano, „2k Garage” wibbelt und wobbelt. „Skylines” ist ein Stück Innehalten, während „Citylights” UK-House und Streicher-Girland miteinander versöhnt. Es ist etwas zutiefst Unberlinerisches, was dieses Album zusammenhält: es ist die Energie, ist das fast verbotene Wort, ist Optimismus. Verarbeitet zu einem so versatilen wie House liebenden Album. Christoph Braun
Dman & Roger23 – 222 (Noorden)
Das Kölner Label Noorden hat sich schon immer gerne für experimentelle Clubmusik eingesetzt. Das Projekt 222 entstand aus einer gemeinsamen Live-Performance der beiden Künstler Dman und Roger 23 fürs Meakusma-Festival 2018. Die Probe-Aufnahmen sind nun nach längerer Bearbeitung in ein Album geflossen, welches den kreativen Prozess der beiden erfahrenen Musiker nachvollziehen lässt. Das LP-Format wird hier gänzlich ausgereizt, verschiedenste Track-Konzepte vorgelegt, vom Locked Groove zum 10-Sekunden-Effektschleifen-Skit, zum verträumten zehnminütigen Ambient-Techno-Stück. Wie das alles zusammenpasst? Es fühlt sich wie eine spielerische Entdeckerreise durch elektronisches Musizieren an, gekleidet in grobkörnige, vielfach texturierte analoge Sounds. Manchmal schält sich aus fransigen Delays und wabernden Echos irgendwann ein Groove heraus, manchmal bleibt es aber auch beim offenen Experiment. Das funktioniert für den Zuhörer aber deshalb, weil sich hier Konzept und Improvisation die Waage halten, man also stets mit Aufmerksamkeit dabei bleiben muss, am Ende dafür aber mit einem spannenden akustischen Fund belohnt wird. Dass sich der Entdeckergeist der Künstler und ihre Begeisterung am Ausprobieren so gut nachfühlen lässt, ist die große Stärke des Albums und macht es zu einem fordernden wie freudvollen Hör-Erlebnis. Leonard Zipper