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Oliver Hafenbauer und sein Label Die Orakel: „Viele mögliche Zukünfte” 

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Der einstige Robert-Johnson-Booker Oliver Hafenbauer hat sich als DJ, EOS-Mitgründer und Labelbetreiber von Die Orakel ein einzigartiges Profil erarbeitet. In unserem Porträt versucht GROOVE-Autor Jens Balkenborg zu verstehen, wie das alles zusammengeht.

Einen Fußabdruck in der Geschichte hinterlassen wollen viele. Klar, es hat etwas Tröstliches, nicht in Vergessenheit zu geraten und der Welt, in welcher Form auch immer, erhalten zu bleiben. Da die Welt allerdings immer komplexer zu werden scheint, immer kleinteiliger auf allen Ebenen, auch im Bereich der Musikkultur und – kapitalistisch gesprochen – der Musikindustrie, wird die Sache mit dem Fußabdruck nicht einfacher. „Es ist jetzt schwieriger als noch vor zehn Jahren, Statements zu setzen, sich abzugrenzen”, erklärt Oliver Hafenbauer und begründet diese veränderten Vorzeichen, neben vielem anderen, mit der schieren Masse an Musik, die die Audio-Streaming- und Mediendienste unserer durchdigitalisierten Gegenwarten flutet.

Vor diesem Hintergrund ist es so konsequent wie treffend, sich mit einer guten Portion Ironie den eigenen Ansprüchen zu stellen. Nicht von ungefähr ziert das Cover von Braindance, ebenjener Meilenstein-Platte, mit der Hafenbauer mit seinem Label Die Orakel das zehnjährige Bestehen zelebriert, genau das: ein Fußabdruck im Matsch, quasi auf dem sich fluide und schnell verändernden Boden der Tatsachen. Das von Neven Allgeier geschossene Foto auf dem Cover eröffnet einen gedanklichen Raum, denn man hat gleich dieses schlürfende Geräusch im Ohr und matschige Erinnerungen im Fuß. Es sei eines der besten seines Labels, lächelt Hafenbauer. Und die Platte bestehe, zum ersten Mal in der Labelgeschichte, aus transparentem Vinyl.

Wir sitzen im vorderen Raum einer Bar im Frankfurter Bahnhofsviertel. Während die schon nächtlich beleuchteten Straßen von Menschen aller Couleur bevölkert sind, von Heimkehrer:innen, Trinkfreudigen, Heimatlosen und Tourist:innen, die den rauen Charme des Viertels erleben wollen, umhüllen uns eine wohlige Wärme, Gespräche der anderen Gäste und ein melodischer Sound. Für Hafenbauer scheint die Bar ein zweites Wohnzimmer zu sein, immer wieder begrüßen ihn Bekannte und Freunde und sagen kurz Hallo.

Braindance im Bahnhofsviertel

Warum die Jubiläumscompilation Braindance heißt? „Ich bin ein melodiöser Mensch und verorte mich musikalisch zwischen Intelligent Dance Music (IDM) und Electronica-Leftfield, oder wie man es auch nennen möchte”, so Hafenbauer. Der Titel der Four-Track-Vinyl-EP, die auch als 15-Track-Digi-Release erhältlich sein wird, fasse den Mix aus deeper Musik auf abstrakter Ebene gut zusammen. „In den Neunzigern hätte jemand IDM auch Braindance nennen können. Wäre auch ein netter Genre-Name, oder?” Eine Retrospektive sei Braindance allerdings nicht geworden, betont Hafenbauer. Und in der Tat: Ein Blick zurück würde anders klingen.

Die Compilation versammelt deepe Sounds aus allen submusikalischen Sphären und changiert zwischen breiten Ambientflächen, Breakbeats, harmonischen Licks und basslastigen, technoiden Steppern. Er habe bereits im letzten Jahr einige Stücke für das Release gesammelt, sich dann aber entschlossen, die Platte im Jubiläumsjahr herauszubringen, so der DJ und Labelbetreiber. Die Release-Party wird – Achtung, Kalender gezückt – am 15. März 2024 ab 22 Uhr im saasfee*pavillon im Frankfurter Anlagenring stattfinden. Auf zwei Floors geben sich Dana Kuehr, Diamin, Koga, n9oc und Hafenbauer die Ehre. Im unteren Raum ist Tanzen angesagt, oben wird Musik ausgewählte Projektionen aus der Orakel-Cast-Serie begleiten.

Letzteres ist Hafenbauers aktuelles Baby. Der Cast gibt bei YouTube Einblicke in die Online-Videogewohnheiten der Labelartists und -freund:innen. Der DJ lädt Künstler:innen dazu ein, eine sehr persönliche und interessengeleitete Playlist aus YouTube-Videos zusammenzustellen. Manche basteln Musikplaylists zusammen, andere Videos ohne Sound. ISAbella hat für Folge 62 die Eröffnungssequenz aus Bong Joon-hos Psychothriller Mother, ein Patti-Smith-Interview aus dem Jahr 1976 und einen klassischen Dean-Blunt-Song ausgewählt. „Das Format macht Spaß, auch weil es leichter ist als ein Vinyl-Release”, erklärt Hafenbauer.

Die Nacht und Oliver Hafenbauer unterhalten ein besonderes Verhältnis (Foto: E. Weller, L. Bauer, K. Schuetze)

Die Cast-Serie ist auch eine Reaktion auf die eingangs erwähnten neuen Vorzeichen. „Die Musikindustrie ist an einem kritischen Punkt”, sagt Hafenbauer. So gerne er Vinyl herausbringt und leidenschaftlich sammelt, was er selbst bei seinen Gigs in digitalisierter Form auflegt, so sehr umtreibt den Labelchef die Frage, wie zeitgemäß gepresste Releases überhaupt noch sind. Die Kosten seien horrend angesichts der Unsicherheit, ob die Platten in der Streaming-Gegenwart überhaupt verkauft werden. Und Vinyl sei auch alles andere als nachhaltig. Hafenbauer will das Haptische nicht generell abschreiben, sondern produktiv abwägen.

Dass sich viel verändert hat in den letzten Jahren, spiegelt sich auch in Frankfurt wider. Hafenbauer lebt gerne in der Mainmetropole, er hat hier Familie und ein breites Freundesnetzwerk. Für ihn als etablierten DJ sei die Stadt in der „Mitte von Europa” eine gute Ausgangslage – wobei er all die Vorzüge völlig ohne Lokalpatriotismus erörtert. „Ich finde auch Fußball total bescheuert.”

„Als junge:r Künstler:in musst du jetzt aus Frankfurt raus.”

Oliver Hafenbauer

Er ist zugleich Realist genug, um zu sehen, dass es die Musikkultur in der Stadt nicht einfach hat. „In Frankfurt gibt es kaum mehr etwas. Wenige Plattenläden, ein paar nette Angebote, sicher, aber keine gesunde Musikinfrastruktur.” Viele Clubs haben über die Jahre geschlossen, Labels und Plattenläden sind abgezogen oder gleich ganz dicht gemacht worden. Es fehle an Netzwerken, an der Infrastruktur, an Knowledge, an Geld und Mut, Statements setzen zu wollen. „Als junge:r Künstler:in musst du jetzt aus Frankfurt raus, wenn du was bewegen, wenn du ernsthaft mit Musik arbeiten willst”, sagt Hafenbauer. Städte wie Amsterdam, London und Berlin böten für den Nachwuchs mehr.

Die Gründe dafür sind komplex, neben der Digitalisierung mit all ihren Umwälzungsmechanismen sieht Hafenbauer gerade in Frankfurt eine starke städtebauliche Verdichtung und einen „engen Immobilienmarkt.” Wo es keine oder wenige Flächen gibt, haben es kulturelle Angebote bekanntermaßen noch schwerer. „Wenn du in Frankfurt gut ausgehen willst, fährst du nach Mainz ins Bürro”, lächelt Hafenbauer. Der Club sei aus einem Netzwerk toller Menschen entstanden, niedrigschwellig organisiert und experimentierfreudig.

Greift nicht ein, lässt freie Hand: Oliver Hafenbauer (Foto: E. Weller, L. Bauer, K. Schuetze)

Aber den Kopf in den Sand steckt Hafenbauer nicht. Er bleibt ständig in Bewegung, reagiert auf neue Entwicklungen und verdient seinen Lebensunterhalt in einem Trias-Modell. „Ich würde mich in erster Linie als DJ bezeichnen, das beschäftigt mich am intensivsten”, erklärt er. Neben den vielen Gigs, die Hafenbauer pro Jahr rund um den Globus spielt, arbeitet er als Project Manager an verschiedenen Kulturprojekten. Und dann ist da natürlich noch sein Label, das, so Hafenbauer, damals ein wichtiger Schritt für seine Emanzipation gewesen sei. Plötzlich war er nicht mehr Dienstleister für andere, sondern konnte sich allem widmen, was ihm selbst gefiel.

Der Wüstenplanet Offenbach

„Die Orakel” – der Labelname ist inspiriert von den Orakel-Müttern aus Dune – Der Wüstenplanet von 1984 – ist das Ergebnis einer stark Techno- und House-affizierten Sozialisation. Hafenbauer ist in Offenbach geboren und aufgewachsen, für ihn als Frankfurter bis heute eine Stadt, die er gerne besucht, denn: „Dort herrscht eine gute Energie.” Zur elektronischen Musik kam er während eines Skiurlaubs. Ein Bekannter hatte eine Kassette dabei, mit Industrial- und Techno-Tracks drauf. „Wir haben uns das Tape im Aufenthaltsraum des Hotels reingezogen und waren sofort angefixt”, erinnert sich Hafenbauer. Wieder daheim habe er neue Musik gekauft, Tapes, CDs, auch andere Genres wie Hip-Hop oder Punk, vor allem aber elektronische Musik.

Und damit war in der Teenagerzeit, mit 15, 16 Jahren, der Grundstein gelegt für eine nicht untypische Frankfurter Club-Sozialisation. Der 1978 geborene tanzte mit Freund:innen im Dorian Gray im Frankfurter Flughafen, im legendären Omen nahe der Hauptwache, im XS, gelegentlich ging es ins Ultraschall nach München. „Wir sind mit 15 in die ganzen Clubs reingekommen. Warum, weiß ich nicht, das würde heute nicht mehr funktionieren.” Durch einen Schüleraustausch in England kam Hafenbauer erstmals mit Jungle und Drum’n’Bass in Berührung. 

„Ich wollte etwas machen, das mich anders herausfordert.”

Oliver Hafenbauer

Es folgten Jahre, die sich wohl gut unter dem Titel „Orientierungsphase” zusammenfassen lassen. Hafenbauer bewirbt sich mit einer Mappe an der Hochschule für Gestaltung (HfG) Offenbach, einer Kunsthochschule, und studiert sechs Semester lang Visuelle Kommunikation. Schon vor und während des Studiums habe er Partys und Ausstellungen im alten Möbel-Franz-Gebäude organisiert. Bei einer intensiven Treckingtour durch die Wüste in Marokko und Algerien während der Semesterferien kam dann eine Erleuchtung: „Ich wollte etwas machen, das mich anders herausfordert. Und weil ich kein Mathe-Ass war, fiel die Wahl auf Architektur.”

Das Studium absolvierte Hafenbauer im Jahr 2008, nur: Es war die Zeit der Wirtschaftskrise. Weil wenig gebaut wurde, stellte kaum jemand Architekt:innen ein. Der Musiker profitierte schließlich von Netzwerken ins Robert Johnson, die über die Jahre entstanden waren. Er wurde gefragt, ob er das Booking und das Label mitgestalten will, und ist dem Offenbacher Club zehn Jahre lang treu geblieben. Hafenbauer baute das Label Live at Robert Johnson mit auf, ebenso ein Netzwerk zu Künstler:innen.

Auch für ihn selbst als DJ sei die Zeit wichtig gewesen, erinnert er sich, denn er lernte, wie man Sets aufbaut, wie man mixen kann und was Dinge wie ein Isolator sind. „Wenn ich heute dort auflege, ist es wie vor zehn Jahren, als die wahnsinnig gute Anlage und der Floor noch mein Wohnzimmer waren.” Die 20-Jahresfeier des Clubs im Jahr 2019 war seine letzte. Er hätte sich, so Hafenbauer, im Robert auch komplett auf das Auflegen konzentrieren können, hat davon aber aus persönlichen Gründen abgesehen. Auch weil das DJ-Dasein als Fulltime-Job voller Gegensätze steckt zwischen vielen einsamen Reisen und Hotelstunden und übereuphorischen Partycrowds. „DJ-Sein ist ein toller, aber auch physisch und psychisch komplexer Job.”

Hafenbauer verabschiedete sich aus dem aktiven Clubgeschäft, ist dem Robert Johnson aber bis heute eng verbunden. In den unsäglichen Corona-Jahren betrat er wieder Neuland und baute gemeinsam mit Pascal Mungioli das unabhängige Webradio EOS auf. EOS war eine Reaktion auf die Pandemie, vor allem aber auf den bereits genannten musikkulturellen Kahlschlag in Frankfurt. Man wollte – und das Webradio verfolgt diesen Gedanken auch nach Hafenbauers Ausscheiden weiterhin – Künstler:innen außerhalb der Clubs eine Möglichkeit geben, gehört zu werden.

Letzteres ist auch die Quintessenz von Die Orakel. Hafenbauer versteht sich als Kurator, der Artists mit Sounds von Ambient bis tanzbar zusammenbringt. Das Netzwerk des Labels sei über die Jahre gewachsen, wobei für ihn immer wichtig sei, dass es auch auf der persönlichen Ebene passe. Den Künstler:innen lässt Hafenbauer freie Hand. „Ich greife nicht in ein Werk ein, aber ich ermutige dazu, auch Neues zu probieren”, so der DJ.

Während unseres Gesprächs hat sich die Bar gefüllt und die Musik um ein paar Dezibel zugelegt. Es ist der Punkt, an dem das angedachte Feierabendbier einiger Gäste vielleicht doch in einen ausgiebigeren Abend verlängert wird.

Wie es für Hafenbauer und sein Label weitergeht, wird sich zeigen. Mit Blick auf die letzten zehn Jahre kann man aber getrost annehmen: Da wird sicher wieder etwas Neues, Experimentierfreudiges entstehen auf dem fluiden Matschboden der breit gedachten und gelebten elektronischen Musik. Zu Hafenbauers pluralistischem Vibe passt denn auch der Labelname. Ganz bewusst heißt es „Die Orakel”: Plural! Schließlich gebe es, so der Tausendsassa, nicht die eine, streng monozentriert gedachte Zukunft, sondern viele mögliche.

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