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Mein Plattenschrank: Simo Cell

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Simo Cell klingt, als käme er aus den Basskellern von Bristol. Dabei ist Simon Aussel, wie der hagere Franzose eigentlich heißt, in der Bretagne aufgewachsen. Von Nantes aus kurbelte er Mitte der Zehnerjahre an seiner Musikkarriere – mit Trap und EDM und Dancehall und Techno, weil Simo Cell keine Grenzen mag. Erste holpernde Releases auf Fragil Musique und Wisdom Teeth deuteten aber an, dass Simo Cells Weg über die britische Bass-Music-Institution Livity Sound führen muss.

Als DJ hat sich Simo Cell mit der tieffrequenten Genreschieberei schnell einen Namen gemacht. Und zwar über seine neue Heimat Paris hinaus. Sets auf dem Dekmantel, Nuits Sonores oder im Boiler Room zeigen, dass Underground und Mainstream zusammengehen dürfen, oder im Fall von Simo Cell: müssen.

Während der Pandemie gründete er sein eigenes Label. TEMƎT hat sich mit Releases von Skee Mask, E-Unity und Lolito als Labor für tanzbare Soundtüftelei etabliert – hier wird nicht nur die Freude am Experiment zelebriert, sondern das Experiment an der Freude. Warum? Weil es am Ende immer noch schön knallen muss.

Das beweist auch Simo Cells aktuelles Album, das nicht ohne Grund auf unserer Bestenliste des vergangenen Jahres gelandet ist. Cuspide Des Sir​è​nes streift Techno, Jungle, R’n’B, Electro und viel Bass – ist eine „Fontäne an Klangideen”, wie unser Autor Tim Lorenz meinte. Gründe genug, um Simo Cell endlich seine Lieblingsplatten vorstellen zu lassen. Im Gespräch mit Charlotte Elsen erklärt er außerdem, wie ihn diese Platten bei der Produktion seiner eigenen experimentierfreudigen und abwechslungsreichen Musik inspiriert haben.

Roberto Aussel – Récital de Guitare (Circé, 1982)

Die erste Platte stammt von meinem Vater, Roberto Aussel. Er ist als klassischer Gitarrist bekanntgeworden. Meine Eltern sind beide Musiker:innen, sodass ich in meiner Kindheit den ganzen Tag über Musik und insbesondere Gitarre gehört habe. Diese Platte besteht hauptsächlich aus lateinamerikanischen Kompositionen, weil mein Vater aus Argentinien stammt. In seinen Interpretationen versucht er sich an einer neuen Herangehensweise an die moderne lateinamerikanische Volksmusik. Er ist Interpret, also spielt er hauptsächlich Lieder anderer Musiker:innen. So sind auf dieser Platte Livemitschnitte von fünf Interpretationen von Stücken von Astor Piazzolla zu hören.

Wer ist Astor Piazzolla? 

Astor Piazzolla ist ein argentinischer Komponist und hat sich unter anderem von Igor Strawinsky inspirieren lassen, Tango in eine neue, komplexere Form zu bringen. Im Grunde hat Piazzolla diese fünf Tracks meinem Vater gewidmet, indem er sie so komponiert hat, dass er sie auf der Gitarre umsetzen konnte.

Wie alt warst du, als du die Platte zum ersten Mal gehört hast?

Wahrscheinlich drei oder vier Jahre, deswegen hatte die Musik sehr großen Einfluss auf mich. Damals habe ich sie rauf und runter gehört. Dabei hatte ich natürlich noch keine Ahnung von der musikalischen Vielfalt der Lieder. Denke ich jetzt daran, wird mir bewusst, dass mich diese Schallplatte auf jeden Fall zu meiner eigenen Musik inspiriert hat. Genau wie mein Vater damals versuche ich im Produktionsprozess, neue Versionen von verschiedenen Styles und Genres zu kreieren. Ich versuche immer, Brücken zwischen verschiedenen Sounds und Genres zu schlagen, egal ob Techno, House oder Dubstep. Ich mache mein eigenes Ding draus. Das ist eine Frage der Verbindlichkeit.

Ananda Shankar – Ananda Shankar And His Music (His Master’s Voice, 1975)

Das ist eine Platte aus Indien. Es handelt sich hierbei wieder um einen Mix – dieses Mal aus Genres indischer Klassik und Volksmusik, mit Elementen aus dem Westen. Dabei beinhalten die Tracks indische Trommel- und Sitarklänge sowie psychedelische Rock- und Funk-Elemente. Eine Mischung, die für mich bis heute atemberaubend und komplex ist. Die Platte bedeutet mir viel, weil ich beim Hören eine gewisse Nostalgie empfinde. Ich habe die Schallplatte in einem Plattenladen in Kalkutta gefunden. Vor zehn Jahren habe ich drei Monate in der indischen Metropole gelebt. Die Stadt hat in Bezug auf traditionelle indische Musik eine sehr reiche Vergangenheit. Ich empfand die Plattenläden dort als perfekte Orte zum Stöbern. Für mich bedeutet diese Aufnahme extrem viel, weil ich mich, als ich die Platte entdeckte, gerade in einer musikalischen Auszeit befand.

Wovon wolltest du eine Auszeit nehmen? 

Ich war am Boden zerstört, weil ein bestimmtes Label meine Musik nicht veröffentlichen wollte. Deshalb machte ich mich auf die Reise nach Indien. Danach fühlte ich mich mutig und inspiriert und wollte unbedingt wieder Musik machen. Dieses Album spielt in diesem Prozess eine wichtige Rolle, es erinnert mich an die Energie von Kalkutta und unterscheidet sich sehr von westlicher Musik. Im Westen gibt es so viele Regeln, was bei diesem Album und bei Musik aus Indien generell nicht der Fall ist. Aus etwas Einzigartigem etwas Neues zu kreieren –  das fand ich bei meiner Entdeckungsreise in Indien atemberaubend. Diese Idee hat definitiv auch meinen kreativen Prozess als Produzent geprägt.

Ramadanman – Fall Short / Work Them (Swamp 81, 2010) 

Diese Platte bewegt sich eher im elektronischen Bereich. Ramadanman nennt sich heute Pearson Sound und veröffentlicht auf Hessle Audio. Seine Musik ist einzigartig, man erkennt seinen charakteristischen Sound in zwei Sekunden wieder – das liebe ich und versuche, einen solchen individuellen Erkennungswert und originellen Sound mit meiner eigenen Musik zu erreichen. Seine Vision und sein Produktionsstil sind dafür eine große Inspiration.

Wie gelingt es Pearson Sound, so unverkennbar zu klingen?

Er verändert sich wie ein musikalisches Chamäleon, indem er Elemente von Dubstep, Drum’n’Bass und Techno kombiniert. Dieser Track ist deshalb vielfältig einsetzbar, etwa in einem Experimental- oder Techno-Set. Aus diesem Grund liebe ich diese Platte sehr. Pearson war seiner Zeit voraus, der Track wurde 2010 produziert und klingt bis heute sehr modern – ein Meisterstück. Er verbindet die typischen Merkmale der Anfangsjahre von Hessle Audio: Einen auf die Spitze getriebenen Minimalismus mit einem perfekten Sounddesign, präziser Percussion und einer kräftigen Setbase. Der Sound ist innovativ und experimentell, und dennoch kann man die Platte im Club spielen. Ich kann mir den Track 20-mal anhören und erkenne immer wieder neue Details in der Produktion. Das macht die Platte in meinen Augen so einzigartig.

Wann hast du den Track zum ersten Mal gehört?

Direkt, nachdem der Track erschienen ist, um 2011 rum. Durch ihn habe ich die ganze Szene um Livity Sound und Hessle Audio entdeckt. Das hat mich komplett überwältigt. Zu dem Zeitpunkt habe ich mich entschieden, mich dieser Art der Musik zu widmen. Diese UK-Szene war ganz neu und frisch, vor allem im Vergleich zu der Szene in Frankreich, die musikalisch ziemlich leer und repetitiv war.

Juan Atkins – Game One (Metroplex, 2005)

Das ist ein klassischer Detroit-Techno-Track. Ich habe ihn entdeckt, während ich auf der Suche nach einem Stück aus einem Set von Anthony Shakir war. Shakir ist für mich eine große Inspiration, weil ich selbst großer Detroit-Fan bin. Dieser Track ist ursprünglich aus den Neunzigern und angesichts der Tatsache, wie limitiert die Technik damals war, unglaublich innovativ produziert. Mit einer Drummachine und zwei Synths, ohne Computer oder andere Speichermöglichkeiten mussten damals alle Tracks innerhalb von kurzer Zeit im Studio zustandekommen. Trotz der wenigen Synths und Effekte klingt dieser Track unfassbar gut. Beim Analysieren merkt man, dass hier vor allem das Delay für Groove sorgt. Als ich das Produzieren lernte, habe ich versucht, diese einfache Herangehensweise zu imitieren. Die Platte hat also meine Augen geöffnet: „Less is more”. Zudem mag ich, wie futuristisch der Song klingt. Er erzeugt das Bild einer Dystopie, auch wenn er in anderen Teilen sehr optimistisch und freudig ist.

Wie hast du herausgefunden, dass Anthony Shakir den Track gespielt hat?

Ich war bei seinem Set! Meine Freunde und ich sind zum Pult gegangen und haben ihn nach dem Namen des Tracks gefragt. Shakir hat ihn uns gezeigt. Das weckt natürlich schöne Erinnerungen. Ach ja, noch eine Sache: Das ist auch eine der Lieblingsplatten von Peverelist, dem Begründer von Livity Sound. Immer, wenn wir zusammen auftreten, bewahren wir diesen Track für besondere Momente auf.

Abdullah Miniawy und Carl Gari – Darraje (The Trilogy Tapes, 2016)

Die nächste Platte habe ich in München entdeckt. Dort hatte ich einen Auftritt, nach meinem Set kamen Mitarbeiter von Carl Gari auf mich zu und haben mir diese Platte in die Hand gedrückt. Ich kannte die Musik von Abdullah Miniawy und Carl Gari damals noch nicht, als ich die Songs hörte, war ich aber fasziniert. Es handelt sich bei der Platte erneut um ein genreübergreifendes Konzept, um einen Mix aus Ambient und Dub sowie arabischen und orientalischen Elementen. Das liegt daran, dass die Musik von Carl Gari produziert wurde und Miniawy dazu singt. Ich finde vor allem toll, dass diese Platte nicht der klischeehaften Musik aus dem sogenannten Orient entspricht, dennoch kommt der orientalische und arabische Einfluss auf erfrischende und hypnotisierende Art zum Ausdruck.

Wie ist es zu deiner Zusammenarbeit mit Abdullah Miniawy gekommen? 

Hinter dieser Platte steht auch eine Geschichte, die mich sehr geprägt hat. Einen Tag, nachdem ich die Platte bei NTS Radio gespielt habe, erhielt ich eine Nachricht von Miniawy. Er bedankte sich bei mir und wir trafen uns spontan in Paris, wo wir beide damals lebten. Bei dem Treffen haben wir uns auf Anhieb gut verstanden und uns dazu entschieden, ohne Ambitionen oder Plan ins Studio zu gehen. Zwei Jahre später haben wir dann zu zweit eine Platte herausgebracht. Er ist seitdem auch einer meiner engsten Freunde in der Musikbranche, die Zusammenarbeit hat mir sehr dabei geholfen, meine musikalischen Skills weiterzuentwickeln.

C.V.O. – Mighty Real Groove (Balance, 1995)

Dieser Track ist ein Chicago-House-Klassiker von 1995. Eigentlich habe ich nicht so viel dazu zu sagen, der Track symbolisiert für mich eine zeitlose Partyhymne. Ich habe diesen Track bereits in meiner Anfangszeit als DJ gespielt und spiele ihn bis heute noch ab und zu in meinen Sets. DJs wie Theo Parrish spielen ihn auch oft, es ist einfach ein klassischer Deep-House-Track.

Hast du jemals das Gefühl, dass du eine bestimmte Platte zu oft gehört hast und sie deshalb gar nicht mehr hören magst?

Klar, wenn ich eine Platte zu oft gehört habe, brauche ich danach eine Pause. Dennoch liebe ich die jeweiligen Tracks und werde selbst nach 20 Jahren eine Bedeutung in ihnen finden. Das liegt auch daran, dass unsere Lieblingsmusik oft an Erinnerungen und positive Gefühle gekoppelt ist. Die werden niemals verschwinden. Natürlich wächst man als Künstler und als Mensch über die Zeit, und wenn man wieder zu seinen ursprünglichen Lieblingsplatten zurückkehrt, nimmt man sie oft auf eine andere Art wahr. Es ist eine Entdeckungsreise, die niemals endet.

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