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Wir präsentieren diese Festivalrezension als Bildergeschichte mit 57 exklusiven Fotos. Viel Spaß beim Durchklicken!
Geduldig warten die Besucher:innen darauf, dass das das grüne Licht an der Ampel aufleuchtet, damit sie die große Straße überqueren können, die sie vom Gelände des Flow Festivals trennt. Zusätzlich passen Ordner:innen in gelben Westen auf. Wir sind in Helsinki in Finnland, hier gehen die Dinge geordnet zu. Auf dem Festivalgelände herrscht an diesem Freitag Abend eine neugierige Stimmung. Schnellen Schrittes eilen Grüppchen zwischen den Bühnen hin und her. Die Bühnen sind auf dem weitläufigen Gelände eines historischen Kraftwerks verteilt, die mit ihren tonnenartigen Dächern verspielt wirken. Einen anderen, pastoralen Akzent setzt der Front Yard mit seiner saftigen, grünen Wiese und großen, schattenspendenden Bäumen. Dort pfeffert Habibi Funk eine Schallplatte hinter seinen Plattenspieler. Der Berliner DJ springt zwischen Clubmusik und Pop, zwischen derbem Drum’n’Bass und Dubstep hin und auch wieder zurück. Diese Hakenschläge kommen bei der Crowd gut an. Auf dem aus Containern gebauten, rougheren Front Yard spielt derweil Jaye Ward. Jaye Ward ist seit Jahrzehnten eine Schlüsselfigur im queeren Nachtleben New Yorks. Den analogen House-Sound präsentiert Ward stilecht mit einem Monokopfhörer mit einer einzigen Muschel, den sie für das Beatmatching für einen kurzen Moment zwischen Schulter und Ohr presst. Wenig später übergibt sie an Chaos in the CBD. Mit ihrem agilen, kleinteiligen Sound stacheln sie die Tänzer:innen zu feingliedrigeren Bewegungen an. Als Performer geben sich die beiden Neuseeländer ähnlich gelassen wie Jaye Ward. Auf der Konzertbühne des Black Tent schlägt Kelela mit ihrer Präsenz und Persönlichkeit die Masse von Besucher:innen in ihren Bann. Ihre Stimme wirkt aber eher ein wenig überfordert. Im Backyard sorgt für Kampire aus dem Umfeld des Nyege-Nyege-Festivals in Uganda wenig später für einen ersten Höhepunkt. Kampire verbindet Post-Afrobeat mit Footwork und klingt dabei auf erbarmungslose Weise beschwingt. Die Crowd allerdings geht nicht ganz so mit wie bei Habibi Funk, vielleicht wirkt Kampire mit ihrem Fokus auf die selten gehörten Grooves ein wenig hermetisch. Wenig später stehen Suede auf der Hauptbühne. Der angequeerte, glamlastige Indiepop aus den Neunzigern wirkt überraschend alterslos. Sänger Brett Anderson und seine Band sind bestens in Form, ganz und gar darauf konzentriert, ihr Bestes zu geben. Jockstraps Artrock wirkt dagegen etwas schüchtern, Shygirl mit ihrem Playback blutleer. Und was machen die DJs derweil? Hunee mixt ein großes Spektrum abseitiger Clubsounds, die bestens unterhalten, auch weil er ihnen als DJ einen unverkennbaren Stempel aufprägt. Zeit für das Finale dieses ersten Festivaltags auf dem Backyard. Die bärtige Techno-Ikone Speedy J spielt ein von der ersten bis zur letzten Sekunde packendes Live-Set. Es fesselt mit seinem brillanten Sound, seinem Stilbewusstsein und mit Lebendigkeit. Einen Gegenentwurf dazu liefert Nene H. Ihr ruppiger, von Breaks strukturierter vocallastiger Sound fühlt sich bisweilen eher wie Rock, Pop und EDM.
Am zweiten Festivaltag sorgt die Neunziger-Jahre-Singer-Songwriterin Meshell Ndegeocello für eine besinnliche Einstimmung. Neo-Detroit-Producer Sansibar spielt die Musik, die man von seinen Produktionen kennt, und wirkt dabei nicht offen genug, eine Beziehung zur Crowd aufzubauen. Überraschend unterhaltsam kommt der humorige New Wave von Devo daher. Die US-Amerikaner aus Akron, Ohio haben keine Hemmungen, mit den runden roten Pyramiden-Hüten und funky Gitarrenriffs ihren Markenkern zu zelebrieren. Das entgeht auch den angereisten Musikjournalisten nicht. Einen originellen Akzent setzt die Nu Genea Live Band, die sich einen Namen als Tony-Allen-Kollaborateure gemacht haben und mit ihrer großen Gruppe eine ungewohnte Turbulenz auf die Bühne bringen.
Da macht es Spaß zu verfolgen, wie Momente des kollektiven Musizierens entstehen und Augenblicke später schon wieder zerfallen. Ähnlich stark ist der Auftritt des New-York-House-Veteranen Louie Vega. In den 1990er Jahren hat er die Sicht auf die Musik der Stadt geprägt. Was damals ein großspurig und manchmal ein wenig kalkuliert wirkte, kommt heute angenehm direkt und naiv daher.
Einen anderen Blick auf die neunziger Jahre wirft DJ JVS im X Garden, der den queeren Kollektiven Helsinki vorbehalten ist. Er spielt dort unter anderem „Changeling”, eine Wüste Acid-Nummer von Peter Ford und Ian Loveday, die hier bestens ankommt. Auf der Main Stage übernimmt Lorde das Finale, aber ihre introvertierten Songs wollen nicht ganz zur euphorischen Stimmung dieser Samstagnacht passen.
Der Sonntag lockt mit dem Headliner des Festivals, Blur. Der Abend beginnt mit Folamour, dessen Discohouse in seiner fast manischen Euphorie auf seltsame Weise erstarrt klingt. Locals und für das Festival Angereiste lassen sich davon nicht die Stimmung verderben. Derweil spaziert Caroline Polachek mit großen Schritten über die Hauptbühne und trägt souverän große Teile ihres Albums „Desire, I Want to Turn Into You” vor. Mit den Songs, Kostümen und ihren ballettartigen Bewegungen entsteht das stimmige Bild eines Lebensentwurfs, in dem Struktur und Auflösung nicht miteinander ringen, sondern harmonieren. Auf vergleichbare Weise persönlich aufgeladen sind die breakbeatlastigen Clubtracks von Eris Drew & Octo Octa. Dort erzeugen das Drumming und die sphärischen Sounds eine ähnliche Dynamik zwischen Ordnung und Entgrenzung. Die Crowd lässt sich von einem anderen Set aber noch mehr mitreißen. Nun den Trance-Classics von DJ Miika2TheMax. Der DJ aus Helsinki spielt Paul van Dyk Remix von „The Age of Love”, „Guardian Angel” von K-System, „Burning” von Darude oder „Black Train” von Ruby Thacker. DJ Hearstring lassen das so erreichte, maximale Eskalationsniveau nur für einen kurzen Augenblick erblassen. Souverän messen sie sich nicht an diesem Exzess aus Gassenhauern, sondern verordnen den Tanzenden mit ihrem hypnotischen Psytrance-Groove Konzentration. Vor der Mainstage warten die nicht wenigen Fans von Blur auf ihre Helden. Überraschend desinteressiert gibt sich der zentrale Act des britischen Indiepops der 1990er. Bassist Alex James schlendert mit Ikea-Tasse und Zigarette auf die Bühne und setzt sich auf eine Monitorbox, um das Heißgetränk zu genießen.
Eine Kollegin erklärt mir, dass ihm Sänger Damon Albarn für die Tour eine Diät verordnet habe, nachdem James’ Übergewicht nach der Übernahme einer Käserei adipöse Züge erreicht hatte. Sänger Damon Albarn ist alkoholisiert und wirkt schon beim ersten Song überwältigt von dessen Botschaft. Bei den Hits von Blur aus den 1990ern fällt Albarns Energie dann stark ab. Beim Hit „Parklife” kann er sich nicht mehr an einzelne Textzeilen erinnern. Trotzdem hört ihm die gesamte Crowd bis zum letzten Song gebannt zu, bevor sie vom Festivalgelände zurück in die Stadt strömt. So scheint die Band, die wie kein anderer Act ihren Verfall und ihre Krisen zelebriert, all den anderen so positiven, motivierten und disziplinierten Künstler:innen dennoch etwas vorauszuhaben.
Sämtliche Fotos: Alexis Waltz