Zwischen dem 6. und 9. Juli fand das EXIT Festival in Novi Sad statt. In der Donaustadt im Norden Serbiens tanzten täglich mehr als 40.000 Besucherinnen zu Sets von Nina Kraviz oder Partiboi69. Viele ließen sich auch vom Zinnober der EDM-Stars Alesso oder Dimitri Vegas & Like Mike begeistern. Außerdem wurde mit den New Yorker Rap-Gruppen Onyx und einem reduzierten Wu-Tang Clan ein halbes Jahrhundert Hip-Hop gefeiert.
Das EXIT, das bereits zweimal den Preis für „Europas bestes Festival” gewinnen konnte, bot aber viel mehr. Rund um die Festung Petrovaradin traten über 1000 Künstler:innen auf 15 Bühnen auf. Ließ sich aus dem eklektischen Line-up ein zusammenhängendes Festivalerlebnis puzzeln? Und wie sinnstiftend waren die hehren Wünsche der Veranstalter:innen nach Frieden, kosmischer Harmonie und Selbstverwirklichung für die Festivalkonzeption? Unser Autor Fabian Starting hat sich vor Ort umgesehen.
Das schier endlos gelbe Meer der Sonnenblumenfelder in der nordserbischen Vojvodina steht in starkem Kontrast zum EXIT. Nicht bloß, weil sich das Festivalgelände in Novi Sad, der größten Stadt der Region, über eine riesige Festungsanlage erstreckt, deren Dächer mit Ziegeln in matten Erdtönen gedeckt sind. Auch das musikalische Programm des größten Musikfestivals am Balkan spart nicht mit Gegensätzen.
Von jahrhundertealten Wällen, Wehrgraben und Zinnen der Festung Petrovaradin werden in den kommenden vier Tagen auf 15 Programmbühnen die Sounds von über 1000 Künstler:innen hallen. Im großen Innenhof, der die beiden Festungsteile verbindet, steht die Zentrale des Festivals: die Hauptbühne. Ein wilder Programm-Mix wartet dort: So sollen The Prodigy nach den Post-Punkern Viagra Boys auftreten, die Symphonic-Metal-Band Epica spielt vor Skrillex und nach der Hip-Hop-Show des Wu-Tang Clans ist ein EDM-Spektakel mit Dimitri Vegas & Like Mike angesetzt.
Eine ebenfalls wilde Mischung ist das Selbstverständnis der Veranstalter gegenüber der organisatorischen Realität des Festivals. Unübersehbar finden sich Kalendersprüche wie „Be better, be you, belong”, die auf dutzenden Bannern gedruckt die Wege der Festung schmücken. Auch sonst merkt man schnell: Das EXIT ist 23 Jahre nach seiner ersten Edition längst zu einem durchkommerzialisierten Festival geworden. Selbst eine spirituell angehauchte Bühne wie Pachamama wird von einer Getränkefirma gesponsert, die Wasser in Plastikflaschen verkauft – wahrscheinlich im Einklang mit Sound Healing und schamanistischen Zeremonien, die hier später abgehalten werden sollen.
Kein Wunder also, dass ein Motivationscoach wie Marcus Aubrey die Eröffnungsrede des Festivals halten darf, bei der er von einem „kosmischen Moment” spricht, dem die vielen Anwesenden gerade beiwohnen. Offensichtlich ist es den Leuten beim EXIT egal, wie sie zur Erleuchtung gelangen. Erleuchtet ist Novi Sad über vier Tagen jedenfalls. Auf den Terrassen der Eiscafés, in Bars und Restaurants tummeln sich viel mehr Menschen als sonst – das erkennt man an den vielen roten Festivalarmbändchen, die hier von den Handgelenken baumeln.
Schlaflos in Novi Sad
Die Altstadt zieren Banner, die diesjährige EXIT-Headliner wie Alesso und Amelie Lens ankündigen. Auf der Prachtstraße, die hinunter zur Donau führt, organisieren zahlreiche Kioske den Straßenverkauf von Bier und anderen Kaltgetränken. Über eine Brücke erreicht man schließlich die Festung. Hier sind es Anrainer:innen, die Bier und Wasser aus Kühlschränken im Hauseingang verkaufen. Einige Kinder bieten zusätzlich Selbstgemachtes sowie alten Modeschmuck an.
Die Kinder der Stadt werden in den nächsten Tagen kaum schlafen. Das EXIT beschallt die Stadt an Festivaltagen von der Dämmerung bis zum Morgengrauen um acht Uhr früh. Als Entschädigung für die Störung vieler Nachtruhen bin ich verführt, meine serbischen Dinar bei den Leidtragenden für Bier oder Softgetränke aus einem Eisbad einzutauschen. Trinken sollte man nämlich viel. Es ist noch immer heiß, obwohl die Sonne am frühen Abend des Eröffnungstags bereits zu sinken beginnt.
Auf dem Festivalgelände gibt es zu deutschen Barpreisen den halben Liter von einer großen niederländischen Brauerei. Bezahlt wird auf dem ganzen Gelände mit einer Festival-eigenen Kreditkarte, die Visa sponsert. Zum Door-Opening um 19 Uhr spielen erste Acts wie die bosniakischen DJs Marina Mimoza und Pink Palindrome im b2b, doch sind die Plätze noch verwaist. Von den Stewards des Festivals heißt es, dass sich das Gros der Besucher:innen noch unten, am anderen Ufer der Donau, auf der Stadtpromenade zum Vortrinken und Vorfeiern treffe. Viele werden erst ab 22 Uhr zu den ersten Headlinern den Hügel zur Festung hinaufsteigen.
Einer, der jetzt schon da ist, stellt sich mir als Niko vor. Er ist Serbe, hochgewachsen und trägt breitschultrig das ärmellose Basketballtrikot der Denver Nuggets mit der Beflockung seines Namensvetters Jokić. Niko erklärt, dass er als Anwohner seit Jahren auf der Festung Petrovaradin dabei ist. Seiner Erfahrung nach kommen fast zwei Drittel der Besucher:innen aus der Region, wobei er bewusst Ex-Jugoslawien sagt. Die anderen reisen aus Ungarn und Bulgarien an, auch Russisch höre man viel. Wahrscheinlich, weil die Hürden bei der Einreise deutlich geringer sind als in anderen europäischen Ländern.
Ein paar Brit:innen, Niederländer:innen und Deutsche seien wohl auch hier, sagt Niko. Die Unterbringung erfolgt in der Stadt – in Hostels, Hotels oder bei Anwohner:innen. So nehme Niko regelmäßig Festivalbesucher auf und investiert die Einnahmen durch Room-Sharing-Plattformen in Festivaltickets und Bier. Einen Campingplatz gebe es übrigens auch.
Um einen Eindruck vom Komfort des improvisierten Zeltplatzes zu bekommen, habe ich die mehr als zwei Kilometer vom Festivalgelände zum Stadtstrand zurückgelegt. Entlang der Donau entsteht hier jedes Jahr der Campingplatz des EXIT. Neben Zelten und Caravans findet man auch einen kleinen Supermarkt aus Containern sowie eine Bar mit Restaurant. Natürlich wird auch dort mit der Festival-eigenen Visakarte gezahlt, die man an Dutzenden Festival-Kiosken mit Dinar aufladen kann.
Andere Länder, andere Gerüche
Ein Blick auf den Timetable der nächsten Tage macht klar, dass elektronische Musik das Festival dominiert. Es gibt dedizierte Bühnen für House und Drum’n’Bass. Die große Stage der Dance Arena ist nur für die Techno-Acts reserviert. Eine Hip-Hop-Bühne für regionale Künstler gibt es auch. Post-Punk und weitere Formen der elektronisch beeinflussten Rockmusik gibt es wahlweise auf der Hauptbühne oder auf einer kleinen Bühne an der Nordseite der Festung. Eine Bühne für Reggae-Musik steht außerdem auf einem Maschierplatz. Dort ist auch die Festival-eigene Polizeiwache untergebracht. Wer sich das Genre-übliche Ganja anstecken möchte, muss also vorsichtig sein.
Generell riecht es hier nie wie auf einem Festival in Mitteleuropa. Auf den Tanzflächen und in Cafés fällt auf, dass Tabak in Serbien eine noch umgreifendere Industrie als hierzulande darstellt. Für deutsche Nasen fast ungewöhnlich, riecht es auf dem EXIT manchmal wie in einer Raucherkneipe im Kiez. Der Geruch von Gras liegt hier jedenfalls kaum in der Luft, und wenn, ist es eher Haschisch.
Viele Dunstwölkchen steigen auf, als mit The Prodigy die ersten großformatigen Headliner auftreten. Auch ohne dem verstorbenen Keith Flint zieht die Band eine veritable Show ab, die mit „Breathe” als Opener direkt Jubel auf dem vollen Innenhof auslöst. Zu den schnellen Rhythmen reißen oberkörperfreie Serben einen großen Moshpit auf. Mit ihren militärischen Bürstenschnitten und der Statur von Olympioniken wirkt das sehr martialisch. Leider bleibt der Rest des Publikums auch bei Electro-Hymnen wie „Smack My B*tch Up” hüftsteif.
An selber Stelle spielt Claptone am Samstag seine eigenen Produktionen. Er wirkt mit der Maske des Pestdoktors wie ein Gaukler, der hinter dem Pult mit den Armen gestikulierend imaginäre Bälle jongliert. Als er dann seinen Remix von Eurythmics „Sweet Dreams” spielt, kippt sein Programm komplett ins Provinzielle und bekommt im schlechtesten Sinne Jahrmarkt-Charakter.
Im Gegensatz dazu steht in der Dance Arena noch Sound über Name. Fast 30 Meter tief steigt man für ihn in den Festungsgraben hinunter. Vylana Marcus beschwört dort zur Eröffnung mit ihrer Mischung aus Tanzritual und Feuershow das Kosmisch-Feminine. Später serviert Amelie Lens für das dicht gepackte Grubenpublikum ihren düster-peitschenden Techno. Auf dem Dancefloor geht es zu wie in einem Taubenschlag: Menschen bahnen sich von hinten einen Weg ins Herz der Menge, und von dort strömen auch genauso viele hinaus – eine Eigenart des EXIT, das sich an den folgenden drei Festivaltagen noch öfter beobachten lässt.
Ganz anders geht es in den abgelegeneren Bereichen auf den Genre-Bühnen zu. Wer sich dorthin verirrt, will auch dort sein – und tanzt stundenlang zu Ghetto Bass oder Psytrance. Man sieht Raver mit Harnisch und dunkel geschminkte Raverinnen mit Nieten-BH, aber auch gertenschlanke Influencer:innen in Crop Tops und Retro-Leggings, die ihre Hände mit den gemachten Nägeln genauso durch die Luft kreiseln lassen wie ihre akkurat geknüpften Zöpfe. Die meisten Männer sind oberkörperfrei, einige tragen Sturmhaube, Bandanas oder medizinische Masken, vermutlich aber weniger wegen potenzieller Keime, sondern weil die Leute beim Tanzen viel Staub aufwirbeln.
Kung Fu auf den VIP-Balkonen
Um 2023 ein halbes Jahrhundert Hip-Hop zu feiern, findet am Abschlusstag des Exit ein Showcase mit der auf Fredro Starr und Sticky Fingaz zusammenschrumpften New Yorker Hardcore-Gruppe Onyx statt. Auch der Wu-Tang Clan tritt auf, aber längst nicht mehr in Vollbesetzung. RZA, GZA und ein paar andere sind trotzdem am Start, dazu kommen zehntausende Fans vor der Bühne und einige auf den VIP-Balkonen rund um die Mainstage. Sie alle strecken die Arme nach oben, um mit ihren Fingern das berühmte W der Band zu formen.
Mit seinen dunklen Texten, Sample-Beats und Schnipseln aus Kung-Fu-Filmen mag der Wu-Tang Clan den Hip-Hop Anfang der Neunziger revolutioniert haben. Über drei Jahrzehnte später ist davon leider nicht viel übrig geblieben. Auf dem EXIT klingt der Sound des Clans beliebig, denn durch die Begleitung einer Live-Band aus Schlagzeuger und Gitarristen gehen RZAs staubige und holprige Beats verloren.
Alles andere als verloren ist hingegen das Konzept des Festivals. Man merkt schnell: Die bekannten Künstler:innen dienen als Türöffner für die regionalen Artists und DJs auf den Nebenbühnen. Obwohl der rohe, dunkle Techno-Sound und die stimmungsvollen Deep-House-Klänge inzwischen international zu Hause sind, ist es die lokale Songauswahl der weniger bekannten DJs, die auf dem Exit wirklich Interessantes entstehen lassen.
Auf die musikalischen Vorlieben seiner Landsleute angesprochen, sagt mir der Taxifahrer auf dem Weg zurück zum Flughafen nach Belgrad: „Techno is big in Serbia! But when you look for it, you can find different music too!” In gewisser Weise trifft das auch auf das EXIT zu – eine kulturelle Vielschichtigkeit, die vielleicht auch eines der wenigen Überbleibsel des mittlerweile aufgelösten Vielvölkerstaates Jugoslawien ist.