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Rave The Planet: Dimitri-Hegemann-Rede „Techno und Frieden”

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Mark Reeder verlas am vergangenen Samstag bei Rave The Planet Dimitri Hegemanns Rede „Techno und Frieden” in einer gekürzten englischen Fassung. Wir veröffentlichen exklusiv das ungekürzte Original des Tresor-Gründers.

Auf den ersten Blick hat der düstere Ruinen-Look des Tresor wenig mit der naiven und bisweilen ein wenig undifferenzierten Positivität zu tun, die gerade auch Dr. Mottes Reden einst auf der Loveparade und nun bei Rave The Planet ausstrahlen. Dabei standen in den Neunzigern Parade und Club durchaus in Beziehung. Der Club befand sich in der Nähe des 17. Juni, im Garten des Tresor fand jahrelang die legendäre Sonntagsparty mit Sven Väth statt, die so lang und intensiv war, dass dieser bisweilen das Gelände nicht mehr auf eigenen Beinen verlassen konnte.

Diese Mythen sind aber nicht der Grund, warum wir diese Rede veröffentlichen. Viele Fragen sich, ob eine Technoparade in unserer krisengebeutelten Gegenwart noch einen Platz hat. In seiner Rede verortet Dimitri Hegemann die Parade in einem größeren historischen Kontext und stellt sie in Zusammenhang mit den Werten, die unser Leben ermöglichen.

Liebe Freundinnen und Freunde guter Musik, liebe Tänzerinnen und Tänzer, liebe Technogemeinde!

An meinem Geburtstag wurde ich gefragt, was mir in meinem Leben besonders wichtig sei. „Frieden” war meine spontane Antwort. Denn ohne Frieden ist alles nichts. Ohne Frieden gibt es auch keine echte Freiheit. Nur dann können wir unser Leben so gestalten, wie wir es für richtig halten. Freiheit in Frieden ist das, was ich mein Leben lang genossen habe.

Ich bin wirklich sehr dankbar, dass ich das Glück hatte, in einer Zeit und in einem Land und auf einem Kontinent aufzuwachsen, der sich über Jahrhunderte bekriegt und zerfleischt hat, aber in dem seit vielen Jahrzehnten im allergrößten Teil Frieden herrschte.

Das war und ist überhaupt keine Selbstverständlichkeit. Ich gehöre einer Generation an, deren Väter und Großväter noch in anderen Ländern die grausamsten Dinge angerichtet und in den schlimmsten zwei Kriegen des vergangenen Jahrhunderts gegen Väter und Großväter aus anderen Ländern gekämpft haben.

Im Vordergrund Dr. Motte mit dem Manuskript seiner Rede, im Hintergrund trägt Mark Reeder die Worte Dimitri Hegemanns vor. (Foto: Fabien Prauss)
Im Vordergrund Dr. Motte mit dem Manuskript seiner Rede, im Hintergrund trägt Mark Reeder die Worte Dimitri Hegemanns vor. (Foto: Fabien Prauss)

Meine Generation war die erste, die Freundschaften mit Amerikanern, Engländern, Franzosen, Italienern, und Menschen aus allen anderen Ländern Europas und der ganzen Welt schließen konnte und nie gegen- oder miteinander in den Krieg ziehen musste. Das hatte es vorher in dieser Art kaum gegeben. Das war ein großes Geschenk. Und das ist es auch heute noch.

Umso entsetzlicher ist der verbrecherische und völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, nur wenige Flugstunden von uns entfernt. Jeden Tag erfährt dort, im Osten Europas, die ukrainische Bevölkerung furchtbares Leid und Zerstörung – auf eigenem Boden, in ihren eigenen Städten, in ihren eigenen Häusern. Nur weil eine fremde, aggressive Macht ihnen weder Frieden noch Freiheit gönnt und ihre Kultur zerstören will. Ein mächtiger Autokrat schickt junge Soldaten los, um in fremden Ländern andere junge Soldaten umzubringen und fremde Städte zu verwüsten.

Seit über einem Jahr schon. Ein Ende dieses Wahnsinns ist nicht abzusehen.

Ich muss zugeben, ich habe manchmal die Sorge, dass sich dieser Krieg ausbreiten und auch uns erreichen könnte. Etwas, das jahrzehntelang als völlig ausgeschlossen galt. Heute scheint es eine reale Möglichkeit zu sein.

Und auch, wenn es bei uns friedlich bleibt, spüren wir die Auswirkungen eines Konfliktes, der ein paar tausend Kilometer entfernt tobt. Energieknappheit, steigende Kosten, Inflation, Belastungen in vielen Bereichen. Das ist nichts gegen das, was die Ukrainer ertragen müssen, aber schon diese Auswirkungen zeigen uns: 

Mark Reeder verlas Hegemanns Rede bei Rave The Planet unter strahlend blauem Himmel. Dieser Raver:innen hörten ihm dabei zu (Foto: Mark Reeder)
Mark Reeder verlas Hegemanns Rede bei Rave The Planet unter strahlend blauem Himmel. Dieser Raver:innen hörten ihm dabei zu. (Foto: Mark Reeder)

Frieden ist auch die Grundlage für eine funktionierende Wirtschaft, ohne die es keinen Wohlstand in diesem Land gibt. Und der ist die Grundlage für den sozialen Frieden in unserer Gesellschaft. Und für das Leben, das wir lieben, das wir wertschätzen und das für uns selbstverständlich ist – und bleiben soll. Auch deshalb ist der Frieden von so immenser Bedeutung für uns alle.

Wir brauchen Frieden, um die existenziellen Probleme unseres Planeten lösen zu können. Nur in einer friedlichen Welt können wir zusammen die brutale Zerstörung der Natur und aller Lebensgrundlagen aufhalten. Die Zeit drängt. Nur wenn Frieden auf der Welt herrscht, können wir diese Entwicklungen stoppen. 

Techno wurde zur Weltsprache aller Gutmeinenden.

Ich und meine Generation sind im Kalten Krieg aufgewachsen. Als die Mauer fiel, geschah etwas Wunderbares, mit dem keiner gerechnet hatte: Plötzlich brachen in ganz Europa unglaubliche Euphorie und Freude aus, das war ein nie dagewesenes Gefühl von Frieden und grenzenloser Freiheit. Alles schien sich zum Guten zu verändern. Eine bessere Welt schien Wirklichkeit zu werden.

Wir alle waren offen für alles – und alles war neu und aufregend. Alle waren optimistisch und hatten große Erwartungen.

Und nichts brachte dieses Lebensgefühl so sehr auf den Punkt wie: Techno – und die stetig wachsende Loveparade. So etwas hatte es noch nie gegeben. Die Welt vereinte sich auf dem Dancefloor, auf den Straßen der einst geteilten Stadt. Da explodierten Kreativität, Lebensfreude und Lebensbejahung.

Die Atmosphäre in Berlin war grandios und einzigartig. Es herrschte Aufbruchstimmung. Und es gab kein besseres Symbol für diese Euphorie und Aufbruchstimmung als die Loveparade.

Und die Welt staunte: Was war da in Deutschland los? Wo früher Nazi-Kolonnen und Soldaten marschierten, feierten plötzlich ausgelassene Massen von fröhlichen Menschen zum Beat der neuen Zeit, dem sich niemand entziehen konnte. Techno war der Soundtrack für die Wiedervereinigung, für den Beginn eines neuen Zeitalters.

Techno war neu und frisch. Techno begeisterte sofort die Kids aus Ost und West. Techno faszinierte ohne Melodie und transportierte eine Message, die alle verstanden:

Die großartige, überwältigende Message war: Auf dem Dancefloor sind alle gleich. Egal, wo sie herkommen. Egal, wie sie aussehen. Egal, was sie anhaben. Egal, welche Sprache sie sprechen. Techno wurde zur Weltsprache aller Gutmeinenden. Techno zeigte: Uns verbindet eine starke Kraft, die stärker ist als alles, was uns trennen könnte. Techno zeigte: Wir haben dieselben Träume, dieselben Sehnsüchte, dieselben Hoffnungen. Ja, wir alle wollen zusammen friedlich feiern, Grenzen überwinden und die Arme ausstrecken zu unseren Brüdern und Schwestern auf der ganzen Welt. Techno war der Soundtrack für den Wunsch nach Frieden und Gemeinschaft in Freiheit!

Das verstanden junge Menschen auf der ganzen Welt, die nach Berlin eilten, um hier mit allen anderen zu tanzen und dieses Gefühl zu erleben und zu teilen. Beseelt von der Sehnsucht, Teil von etwas Großartigem und Bedeutendem zu sein. Erst waren es Hunderte, dann Tausende, Hunderttausende, am Ende sogar Millionen. Ein Traum wurde wahr.

Make Party, not war. Dancing is better than marching.

Die ganze Welt sah die großartigen Bilder und verstand: Es geht um Frieden, grenzenlose Freiheit und Toleranz. So will die Jugend der Welt leben: friedlich, vereint in der Musik, im Feiern, im Spaß. Ohne Hass, ohne Gewalt. Mit Respekt und Liebe.

Ich bin froh, ja, sogar stolz, das miterlebt zu haben und ein Teil dieser Geschichte zu sein.

Und jetzt, liebe Technogemeinde, ist es mehr denn je wieder an der Zeit, wieder ein Zeichen gegen Gewalt und Krieg zu setzen, ein Zeichen für Frieden und Freiheit, für Toleranz und gegenseitigen Respekt.

Diese Parade heute kann das starke Zeichen in die Welt und an alle Kriegstreiber senden, dass die Jugend von heute keinen Bock auf ihre Scheißkriege hat. Keinen Bock auf Gewalt und Einschüchterung, auf Intoleranz und Unterdrückung, auf Hass und Ausgrenzung.

Dimitri Hegemann (Foto: Privat)
Dimitri Hegemann beim Verfassen der Rede (Foto: Privat)

Diese Parade, ihr alle, die ihr hier heute versammelt seid, macht den Autokraten und homophoben Kriegstreibern Angst, den Hatern und kaputten Gewaltanbetern! Sie haben Angst vor euch und dem, wofür wir alle stehen und wofür wir hier heute demonstrieren:

Für die Vielfalt der Gesellschaft! Die Buntheit unserer Welt! Für Freizügigkeit, Toleranz, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung, Respekt für Minderheiten und alle sexuellen Orientierungen und Geschlechter.

Und wir tanzen und demonstrieren gegen die Autokraten und Diktatoren dieser Welt – genauso wie gegen die Hater im Netz und die Vertreter der rechtsradikalen Parteien wie der AfD, die alles hassen, wofür wir stehen.

Wir feiern und tanzen hier heute auf dieser Parade, um gemeinsam ein Signal in die Welt zu senden: für gesellschaftliche Vielfalt, für Freiheit und Selbstbestimmung und für Frieden.

Make Party, not war. Dancing is better than marching.

In diesem Sinne: Wir wollen Frieden! We want peace! Peace and Unity! Ich danke euch allen. Und jetzt: Rave the Planet!

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