Zwar wollte sich die Mehrheit der Bands der sogenannten Krautrock-Bewegung im Deutschland der Siebziger von der damals dominierenden Rockmusik absetzen, dennoch blieben Männer mit Gitarren der Bezugsrahmen. Nicht bei Can.
Holger Czukay (Bass), Jaki Liebezeit (Schlagzeug), Michael Karoli (Gitarre) und Irmin Schmidt stellten mit Jazz, Pop, Soundtracks und moderner Klassik einen ganz eigenen Bezugsrahmen her. Schmidt spielt dabei eine besondere Rolle. Während Czukay, Liebezeit und Karoli eher aus Bandzusammenhängen kamen, hatte Schmidt bei Elektronik-Vordenker Karlheinz Stockhausen Komposition studiert und war bereits als Komponist von Theater- und Filmmusik und Dirigent klassischer Orchester tätig, als sich die Band 1968 gründete.
Michael P. Austs Dokumentarfilm CAN AND ME, dessen Berliner Premiere im März 2023 Anlass für das Interview war, gibt mit Archivaufnahmen und einem ausführlichen Interview mit Schmidt Einblicke in die gesamte Geschichte der Band und seine Solokarriere.
Den GROOVE-Mitarbeiter:innen Wencke Riede und Alexis Waltz erzählte der mittlerweile 86-Jährige, der als einziges Can-Mitglied noch am Leben ist, bei Cappuccino und Hotellobbymusik über seine lebenslange Liebe zu Soundtracks, den befruchtenden Dialog von Rock und Jazz und seinen beständigen Wunsch, aus dem Rahmen zu fallen.
GROOVE: Ihr habt Can 1980 aufgelöst…
Irmin Schmidt: Das ist nicht ganz richtig. Nicht aufgelöst. Wir haben aufgehört, Konzerte zu machen.
Hast du es jemals bereut, dass die Zeit als „Rockband” auf Tour vorbei war?
Nein, ich habe eigentlich nichts bereut, was ich bisher getan habe. Nicht mal das, was schiefgegangen ist. Alles war völlig ok, das musste sein.
Hat sich deine Beziehung zur Musik durch die Auflösung verändert?
Die Beziehung zu den anderen Mitgliedern hat sich nicht wirklich verändert – das waren schließlich meine besten Freunde. Obwohl es Can in der Form nicht mehr gab, haben Michael Karoli, Jaki Liebezeit und ich weiterhin zusammen Musik gemacht. Die Zwei sind auch auf meinen Soloplatten vertreten.
„Das erste Jahr haben wir nur rumexperimentiert, mit viel Spaß an lauter Verrücktheiten.”
Warum habt ihr überhaupt aufgehört?
Das lag auch an der finanziellen Situation. Es kam nicht genug Geld rein, um die aufwendigen Touren zu finanzieren. Und durch das Aufhören habe ich auch endlich ein richtiges Familienleben führen können. Wir haben uns in Frankreich ein Haus gebaut.
Dort sind große Teile der Doku CAN AND ME entstanden. Wir wollen mit dir über die Anfangszeit von Can reden. Als ihr die Band 1968 gegründet habt, seid ihr aus unterschiedlichen musikalischen Zusammenhängen gekommen. Du hattest bei Neue-Musik-Ikone Karlheinz Stockhausen Komposition studiert und warst als Dirigent tätig, dein früherer Kommilitone Holger Czukay, aber auch Michael Karoli und Jaki Liebezeit waren in Jazz- und Beatbands aktiv. Wann hast du damals gemerkt: Ja, wir werden eine Band?
Das weiß ich nicht mehr. Das erste Jahr haben wir nur rumexperimentiert, mit viel Spaß an lauter Verrücktheiten. Mir war es überhaupt sehr wichtig, vier Künstler beisammen zu haben, die alle aus unterschiedlichen Musikfeldern kamen. Ich selbst bin mit klassischer Musik groß geworden, die anderen wiederum mit Jazz oder Rock. Wir waren also alle unterschiedlich spezialisiert und mussten uns nicht einem bestimmten Genre fügen. Ich hätte zum Beispiel ungerne mit Elementen aus dem Jazz gearbeitet, ohne dabei mit einem Musiker aus diesem Bereich zusammenzuarbeiten. Dafür brauchte es schon richtige Jazzkünstler.
Hattest du zu dieser Zeit eine konkrete Vorstellung von Can?
Ich hatte keine Vorstellung. Das war ja das Abenteuer daran. Mal sehen, was draus wird, das war die Devise.
Gab es Momente, in denen du dachtest: Wie kann das überhaupt zusammengehen?
Diese Frage hat sich wahrscheinlich jeder von uns mindestens einmal am Tag gestellt. Aber da war ein ungeheurer, sturer Wille. Jeder von uns hat gespürt, es kann was draus werden. Egal, wie schwierig es manchmal war, oder wie bescheuert das klang – jeder hat das Potenzial der anderen gespürt. Wir waren schließlich keine junge Boygroup, sondern alle über 30, mit gefestigten musikalischen Karrieren.
„Uns war es nur wichtig, im Rahmen unserer Band etwas Neues entstehen zu lassen.”
Was für eine Beziehung hattet ihr zu den Rockbands, die zu dieser Zeit entstanden? Die meisten Musiker:innen waren wesentlich jünger, sie kamen aus einer anderen Generation.
Wir hatten nie die Absicht, eine richtige Rockband zu gründen. Deshalb haben wir da gar nicht so genau hingeschaut. Uns war es nur wichtig, im Rahmen unserer Band etwas Neues entstehen zu lassen.
Im Film erzählst du über bestimmte Geräusche, die dich beschäftigt und inspiriert haben. Darunter zum Beispiel das Knirschen von Kieselsteinen oder die Stille. Wie sind diese Elemente in die Musik von Can eingeflossen?
Seit ich Musik mache, sind diese Geräusche immer wieder irgendwo anwesend und fließen ständig in die Werke mit ein. Unser Studio war ein ehemaliges Kino, dort gab es unten eine große Flügeltür nach draußen, sie war die meiste Zeit über geöffnet. Alle Geräusche, die von außen kamen, haben wir unverändert in die Musik fließen lassen. Manchmal hast du die spielenden Kinder auf der Straße oder die vorbeifahrenden Autos gehört. Und dann haben wir natürlich bewusst mit Umweltgeräuschen gearbeitet, die wir aufgenommen und zu Musik verarbeitet haben.
Soundtracks haben bei dir immer eine große Rolle gespielt. Wie kam der Kontakt zu den Regisseur:innen zustande?
Es gab junge deutsche Filmemacher Anfang der Siebziger, für die wir als Band recht interessant waren. Das war der eine Grund. Der andere Grund war, dass ich bereits vor Can viel am Theater gearbeitet habe. Ich habe für mehrere Inszenierungen die Musik komponiert und gespielt. Durch ein Schienenquietschen wurde ich schließlich in Sachen Theatermusik auch über die Grenzen von Aachen hinaus bekannt.
Wie?
Bei dem Theater, an dem ich arbeitete, liegt die Endstation einer Straßenbahn, und wenn dort ein Zug einfuhr, quietschte es fürchterlich. Im Theatersaal selbst hörte man das nicht, nur auf der Probebühne. Ich habe das aufgenommen und später in die Musik eingespielt, sodass die Leute sich wunderten, woher plötzlich dieses Schienenquietschen kam. Schon damals habe ich gerne mit ungewöhnlichen Geräuschen experimentiert.
„Dass wir nicht spielten, hat zu einem riesigen Prozess geführt.”
Und welcher war dein erster Soundtrack für einen Film?
Damals habe ich für über 40 Kulturfilme [Kurzdokus zu kulturellen Themen, Anm.d.Red.] die Musik produziert. Eine Kinovorstellung folgte damals einer festgelegten Dramaturgie. Erst kam der Kulturfilm, das war dann zum Beispiel irgendetwas über den Wasserturm in Bochum, dann kam die Wochenschau [ein Nachrichtenmagazin, d.Red.] und schließlich der Hauptfilm. Ich habe von diesen Kurzfilmen, die nur zehn bis 15 Minuten dauerten, an die 50 vertont. Das war zwar keine große Kunst, ich habe dabei aber handwerklich viel gelernt.
Trotz eures Erfolgs seid ihr kaum international getourt. Seid ihr als Can mal in den USA aufgetreten?
Es war vorgesehen. Dass wir nicht spielten, hat zu einem riesigen Prozess geführt. Eine ganze Tournee war geplant, die dann nicht stattfand, daraufhin haben wir einen Plattenvertrag gekündigt. Es gab zu dieser Zeit bestimmte Bedingungen, unter denen man eine Amerika-Tour machen musste: Reisen und Schlafen im Bus und jeden Tag ein Konzert in einer anderen Stadt. Das hat nicht zu unserem Tourleben gepasst. Wir haben immer in Hotels geschlafen und hatten nach drei Konzerten grundsätzlich einen Ruhetag. Das lag daran, dass wir abends mindestens zwei Stunden auf der Bühne standen – alles sehr anstrengend. Und wenn man auf der Bühne Musik erfindet, ist das eine zusätzliche Anspannung, die etwas mehr abverlangt.
Was haben die Menschen dort an euch gemocht?
Ich glaube, dass wir alle Vorschriften einer Band über Bord geworfen haben. Wir haben nicht ins Bild gepasst, das gefiel ihnen. Schließlich ist nichts langweiliger als der zehnte Auftritt irgendeiner amerikanischen Rockband. In Deutschland haben viele zuerst gedacht, wir seien eine hoffnungslose Band und hätten keine Ahnung von Musik. Das hat sich dann aber nach einigen Jahren gelegt.
Was würdest du jungen Musiker:innen heute empfehlen – was sollen sie tun, um mit ihrer Musik weiterzukommen?
Das kann ich nicht sagen. Ich hatte das Glück, dass ich mit dem, was ich gemacht habe, erfolgreich war. Da haben viele Komponenten reingespielt. Was würde ich also raten? Jeder, der Musik machen will, soll es um Gottes willen machen. Ein kreativer Beruf ist das Wunderbarste und Schönste, was es gibt. Natürlich ist auch ein gewisses Risiko dabei – Disziplin und ein großes Durchhaltevermögen sollte man haben.