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„Milestones” im MOMEM: Eingefangene Ekstase mit allerhand Zeitkolorit

Mit der zweiten Ausstellung vollzieht das Museum of Modern Electronic Music (MOMEM) eine Öffnung in alle Richtungen. In den Räumen unter der Frankfurter Hauptwache wurden dafür buchstäblich Wände eingerissen. Das verleiht den dunklen, von türkisfarbenen Neonlichtern gesäumten Flächen mit ihren sich aneinanderreihenden Säulen Club-Atmosphäre. Neben der architektonischen Öffnung durchbricht die Ausstellung Milestones – Favorite Club Tracks 1985–2020 aber vor allem inhaltliche Mauern.

Kam die im April 2022 eröffnete Auftaktausstellung Sven Väth – It’s simple to tell what saved us from hell hermetisch als Freundes-Lobhudelei daher, die wegen eines Frankfurt-zentristischen Blicks und wegen mangelnder (historischer) Verortung und Vermittlung weder dem DJ noch den Ansprüchen einer sich namentlich am New Yorker MoMA orientierenden Institution gerecht wurde, folgt nun eine gelungene Kehrtwende. Milestones verwandelt das Museum in einen sozialen, internationalen, partizipativen Ort und überzeugt dabei inhaltlich und konzeptionell.

So sieht es im Frankfuter MOMEM derzeit aus (Foto: Jens Balkenborg)

Wer aus dem urbanen Innenstadttrubel auf der Hauptwache ausbricht, taucht im MOMEM sofort ein. Aus den Lautsprechern der Ausstellung wummert der Carl-Craig-Remix von „Like A Child” der Junior Boys als einer der aktuellen Milestone-Tracks, die in Dauerschleife auf der Museumsanlage laufen. Rund 100 internationale DJs aus über 20 Ländern von sechs Kontinenten wurden vom MOMEM eingeladen, ihre 20 favorisierten, zwischen 1985 und 2020 erschienenen House-, Trance- und Techno-Tracks einzusenden. Aus den meistgenannten wurde eine Top 50 ermittelt.

Bisher beteiligten sich Musiker:innen wie Ata, Chris Liebing, Anfisa Letyago, Miss Kittin oder Carl Craig an den MOMEM-Charts. Ihre Gesichter bilden den Auftakt von Milestones. Auf beidseitig bedruckten Bannern hängen sie von der Decke. Dazu: kurze Infos zur Person und die zwanzig favorisierten Tracks in alphabetischer Reihenfolge. Zu manchen Tracks geben farbliche Markierungen weiterführende Kurzinfos wie „aus Frankfurt” oder „female Artist”. Letzteres sorgt für Sichtbarkeit in einem gerade in den Anfängen und bis heute immer noch männlich dominierten Umfeld.

DJs auf Postern (Foto: Jens Balkenborg)

Passiert man die Banner, gelangt man auf den musealen Dancefloor. Im großen, luftigen Innenraum sorgen Neonlichter in den Säulen für das passende Ambiente. Am Ende des Raumes zeigt eine großformatige Foto-Projektion die partizipierenden Musiker:innen über einem DJ-Pult im Einsatz. Verteilt über die Fläche des clubbigen Dunkels baumeln 50 Kopfhörer von der Decke, auf denen die 50 Top-Tracks zu hören sind. Große Kreise auf dem Boden verraten Titel und Entstehungsjahr.

Die Besucher:innen, darunter ein Fan-Paar der ersten Stunde, das den pubertierenden Nachwuchs im Gepäck hat, lassen sich auf die auditive Zeitreise ein. Mit Tracks wie „Go” von Moby, „Xtal” von Aphex Twin, „1982” von Miss Kittin & The Hacker, „Inspector Norse” von Todd Terje oder „Don’t You Want It (Club)” von Davina schwelgt man in Erinnerungen.

Auch Underworlds Klassiker „Born Slippy” ist vertreten (Foto: Jens Balkenborg)

Weiterführende Infos zu den Top 50 lassen sich auf zwei Display-Stationen recherchieren, auf denen die Besucher:innen, apropos Partizipation, auch ihre eigene Top 5 einreichen können. Platz 1 belegen aktuell Daft Punk mit „Around The World”.

Verstärkt wird die Atmosphäre durch die Fotos internationaler Clubfotograf:innen, darunter Arbeiten des Robert-Johnson-Hausfotografen Daniel Herrmann oder der freiberuflich in Burkina Faso arbeitenden Fotojournalistin Sophie Garcia. Die Schnappschüsse aus dem Nachtleben laufen auf Screens an den Wänden in Dauerschleife: tanzende, schwitzende Raver:innen, fotografisch eingefangene Ekstase mit allerhand Zeitkolorit. Wunderbar: ein Foto des irischen Fotografen Karl Magee, auf dem eine Raverin mit FFP2-Maske auf der Nase und Cola-Flasche in der Hand im Bühnennebel tanzt.

Hat man schon länger nicht mehr gesehen: Masken auf dem Dancefloor (Foto: Jens Balkenborg)

Ergänzend dazu sind Arbeiten von Sandra Mann zu sehen. Die renommierte Künstlerin und Fotografin war in den Neunzigern und Anfang der Zweitausender in Clubs unterwegs. Aus den dort aufgenommenen Fotos ist ihre Serie Nightlife entstanden, die in der Ausstellung, projiziert auf zwei durch Ventilatoren tänzelnde Stoffflächen, gezeigt wird.

Wer sich durch die vielen auditiven und visuellen Eindrücke in Richtung DJ-Pult bewegt, findet alsbald jenen Ausstellungsteil, der Instrumenten-Begeisterten und Technik-Freaks Freudenschweiß auf die Stirn zaubern wird: den „Maschinenraum”. Der Name ist Programm: 30 elektronische Musikinstrumente, ausgewählt aus dem 5000 Geräte umfassenden Archiv des kooperierenden Swiss Museum & Centre for Electronic Music Instruments (SMEM), warten dort, nett ausgeleuchtet in gelben Stahlregalen, auf neugierige Blicke. TR-707, TR-909, TR-808, TB-303, SH-101 – eine maschinelle Zeitreise mit Synthesizern und Drumcomputern durch die Geschichte der elektronischen Musik.

Hardware (Foto: Jens Balkenborg)

Auf einem Screen finden sich weiterführende Infos zu jedem ausgestellten Gerät: zu Geräteart, Hersteller und Baujahr, zu Soundeigenschaften und dazu, welche Musiker:innen damit gearbeitet haben. Einzig, dass die Signature-Sounds nicht selbst aus den Maschinen gekitzelt werden können, ist schade.

Insgesamt gelingt Museumsdirektor Alex Azary, der Milestones gemeinsam mit Dr. Torben Giese, dem Direktor des Stadtpalais in Stuttgart und Andreas Tomalla alias DJ Talla 2XLC kuratiert hat, eine vielschichtige Ausstellung zu einem virulenten Thema.

Der Blick geht zur DJ (Foto: Jens Balkenborg)

Die Idee der Bestenlisten treibt alljährlich spätestens zum Jahreswechsel die Musikbegeisterten ebenso um wie Musikmagazine. Befriedigend sind diese Listen selten, denn: Wer schreibt sie eigentlich? Und mit welchem subjektiven Blick und welchen Interessen? Wenn auch die Ausstellung im MOMEM nicht objektiv sein kann, weil eine Auswahl von 100 Musiker:innen im großen Gesamtfeld der elektronischen Musik nur einen Bruchteil ausmacht: Die Stimmen der vielen internationalen und großen DJs werden in jedem Fall in eine fundierte und differenzierte Top-Tracklist münden.

Mit Milestones schwimmt sich das MOMEM nach dem stotternden Debüt frei und erfüllt, was man von einer musealen Auseinandersetzung mit Clubkultur erwartet: Es eröffnet in adäquater Atmosphäre einen historischen Zugang zu den Musiken und Codes der Kultur, es vermittelt Wissen zu den Sounds, zu internationalen Künstler:innen der Szene und den so zentralen technischen Gerätschaften, ohne die Techno und House undenkbar wären. Das geschieht in einem Setting, in dem neben der Wissensvermittlung und Einordnung auch ein emotionaler Zugang zur Kultur funktioniert.

Die Sonderausstellung von Sandra Mann (Foto: Jens Balkenborg)

Selbst Menschen, die noch nie in einem Club waren, bekommen im MOMEM ein Gefühl davon, was den Reiz dieser Musik ausmacht. Eine, die in den großen und kleinen Clubs rund um den Globus für Exzess und Eskapismus steht, und eben dort, umgeben von tanzenden Menschen, am besten funktioniert. Dass sich die Ausstellung im Laufe der bisher nicht genau definierten Laufzeit durch neue Listen von weiteren eingeladenen DJs sowie wechselnde Mikro-Ausstellungen verändern wird, ist dem offenen Ansatz von Milestones nur zuträglich.

Ein Rahmenprogramm, bestehend aus Film-Screenings, Vorträgen und Workshops zur Soundproduktion, zum Auflegen und mehr ergänzt die Ausstellung. Einige dieser Events sollen außerdem in eine Clubnacht übergehen. Es ist ein schöner Gedanke, dass die Räume unter der Hauptwache dann von jenem Sujet gekapert werden, dem sie sich tagsüber ausführlich widmen. Und wenn die 50 Kopfhörer erst einmal hochgezogen wurden, lässt es sich auf dem schwarzen Boden zwischen den Säulen sicher ganz wunderbar tanzen.

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