Marcel Fengler ist eine der zentralen Figuren der Berliner Technoszene. Aufgewachsen im brandenburgischen Fürstenwalde und zunächst von Hip-Hop begeistert, zieht es ihn in den Neunzigern in die Berliner Clubs und bald auch hinters DJ-Pult. Als 2004 das Berghain eröffnet, gehört Fengler zu den ersten Residents. Bald darauf folgen erste Veröffentlichungen und 2011 das eigene Label. Mit ein wenig Verzögerung wurde kürzlich das zehnjährige Bestehen von Index Marcel Fengler mit einer Compilation gefeiert.
Seit 2011 sind auf Fenglers Label 14 Platten erschienen – etwa eine Veröffentlichung pro Jahr. Für die aktuelle Compilation 10 Years Index Marcel Fengler hat sich das Team hinter dem Label sogar gut zwei Jahre Zeit genommen. „Bei der Compilation war zunächst der Anspruch, das erste Mal den Produktionsprozess von Beginn an zu durchlaufen. Wir entwickeln das Artwork, gestalten die Vinylproduktion, suchen den Cutter aus und verknüpfen das Mastering damit”, erklärt er im Zoom-Call.
Mit seinem Label habe Fengler nie nur befreundeten Künstler:innen, sondern auch neuen Acts eine Plattform bieten wollen. Diesem Prinzip bleibt er auf der Compilation treu, auf der man ein breites Spektrum an Techno-Spielarten vorfindet. „Manche Künstler wie Etapp Kyle, Chontane oder Dasha Rush haben noch nie bei uns veröffentlicht. Andere, wie zum Beispiel Vril, sind schon länger dabei. Ein Auge blickt also zurück, das andere schaut nach vorn.”
Anders sieht es in seinem Plattenschrank aus. Mit diesen sechs für Fengler prägenden Tracks und Alben richtet er den Blick ganz und gar in die Vergangenheit, auf den Zeitraum zwischen 1983 und 2013.
Herbie Hancock – „Rockit” (Columbia, 1983)
Ich habe eine gewisse Vorliebe für Hip-Hop. Das fußt in einer Entwicklung, die in der DDR kurz vor der Wende von der Electric Beat Crew mit Olaf Kretschmann als MC losgetreten wurde. Die Electric Beat Crew war eine Art Hip-Hop-Band. Das war das erste Mal, dass Breakdance in der DDR wahrgenommen wurde und dass es eine Basecap-Kultur gab. Da war ich zwischen zehn und zwölf Jahre alt, das hat auf mich einen unheimlichen Eindruck gemacht, was die Jungs losgetreten haben. Aus der DDR-Zeit ist das in die frühen Wendejahre übergeschwappt, die Jungs hatten auch mal einen Auftritt in der ZDF-Hitparade.
Anfang der Neunziger bin ich beim Schauen der MTV-Awards auf „Rockit” gestoßen, weil das Video dort ausgezeichnet wurde. Das Horrorhaus-Szenario mit den tanzenden Robotern hat mich extrem geflasht. Es hatte was Skurriles, aber auch Futuristisches. Obwohl das Stück ein Instrumental ohne Rap und ohne das sonst oft übliche Spitting ist, hat es mich sehr eingenommen. Das hat mich nochmal ein Stück mehr in Richtung elektronische Musik geschubst.
„Rockit” war damals schon seit zehn Jahren draußen, trotzdem habe ich durch diese Nummer verstanden, was mit elektronischer Musik möglich ist. Für mich war das eine Rückverbindung zu meiner Hip-Hop-Vergangenheit, zugleich kam die Neugier auf mehr Musik abseits des Mainstreams.
Robert Hood – Minimal Nation (M-Plant, 1994)
Auf dieser Platte kommen mehrere Faktoren zusammen. Zum Beispiel die Tatsache, dass ich bis Mitte der Neunziger ein Faible für den acidlastigen Sound der Birmingham School à la Surgeon hatte. Obwohl man mit Basic Channel und Juan Atkins die Berlin-Detroit-Verbindung kannte, hat es für mich als DJ, was Detroit angeht, erst mit Minimal Nation richtig klick gemacht.
Ich war 1994 und 1995 auf der Loveparade in Berlin und bin auf einer Party gewesen, auf der Claude Young gespielt hat. Er hat live Delays erzeugt, indem er die gleiche Platte auf mehreren Plattenspielern verzögert abspielte. Man wusste gar nicht mehr, was eigentlich lief. Das war beeindruckend und hat meine Faszination für Turntablism genährt. Gleichzeitig war das mein Einstieg in Minimal Techno, in den Signature-Sound von Robert Hood.
Übrigens: Bei Housefrau auf VIVA wurde die Platte vorgestellt. Danach habe ich Minimal Nation hoch und runter gehört. Wir hatten Mitte der Neunziger eine Partyreihe in meiner Heimatstadt, wo die Platte oft lief. Das war für mich ein starker Einschnitt, was meine Aufnahmefähigkeit des Detroit-Sounds betrifft. Anfangs habe ich ihn mit dem Birmingham-Ding vermischt, später bekam der minimalistische Sound mehr Raum.
Auch wenn ich damals noch nicht mal davon geträumt habe, Musik zu machen, ist Minimal Nation Teil meiner DNA. Es spielen natürlich noch viel mehr Einflüsse eine Rolle, aber Robert Hood ist einfach eine Instanz für mich. Die Platte gehört mit allen Erinnerungen und Momenten, die ich mit ihr verbinde, in meine Sammlung. Sie hat mich als Raver geprägt und meine ersten Versuche, mich vor Publikum zu beweisen.
Patrick Pulsinger – Dogmatic Sequences EP (Disko B, 1994)
Diese Platte von Patrick Pulsinger ist ein ähnliches Phänomen. Durch sie bin ich zu Disko B gekommen, obwohl Robert Görl [ehemaliges DAF-Mitglied, gründete mit Peter Wacha das Label, d.Red.] schon vorher ein Thema für mich war. Die Dogmatic Sequences EP war die erste, die bei mir on repeat lief, und „Pinsleepe” war lange meine Lieblingsnummer. Sie lief bei Partys in meiner Heimatstadt rauf und runter. Außerdem fing ich damals an, ins E-Werk zu gehen. Deswegen verbinde ich mit der Platte meine Entwicklung in der Berliner Clubkultur.
Ich hatte mich vor Disko B noch nicht gezielt auf deutsche Labels eingelassen. Klar, es gab Frankfurt Beat und solche Sachen, ich war aber nie der Super-Trancer mit Marusha und Co. Disko B hatte für mich einen ganz anderen Coolness-Faktor. Das war das erste deutsche Label, mit dem ich mich näher befasst habe. Dabei war ich nie ein Collector, der alle Releases eines Label kauft. Es muss mich berühren, das Genre war immer egal. Bei M-Plant und Disko B habe ich aber stets genauer hingeschaut.
Die Pulsinger-Platte ist aus dem gleichen Jahr wie Minimal Nation, klingt aber doch sehr anders. Wie kommt’s?
Meine musikalische Entwicklung ist bis zum Robert-Hood-Moment anders verlaufen. Auf meinen ersten Partys lief viel Trance, aber mich haben doch die gröberen Sachen abgeholt. Das war im E-Werk genauso und auch bei meinen ersten Besuchen im Ostgut. Immer wenn es härter wurde und sich das in der Atmosphäre des Clubs ausgedrückt hat, hat mich das mitgenommen. Das ist auch heute noch so.
Ken Ishii – „Extra (Luke Slater Remix)”, auf: Ken Ishi – Extra (R&S, 1995)
Hier kommt ein futuristisches Element dazu, das mich vor allem im Video des Originals komplett einnimmt. Damals gab es immer die Diskussion, ob das Drum’n’Bass oder Experimental ist. Keine Ahnung, aber ich fand den Track interessant. Was mich wirklich fasziniert hat, war der visuelle Aspekt. Der stand für mich im Vordergrund und der Track hat sich da eingegliedert. Ich habe ihn wie einen Soundtrack zum Video wahrgenommen.
Das ist jetzt schon die zweite Platte, auf die du durch ein Musikvideo gestoßen bist.
Ich bin erst spät in Plattenläden gegangen. Ein Freund von mir hat sich Anfang der Neunziger im Delirium ein riesiges Platten-Portfolio zugelegt. Irgendwann hat er mir einen großen Teil davon verkauft. Davor waren aber TV und Radio die einzigen Möglichkeiten, sich zu informieren.
Wie hast du die Musik auf dieser Platte wahrgenommen?
Als ich das erste Mal die Remixe mit der Nadel abgetastet habe, waren die von Dave Angel und Luke Slater die, ich sag mal, spielbarsten. Den Dave-Angel-Remix habe ich auch oft gespielt. Luke Slater steht aber in der Liste, weil mich mit ihm als Produzent viel verbindet. Über all die Jahre hat er es geschafft, eine zeitlose Coolness in seinen Tracks zu etablieren. Egal, ob es minimale oder brachiale Sounds sind, seine Tracks treiben. Ich kenne fast niemanden, der das so genial zusammenbringt wie er.
Stellte man den alten Remix neben eine aktuelle Luke-Slater-Produktion, würde man nicht denken, dass 25 Jahre dazwischenliegen. Den Remix habe ich übrigens letztens gespielt und kann bestätigen, dass er auch auf 140 BPM gut klingt und super funktioniert.
Gang Starr – Moment Of Truth (Virgin, 1998)
Die Platte habe ich damals auf Dauerschleife gehört, das Ding ist zeitlos. Künstler wie A Tribe Called Quest und Pete Rock waren zwar auch Helden meiner Hip-Hop-Zeit, aber niemand hat mich so geflasht wie DJ Premier mit Guru. Die Stimmlage, der Flow, die Texte – das war mega und hatte einen Signature-Sound! Als Guru 2010 gestorben ist, musste ich schlucken wie bei keinem anderen Hip-Hop-Künstler.
Ich weiß nicht, ob meine Hip-Hop-Liebe ohne das Album bis zum Ende der Neunziger Bestand gehabt hätte. Der Einfluss durch Gang Starr war stilprägend – ein wichtiger Teil meiner musikalischen Prägung, auch wenn die LP mit meiner elektronischen Seite nicht so viel zu tun hat. Das Gespür für Funk und Soundästhetik überlagert sich aber, obwohl Hip Hop und Techno zwei verschiedene Genres sind.
Atoms For Peace – Amok (XL Recordings, 2013)
Als 2000 Kid A von Radiohead erschien und durch Nigel Godrich die ersten elektronischen Einflüsse dazukamen, hat mich das abgeholt. Was rockiger, handgemachter und punkiger war, hat mich dagegen weniger überzeugt – im Gegensatz zu vielen Fans, die Kid A verfluchten.
Amok von Atoms for Peace [ein Trio, bestehend aus Thom Yorke von Radiohead, Flea von den Red Hot Chilli Peppers und dem erwähnten Nigel Godrich] besitzt einen wahnsinnigen Detailreichtum. Durch minimale Soundverschiebungen entsteht eine große Tiefe. Auch wenn ich mir das Album schon 20-mal angehört habe, finde ich immer wieder Momente, die mich begeistern, die ich vorher nicht so wahrgenommen habe. Der Sound hat trotz seines Minimalismus eine extrem klare und schöne musikalische Sprache. Das hat auch was von Effizienz: Wie bringt man mit Effekten fünf Sounds dazu, geil zu klingen?
Der Minimalismus von Atoms For Peace besitzt gleichzeitig auch eine Komplexität, bei der man das Gefühl bekommt, dass ganz andere Strukturen am Werk sind. Trotz allem hat man nie ein Fremdkörpergefühl, obwohl manche Patterns völlig arrhythmisch drinhängen. So entsteht ein geiles großes Ganzes auf sehr engem Raum. Und: Weil Amok rein elektronisch produziert ist, kommt hier zum Tragen, was bei Radiohead-Produktionen nur bruchstückhaft vorhanden war. Das kommt als Essenz in totaler Schönheit und Zerbrechlichkeit durch.
Manchmal sitze ich im Flieger, gucke auf eine Wolkendecke und höre das Album. Das macht was mit mir. Es gibt auch andere Situationen, in denen ich das Album höre. Zum Beispiel, wenn ich allein bin und mich mit mir auseinandersetze. Dann höre ich genau hin und nehme Ideen mit, aus denen in mir eine emotionale Aufgeräumtheit entsteht.
Übrigens hatten Atoms For Peace in dieser Zeit auch einen Auftritt im Berghain. Ich kannte alles von der Platte und es war aufregend, sie live zu sehen. Trotzdem finde ich es schöner, das Album alleine auf mich wirken zu lassen – darin liegt für mich die Magie von Amok.