Deep Listening, tiefes, intensives Hören ist so etwas wie das philosophisch-ästhetische Kernkonzept vieler elektroakustischer Musik, ob sie sich nun Field Recordings, Klanginstallationen, akustischer Instrumente oder Samples bedient. So ist A coincidence is perfect, intimate attunement (Second Editions, 25. November) Kollaboration von Marja Ahti & Judith Hamann ein fast schon archetypisches Album des Deep Listening, das in der Gesamtheit der gesammelten Klänge, die nie vordergründig oder aufdringlich werden, eine Geschichte erzählt, die sich auf der Ebene der Einzelevents der Klänge komplex spiegelt und tiefes Hören, intensives und aktives Zuhören belohnt, aber nicht erfordert. Die zwei episch erzählenden Langformate des Albums erlauben ein Begreifen als leisen und doch komplexen Ambient mit dem selben Recht.
Der Kanadier Jonathan Scherk verfolgt eine modernistische Collage-Ästhetik, in der jedes exakt zweiminütige Stück seines Solodebüts Toon! (Faitiche, 4. November) eine maximale Anzahl elektronischer Daseinszustände durchläuft. Also eine Art hibbeliges und digitales Gegenstück zu Ahtis und Hamanns behutsamer akustischer Langzeitbetrachtung. Die Stücke sind erwartungsgemäß komplex und gerne disruptiv, bleiben aber durchaus im Rahmen von avanciertem Ambient. Also strukturell radikale Zuhörmusik, die das extreme aufmerksame Zuhören aber gar nicht einfordert.
Stream:Viel zu hören am Rande der Aufmerksamkeitsschwelle gibt es auch in der unerwarteten, aber höchst erfreulichen Wiederbelebung der slowakischen Proto Sites. Bislang eher für Collage-Elektronik und Glitch-Techno auf Kassette bekannt, wagt sich das Label nun auf Vinyl als Kombination von Field Recordings und Stimmexperimenten. Dass dies möglich wurde, ja, möglich werden musste, ist wohl der japanischen Sound-Art-Komponistin Ami Yamasaki zu verdanken, deren 20-minütiges, tatsächlich tief in den Wald spazierendes Stück mit den Soundwalks zweier jüngerer slowakischer Produzenten, Fero Király und DJ GÄP, kombiniert das wirklich tolle Erlebnisalbum Less Is Sound (Proto Sites, im September erschienen) ergibt. Ökologische Sound Art und experimentelle Mikrofonierung tief im Unterholz.
Im nun nicht mehr zu erfindenden Genre des elektroakustischen Lo-Fi-Deep-Listening-Improv ist die portugiesische, in Schweden lebende Susana Santos Silva die Pionierin an der Trompete, wobei der eigentliche Klang des Instruments auf All The Birds And A Telephone Ringing (Thanatosis Produktion, 25. November) nur eine untergeordnete Rolle spielt. Stattdessen knurpselndes Knuspern, knipselndes Knüllen, metastabile Mikrofonierung und semi-arrhythmisches, papiernes Klopfen mit metalldumpfem Dengeln in einem hochgradig explorativen Soundscape. Ein ausgreifender Klangtrip als Beinahe-Musik.
Wie nun das feine, tiefe Hören am Rande der Musik zurückübersetzen in Pop? Der Italiener Federico Madeddu Giuntoli hat da einige konkrete Ideen. Wie freie experimentelle Musik via Folk und Jazz zu einer ganz und gar unbedrohlichen, leisen und zarten Klangstudie mit zahllosen zu entdeckenden Feinheiten wird, eben zu sanfter Popmusik, zeigt sein spätes Debüt unter Eigennamen ganz deutlich – aber nur für diejenigen, die sich auf Sparsamkeit, Leere und Flüchtigkeit einlassen wollen. Es ist definitiv kein Zufall, dass The Text and the Form (FLAU, 25. November) auf einem japanischen Label erscheint, hat das Album doch so viel gelernt vom Japan-Improv und J-Folk der Neunziger und frühen Nullerjahre – vor allem die Angst abzulegen vor Lücken und losen Enden, diese geradezu zu umarmen und zu etwas Eigenem zu machen, das untrennbar zur Musik gehört.